"Ich habe diesen Krieg im Fernsehen gesehen"

Nicol Ljubic im Gespräch mit Joachim Scholl |
Der Journalist Nicol Ljubic reflektiert in seinem Roman "Meeresstille" den Krieg in Jugoslawien, der vor 20 Jahren seinen Anfang nahm. Zwar hat der deutsche Autor kroatische Wurzeln, doch den Krieg selbst habe er nur im Fernsehen gesehen. "Dafür habe ich mich letztendlich ein bisschen geschämt", sagt Ljubic.
Joachim Scholl: Es begann im Mai 1990, als die jugoslawischen Fußballmannschaften Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad gegeneinander spielen sollten. Das Match fand nicht statt, weil Nationalisten wüste Schlägereien anzettelten. Heute spricht man davon, dass an diesem Tag Jugoslawien beerdigt wurde und ein Krieg begann, dem Hunderttausende schließlich zum Opfer fielen. Nicol Ljubic ist Jahrgang 1971, in Zagreb geboren, in mehreren europäischen Ländern, schließlich in Deutschland aufgewachsen. Hier hat er Politikwissenschaft studiert und ist inzwischen ein erfolgreicher Journalist und Autor. Jetzt gibt es einen Roman von ihm, "Meeresstille" heißt er, eine Geschichte, die den Konflikt, den furchtbaren Krieg auf dem Balkan jetzt, 20 Jahre danach, reflektiert. Nicol Ljubic ist nun bei uns zu Gast, herzlich willkommen, guten Tag!

Nicol Ljubic: Hallo, guten Tag!

Scholl: Herr Ljubic, Sie sind ein deutscher Journalist, der auch eher deutsche Themen im Blick hat, zum Beispiel haben Sie ein Buch über die SPD geschrieben. Was hat Sie jetzt dazu gebracht, einen Roman zu verfassen über das Trauma des Balkankriegs, den Sie als junger Mann von Anfang 20 damals ja nur aus der Ferne mitbekommen haben?

Ljubic: Es war so, dass ich vor diesem Buch ein Buch geschrieben habe über meinen Vater, der als junger Mann aus Jugoslawien geflohen ist. Und das war für mich das erste Mal, dass ich mich mit meiner Familienbiografie beschäftigt hatte. Ich hatte wenig Kontakte zu meiner Familie in Kroatien davor und dieses Buch war so der Anlass, zu merken, da sind auch Wurzeln, kroatische Wurzeln von mir, die sind irgendwo in mir, auch in meinem Bewusstsein. Und dann habe ich angefangen, mich für diese Region zu interessieren.

Und ganz konkret war das eine ganz kleine Aufmerksamkeit: In Trogir, dort, wo wir immer Urlaub machen – meine Eltern haben da eine kleine Wohnung –, hängt vor der Stadt ein großes Plakat, auf dem der Kriegsverbrecher Ante Gotovina abgebildet ist, und da steht oben drüber "Unser Held". Und dieses Plakat hat mich nicht mehr in Ruhe gelassen, weil ich mich immer gefragt habe, wie kann es sein, dass ein und dieselbe Figur für die einen ein Held ist und für die anderen ein Kriegsverbrecher?

Und da fing diese ganze Thematik an, zu arbeiten, und ich merkte, es gibt in Europa eine junge Generation, die Kriegserfahrung gemacht hat. So kam eins zum anderen und dann habe ich gemerkt, ich habe diesen Krieg im Fernsehen gesehen und dafür habe ich mich letztendlich ein bisschen geschämt und hatte das Gefühl, das ist ein Thema, das mich beschäftigt.

Scholl: "Meeresstille", Ihr Roman, erzählt von einem jungen Historiker, der ja wie Sie in Kroatien geboren wurde, in Deutschland aufwuchs und eben ja auch gar kein großes Interesse für seine Herkunft und zunächst auch eben nicht für diesen blutigen Bruderkrieg aufbrachte. Dann verliebt er sich heiß und leidenschaftlich in eine junge Serbin in Berlin, deren Vater wiederum vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt ist. Stichwort Kriegsverbrecher, Sie haben jetzt schon erzählt von diesem Plakat, "unser Held", in Ihrem Roman reist Ihr Held nach Den Haag, um sich den Prozess gegen den Vater seiner Geliebten anzusehen. Waren Sie auch in Den Haag?

Ljubic: Ich war auch in Den Haag, ich war zweimal dort, einmal eine Woche und dann noch mal für zwei Tage, weil ich das Gefühl hatte, ich muss das mal sehen. Und das war eine unwirkliche Situation für mich, weil es eine große Panzerglasscheibe gibt, hinter der dieser Prozess stattfindet, und man sitzt in so einem Zuschauerraum und schaut sich das an. Wenn man den Ton abstellt, den Kopfhörer abnimmt und das tonlos sieht, wirkte das wie so ein Schauspiel hinter Glas. Das war eine ganz unwirkliche Situation für mich.

Scholl: In Ihrem Roman sagt die Heldin, also die junge Serbin, dieses Tribunal ist voreingenommen, es geht da nicht um Gerechtigkeit. Da ist mit einem Satz ausgedrückt, was vermutlich die Mehrzahl der Serben denkt. Wir als Außenstehende empfinden den Gerichtshof ja durchaus als Institution der Gerechtigkeit, auch Instanz dafür, dass die Verbrechen eben nicht einfach so durchgehen und man die Täter wirklich zur Verantwortung zieht. wie geht es Ihnen damit?

Ljubic: Ich merke, dass dieses Tribunal eine sehr wichtige Funktion hatte, aber für mich auch eher eine symbolische Funktion. Einfach die Funktion, dass Strafen nicht ungesühnt bleiben, sondern dass es eine Instanz gibt, die versucht, die Täter zu verurteilen. Ich merke, wenn ich in der Region unterwegs bin, es ist nicht nur bei den Serben, die Serben sagen, dieses Tribunal ist voreingenommen, die Mehrzahl der Leute, die da angeklagt sind, sind Serben und weniger Muslime.

Aber auch bei den Muslimen ist dieses Tribunal überhaupt nicht wohl gesonnen. Es gab mal ein bekanntes Magazin, das machte auf ganz schwarz und es stand "Haag", also wie Den Haag, und das H war ein Hakenkreuz. Und das war so ein bisschen die Stimmung, das war im September letzten Jahres, als ich dort war, weil Muslime sich oft gedemütigt fühlen durch das, was sie in Den Haag sehen. Da sind dann Täter, da sind die Anwälte der Täter, die die Zeugen ganz schön rannehmen und die Glaubwürdigkeit infrage stellen und das sind Zeugen, die diesen Krieg oftmals erlebt haben und die vor Gericht noch mal gedemütigt werden. Dann gibt es Strafen, die dann zum Beispiel bei der Plavcic erlassen wurden nach zwei Drittel der Haftzeit. Das sind all Dinge, die dieses Gericht in der Region wirklich keinen guten Ruf hinterlassen.

Scholl: Sie haben für die Zeitschrift "Geo" im vergangenen Herbst eine Reportage über Bosnien und den immer noch flüchtigen Kriegsverbrecher Ratko Mladic recherchiert, den Schlächter von Srebrenica, gewissermaßen auf der Suche nach ihm. Sie zitieren darin eine Umfrage, Herr Ljubic, dass jeder zweite Serbe entschieden dagegen ist, ihn auszuliefern. Gedacht den Fall, man würde seiner mal habhaft werden, gäbe es da einen Aufstand?

Ljubic: Das habe ich mich auch gefragt und ich glaube, ich habe auch den zuständigen Menschen in Serbien, der quasi für die Zusammenarbeit mit Den Haag zuständig ist, gefragt. Er sagt, es wird Demonstrationen geben, er sagt, es wird ein paar zerbrochene Scheiben geben, aber das war es dann auch. Also, sie haben quasi Milosevic zu einem Zeitpunkt ausgeliefert, der politisch viel heikler war als Mladic jetzt. Und ich habe gemerkt, dass es viele vor allen Dingen junge Menschen in Serbien gibt, die so ein bisschen westorientierter sind, offener sind. Für die ist dieser Mann eine Bürde, die wünschen sich, dass er sich am besten selbst stellt, sich umbringt oder ausgeliefert wird, um endlich auch Teil Europas zu werden.

Scholl: Nicol Ljubic ist hier bei uns zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Er hat über die Schrecken und Nachwirkungen des Balkankriegs Reportagen verfasst und einen Roman geschrieben. Stichwort Jugend, Herr Ljubic: Jetzt ist gerade des Massakers in Srebrenica vor 15 Jahren wieder gedacht worden; in Ihrem Roman sagt eine Figur: Serbien ist wahrscheinlich das einzige Land in Europa, das keine Katharsis erlebt hat. Seit 20 Jahren lebt es mit dem Schuldkomplex von der Welt isoliert und Sie müssen sich mal vorstellen, was das für die jungen Menschen in Serbien bedeutet, die noch heute dafür büßen müssen. Sie haben es gerade schon angesprochen, Herr Ljubic: Haben die jungen Leute das Gefühl, dass sie büßen für diese Taten?

Ljubic: Die, mit denen ich gesprochen habe, die natürlich auch diese Westorientierung haben, die haben das definitiv, das Gefühl. Vor allen Dingen die Angliederung an die EU hängt ja stark von der Auslieferung Mladics ab, das ist also das Geschäft, das die EU mit Serbien gemacht hat, und die wollen ihn wirklich loswerden, weil sie sagen ... Gut, ab diesem Jahr haben sie zum ersten Mal Reisefreiheit auch, in die EU, auch die Serben. Aber bis dahin war das so, dass sie wirklich die einzigen Menschen in Europa waren, die nicht frei reisen konnten nach Westeuropa. Das war ein Riesenproblem für die, ein Visum zu bekommen, das ist nicht so einfach gewesen. Und das ist letztendlich auch eine Folge des Krieges und eine Folge dessen, dass wir alle glauben, die Serben seien schuld an allem, was passiert ist.

Scholl: Entsteht da eigentlich auch Druck auf die ältere Generation durch die Jungen, die sagt, jetzt bringt es sozusagen in Ordnung?

Ljubic: Das war für mich eine ganz entscheidende Frage, die Sie stellen. Ich habe immer an die 68er bei uns gedacht und ich habe gedacht, wann ist es soweit, dass die jungen Menschen die älteren fragen, was habt ihr eigentlich gemacht im Krieg, im Jugoslawienkrieg, auch in Serbien. Und da habe ich das Gefühl, dass es so weit noch nicht war. Also, alle jungen Menschen, die ich gefragt habe, ob sie sich auch mit ihren Eltern mal auseinandergesetzt haben, haben gesagt, dass sie das noch nicht gemacht hätten, sondern dass das in den Familien oft ein Thema ist, über das nicht geredet wird. Also, ich glaube, dafür braucht es wahrscheinlich noch ein paar Jahre.

Scholl: Für uns ist es ja immer so unvorstellbar, die Verhältnisse in diesem Bruderkrieg uns zu vergegenwärtigen: also dieser plötzlich aufschäumende Nationalismus, dass der sich so in so furchtbaren Grausamkeiten entladen hat, dass also Menschen, die friedlich nebeneinander lebten seit Jahrzehnten, sich plötzlich die Kehlen buchstäblich durchschnitten oder die Nachbarin vergewaltigten. Sie waren jetzt öfter da, Herr Ljubic. Spürt man eigentlich ja im Alltag, wenn man so durch das Land reist, diese Spannung, wenn man mit diesen Bildern im Kopf, das ist hier passiert vor 20 Jahren oder vor nicht mal 20 Jahren, und jetzt ist es eigentlich ja ... gibt es wieder eine Normalität.

Ljubic: Es gibt auf einer offensichtlichen Weise eine Normalität, vor allen Dingen wenn man in so einer Stadt wie Sarajewo ist, da hat man das Gefühl, man ist in einer westlichen Stadt, in der einfach Leben herrscht, in der die Menschen in Cafés sitzen. Ich habe von einem erfahren, er sagte, es gibt bei uns zwei Leben: Es gibt das eine Leben am Tag, das wir führen, es gibt das eine Leben in der Nacht, das wir führen, wenn wir alleine sind, und dann kommt alles wieder hoch. Und man merkt schon, dass es große Spannungen gibt zwischen Serben und Muslimen in Bosnien, man merkt das in Srebrenica vor allen Dingen, dort gibt es am 11. Juli zum Beispiel den Erinnerungstag der Muslime, am 12. Juli haben die Serben ihren Erinnerungstag, da ziehen sie durch die gleiche Stadt und schwenken Mladic- und Karadzic-T-Shirts- und Fahnen und sind – nicht alle Serben, aber es sind so Dutzend bis 200.

Und man merkt, dass es immer noch sehr unausgegoren ist, was diese Schuldfrage angeht. Es wird immer aufgerechnet. Also, dann sagen die Serben, aber unsere Opfer werden immer vergessen, alle denken immer nur an die muslimischen Opfer ... Es ist so ein Gegenrechnen.

Und dazu ist Bosnien rein strukturell ein Land, das so aufgebaut ist, dass jede der Ethnien ein Veto hat, also es ist quasi so, dass die Serben alles verhindern können, wenn sie ein Veto einlegen. Ich finde politisch ein sehr instabiles Land, das auch wenig Zukunft hat, wenn diese Struktur so bleibt, und man merkt einfach, man kommt durch die Republika Srpska und da kann man in Cafés oder Restaurants sitzen, wo große Mladic-Fotos oder –Plakate sind. Und das nicht unweit von Orten, wo ethnische Säuberungen geschehen sind, wo Muslime gelebt haben. Also, man merkt das schon.

Scholl: Wie kommen denn die Völker und diese Ethnien überhaupt aus diesem Dilemma heraus, dass man also nicht mehr beständig gegeneinander aufrechnet die Schuld, gleichzeitig sind die Grausamkeiten geschehen ... Also, man kann ja hier wahrscheinlich auch schlecht sprechen, dass es ja noch ein, zwei Generationen dauert, dann ist es vergessen, vergessen wird es nie sein. Was meinen Sie?

Ljubic: Ich glaube, es müsste einen staatlichen Ansatz dafür geben, einen nationalen Ansatz zu so einer Versöhnung. Und das sehe ich nicht. Also, es gibt eigentlich keine staatliche Institution so richtig, die das als Thema hat.

Scholl: Aber der kroatische Präsident Josipovic und Serbiens Staatschef Tadic haben ja doch jetzt in diesem Frühjahr öffentlich die Hand gereicht zur Versöhnung. Wirkt dieser Schritt dann gar nicht oder ist das reine symbolische Politik?

Ljubic: Das ist natürlich glaube ich gar nicht unwichtige symbolische Politik, aber wenn das so ist, wenn man in Visegrad ist zum Beispiel – und in Visegrad haben wirklich schlimme Verbrechen stattgefunden –, dort gibt es die alte Brücke von Visegrad, die auch Ivo Andric in seinem Roman beschrieben hat, ...

Scholl: ... über die Drina ...

Ljubic: ... genau, über die Drina. Und dort wurden ganz viele Menschen ermordet, denen wurden die Kehlen aufgeschnitten und sie in die Drina geworfen. Wenn man an diesem Ort ist, es gibt nichts, es gibt keine Gedenktafel, es gibt keine Erinnerung, es gibt niemanden, der irgendwie diesen Ort mit diesen Verbrechen in Verbindung bringt. Und das ist das, auch in der Schule, es ist als Schulthema ausgeklammert in den Schulbüchern. Der Zugang ist noch nicht da. Der Zugang ist das, wir haben hier ein gemeinsames Problem, wir haben eine Vergangenheit, wir müssen irgendwie zusammenleben und wir müssen das auch versuchen, über eine staatliche Institution einfach dieses Bewusstsein zu fördern, dass man auch irgendwie miteinander auskommen muss.

Scholl: Der Journalist und Autor Nicol Ljubic. Er hat auf dem Balkan die Folgen des Krieges recherchiert und jetzt auch den Roman "Meeresstille" veröffentlich zu diesem Thema. Das Buch ist im Verlag Hoffmann und Campe erschienen, hat 191 Seiten, kostet 17 Euro. Herr Ljubic, herzlichen Dank für Ihren Besuch!

Ljubic: Gerne, danke!