Psychotherapeut Martin Miller
Seine Mutter plädierte in ihren Büchern für eine gewaltfreie Erziehung. Er selbst erlebte aber das genaue Gegenteil, erzählt Psychotherapeut Martin Miller. (Symbolbild) © imago / photothek / Ute Grabowsky
„Ich habe in einem luftleeren Raum gelebt"
33:14 Minuten
Einsamkeit, Schläge und Vernachlässigung prägten seine Kindheit, berichtet der Therapeut Martin Miller. Seine Mutter war die berühmte Psychologin Alice Miller, die sich in ihren Büchern für das genaue Gegenteil davon einsetzte: Respekt vor dem Kind.
Die Autorin und Psychologin Alice Miller wurde durch ihr Buch „Das Drama des begabten Kindes“ international berühmt. Sie kämpfte für das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung.
Martin Miller ist ihr Sohn. Der Psychotherapeut schwieg viele Jahre über die Beziehung zu seiner Mutter: „Man schont seine Eltern. Ich habe mich eigentlich nie dagegen gewehrt oder die Geschichte erzählt, wie sie wirklich ist“, sagt der Schweizer. Nach außen sei die Mutter eine Kämpferin für Kinderrechte gewesen, ihn aber, den eigenen Sohn, habe sie vernachlässigt.
Wenn Eltern ihre Kinder traumatisieren
In einem Buch, und jetzt auch in einem Film, arbeitet Miller die Mutter-Sohn-Beziehung auf. Kritiker halten ihm entgegen, er wolle die anerkannte Kindheitsforscherin "vom Thron stoßen".
Das Kernanliegen seiner Mutter war - so sieht es auch Martin Miller - dass Kinder von ihren Eltern so behandelt werden, dass sie „ihr wahres Selbst, ihre anlagebedingten Fähigkeiten entwickeln“ können.
Vielen Eltern, so der Psychotherapeut, sei nicht klar, dass sie durch ihr Verhalten die eigenen Kinder verletzen, sogar traumatisieren.
Bei seiner Arbeit, in der die Traumatherapie im Mittelpunkt steht, versteht sich Miller daher auch als „Anwalt der Kinder“. Das habe auch viel mit dem Verhalten seiner eigenen Mutter zu tun, sagt er: „Ihre Tipps und ihre Gedanken galten für alle Menschen auf dieser Welt, nur für mich nicht. Sie war zu Tode beleidigt, wenn ich ihre Gedanken anwendete.“
"Mein Vater war brutal gewalttätig"
Millers Kindheitserinnerungen sind nur schwer zu ertragen. Den Vater schildert er als schlimmen Menschen.
„Mein Vater war brutal gewalttätig, in psychischer und physischer Art. Ich habe nie verstanden, warum er ohne Grund und ohne einen konkreten Anlass seinen Sadismus, seine Wut und seinen Antisemitismus an mir ausgelassen hat.“
Die Mutter, 1923 in Polen geboren, wuchs in einer orthodoxen jüdischen Familie auf. Mit falschen Papieren überlebte sie die NS-Zeit in Warschau. Martin Miller sprach daher zunächst nur Jiddisch, Polnisch hatte er nicht gelernt.
Die Eltern, so erinnert sich Miller, „haben mich ganz demonstrativ ausgeschlossen, indem sie immer vor mir Polnisch gesprochen haben“. Später habe er dann zwei Jahre in einem Heim leben müssen.
„Ich habe in einem luftleeren Raum gelebt und wurde Bettnässer. Und meine Mutter hat mir gesagt: Du bist krank, du musst in ein Heim. Sie haben mich nie besucht. Wenn ich zurückdenke, dann schaudert es mich.“
Während seiner Ausbildung begann Miller damit, die eigene Kindheit aufzuarbeiten, nach den Gründen für das Verhalten seiner Eltern zu suchen.
Über die Mutter sagt Martin Miller heute: „Sie ist ein Opfer der Kriegsgeschichte, die sie da erlebt. Sie ist durch ihre Überlebensgeschichte traumatisiert gewesen, hat das eigentlich nie aufgearbeitet. Sie musste ihr Judentum ablegen und eine polnische Identität annehmen. Solche Opfer verlieren sehr oft den moralischen Kompass. Sie realisieren nicht, wie sie schaden.“
"Ich wäre in der Klapsmühle gelandet"
Über den Vater, der erst mit den Nazis, später auch mit den Kommunisten zusammengearbeitet habe, kann der Sohn nur wenig sagen. Doch Martin Miller erinnert sich noch an ein Gespräch mit ihm, der Vater sei da schon sehr alt gewesen. Auf die Frage, warum er geschlagen habe, antwortete dieser: „Dein Verhalten hat meine Hand geführt. Wenn du wüsstest, wie du mir weh getan hast, dass ich das machen musste.“
Martin Miller ist froh, die eigene Geschichte aufgearbeitet zu haben. Bei den Dreharbeiten zum Film über seine Eltern sei das eine große Hilfe gewesen. „In mir drin ist ein Film mit Kindheitserinnerungen abgelaufen. Hätte ich nicht vorher schon ein gewisses Wissen gehabt, ich wäre in der Klapsmühle gelandet, hundertprozentig.“
Seine Erfahrungen, davon ist Martin Miller überzeugt, sind ihm heute als Therapeut sehr nützlich. „Im Prinzip habe ich ein unwahrscheinliches Gefühl entwickelt, Menschen zu erfassen, die ein Trauma erlebt haben. Ich denke, ich habe durch meine eigene Selbsterfahrung ein Gespür und ein Interesse entwickelt, diese Traumen auch wirklich aufzuarbeiten.“