"Ich habe Europa nie so stark empfunden wie jetzt"
Der Filmemacher Hannes Stöhr kann keine europäische Krise erkennen. Er finde es im Gegenteil erstaunlich, wie gut Europa zusammenarbeite, sagt er, trotz aller Meinungsverschiedenheiten. Seine eigenen Erfahrungen brächten ihn dazu, an Europa zu glauben.
Liane von Billerbeck: Europa ist ins Gerede gekommen – durch die Krise und einem Manifest, verfasst von zwei französischen Philosophen und zwei deutschen Schriftstellern, Hans Christoph Buch und Peter Schneider. Die Autoren, in den 1940er-Jahren geboren, haben ein glühendes Plädoyer für Europa verfasst und darin an die Versammlung von Schriftstellern aus Ost und West, Nord und Süd im Mai 1988 in Berlin erinnert, wo über die historischen und kulturellen Traditionen diskutiert wurde, auf die sich eine Identität Europas gründen lässt.
Uns hier hat nun interessiert, wie wichtig Europa für jüngere Künstler, Autoren und Film- und Theatermacher ist. In unserer Europareihe haben wir deshalb heute den Filmregisseur Hannes Stöhr zu Gast, dessen Film "One Day in Europe" Europäer während eines fiktiven Champions League Finales in anderen europäischen Staaten Fremdheit wie Nähe erleben lässt. Hannes Stöhr ist fasziniert von einer Idee, Vereinigte Staaten von Europa zu gründen. Hannes Stöhr, herzlich willkommen!
Hannes Stöhr: Herzlich willkommen, Guten Tag!
von Billerbeck: Sie sind ja nun Filmemacher und haben nicht nur Film, sondern auch Europarecht studiert. Was haben Sie denn für eine ganz persönliche europäische Biografie?
Stöhr: Meine Vorfahren väterlicherseits sind Badener, mütterlicherseits sind es Niedersachsen, es gibt wohl noch ein paar Holländer irgendwo in der Cousinage, aber meine europäische Biografie, die ist eher erworben durch Erfahrungen. Ich bin jetzt nicht der typische, meine Mutter kommt aus der Türkei oder mein Vater kommt aus Spanien, und deshalb bin ich für Europa. Meine europäischen Erfahrungen bringen mich dazu, an Europa zu glauben.
von Billerbeck: Das heißt, Sie haben anderswo studiert, haben die Sprachen erlernt, und sind deshalb schon ein personifizierter Europäer?
Stöhr: Ach, das fing eigentlich früh an: In der Schule, da hatten wir in unserer Fußballmannschaft – ich habe von der F- bis zur A-Jugend aktiv gespielt –, da waren immer Anatolier, die haben da mitgespielt, da ging das los. Dann hatten wir auch mal Spanier. Dann waren wir früh oft im Elsass, weil mein Opa väterlicherseits hat zwei Weltkriege erlebt, und da spielt im Ersten Weltkrieg der Hartmannsweilerkopf und die Vogesen spielten da eine Rolle. Wer weiß, diese Schlachten, da sind sehr viele Menschen gestorben unnötigerweise. Und das kam viel auch durch meine Eltern. Meine Eltern hatten ein sehr starkes europäisches Bewusstsein, und da bin ich sicher beeinflusst.
von Billerbeck: Derzeit bekommt Europa ja ziemlich schlechte Noten, also Regierungen werden der Unfähigkeit geziehen – welche Rolle können denn Künstler in der Diskussion um Europa spielen?
Stöhr: Das mit den schlechten Noten würde ich erst mal in Frage stellen. Ich kann das nicht erkennen. Man kann natürlich immer sagen, das Glas ist halb voll, das Glas ist halb leer. Ich finde es erstaunlich, wie Europa zusammenarbeitet in der Krise. Ich nehme wahr, dass Frankreich und Deutschland trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die es da gibt, versucht jetzt … Die Leute arbeiten zusammen, es wird konkret, und ich kann nicht erkennen.
Ich habe Europa nie so stark empfunden wie jetzt, und dass der Konstruktionsfehler von 1992, nämlich die Währungsunion, nicht politisch abzusichern, sage ich jetzt mal, dass das aufs Tableau kommt, ist klar. Aber ich würde immer dran erinnern, vor 22 Jahren standen links und rechts Atomraketen und es gab eine Mauer, und Europa war zusammen vor dem kollektiven Selbstmord. Also wer da jetzt so negativ malt, das kann ich nicht verstehen.
Ich glaube jetzt, dass man die europäische Vision – meine europäische Vision ist zumindest, dass ich sage: Wir brauchen mehr Europa, weil wir sonst einfach nicht mithalten können mit China, mit Südamerika, mit den USA, mit Indien. Wer mal in diesen Ländern war, der weiß, mit wem wir da zu tun haben. Und man kann nicht einfach sagen, früher war alles besser oder so, zurück zur D-Mark, weil die Welt hat sich verändert. Die Gefahr ist doch, dass Europa durch ein Nichtstun seine Handlungsfähigkeit verliert, und den Begriff der Vereinigten ... niemand sagt, dass die Vereinigten Staaten von Europa eine Kopie von den USA sein sollen.
Aber was mich daran fasziniert, ist – ich glaube, wir müssen über drei Ebenen reden –, das ist für mich die Region, die Nation und Europa, also eine Kompetenzverteilung finden, wo von unten gewachsen, nicht ein von oben von Brüssel aufgepfropftes Konstrukt ... Das möchte niemand, und das wird einem manchmal unterstellt, wenn man von den Vereinigten Staaten von Europa spricht.
Entscheidend ist, dass das Gewachsene von unten – und das gab es schon ganz früh, 1949, ich erinnere an die Bayernpartei, die damals gesagt hat: Das Regionale – also das, was europaweit ... ein Bretone, ein Katalane, ein Gallego, ein Schwabe, ein Bayer, ein Sache, einer aus den West-Midlands, einer aus Cornwall, ein Waliser, ein Schotte ... der soll sich da drin finden. Und da stecken wir jetzt mitten drin, und ich würde da – ich weigere mich, dazu negativ zu sprechen. Weil ...
von Billerbeck: Diese regionale Identität, die kann man ja auch sehr genau in Ihrem Film "One Day in Europe" erleben, wo sie also auch beschreiben, dass Europa eben kein Brei ist, sondern aus sehr vielen Menschen besteht, die sehr viele spezielle Eigenheiten haben. Ist dann – wenn man aber die Unterschiede sieht, die Sie ja auch in Ihrem Film zeigen – ist dann eine kulturelle Gemeinschaft nicht doch eine Vision?
Stöhr: Natürlich ist das eine Vision, natürlich muss man das zusammenwachsen. Ich erinnere mal dran, 1871 musste man die Bayern kaufen, denen musste man Geld geben, damit sie bei der deutschen Einheit überhaupt mitmachen. Natürlich sind die Unterschiede enorm. West- und Ostdeutschland zum Beispiel hat gemerkt: Obwohl wir die gemeinsame Sprache sprechen, wie schwierig das ist, dieses West- und Ostdeutschland zusammenzubringen. Das wird potenziert auf europäischer Ebene jetzt auch stattfinden.
Aber entscheidend ist für mich: Natürlich gibt es Tausende von Jahren europäischer Geschichte. Aus deutscher Perspektive jetzt: Ist das Elsass französisch, ist es deutsch? Was ist mit Schlesien? Was ist mit den Banater Schwaben zum Beispiel in Ungarn? Andere Länder, die Basken, die Katalanen, das sind alles Landstriche. Und wenn jetzt ... wir müssen halt eine Organisationsform finden. Und beim Geld hört natürlich der Spaß immer auf, wer zahlt was, aber das ist doch in Deutschland auch schon so. Also wenn im Länderfinanzausgleich, wenn wir Baden-Württemberg und Bayern nicht hätten, dann stünde der Norden von Deutschland auch nicht so gut da. Das wissen auch alle. Die Katalanen beklagen sich in Spanien immer bei Madrid und wollen auch nicht zahlen.
Trotzdem, glaube ich, haben alle was davon, wenn die verschiedenen Regionen zusammenarbeiten, und die stärkeren Schultern müssen halt mehr tragen, aber man darf sie auch nicht so schwächen, dass sie nicht konkurrenzfähig sind, mit denen, mit denen wir konkurrieren, nämlich China, Indien, Brasilien, USA, mit denen wir ja in der Welt zusammenleben. Wir können ja nicht sagen, wir sind allein.
von Billerbeck: Sie haben ja nicht bloß in Ihrem Film "One Day in Europe" über europäische Regionen, Europäer in verschiedenen Ländern gearbeitet und da Bilder gezeigt, sondern Sie haben auch einen Film gedreht über die Club-Kultur, und da gibt es ja so einen Ausdruck, der heißt Easy Jetset, also die Clubber, die Menschen, die beispielsweise von Barcelona nach Berlin fliegen, um hier die Nächte durchzumachen. Was bedeutet in solchen Kreisen eigentlich noch so was wie einen Landesgrenze? Oder überhaupt Grenzen zwischen Ländern in Europa?
Stöhr: Sie meinen für den Easy-Jet-Raver?
von Billerbeck: Ja?
Stöhr: Der aus Spanien oder aus England fürs Partywochenende nach Berlin fliegt? Na, ich meine, die Reisefreiheit ist nur ein Vorteil. Ist doch schön, dass die Europäer miteinander ... ist doch schön, wenn die Engländer jetzt hierher kommen und hier Party machen. Vor 60 Jahren haben wir mit England Krieg geführt. Und jetzt lernt man miteinander sich kennen.
Auf meiner Homepage, oder auf der Berlin-Calling-Facebook-Seite, wenn man da mal guckt, da spricht mittlerweile ganz Europa über elektronische Musik. Das Englisch in diesen Kommentaren – das finde ich immer herrlich, wenn ein Ungar zum Beispiel etwas schreibt, und dann kommt drunter: Please don't speak German all the time. Also Sprechen sie nicht immer Deutsch, bevor dann einer da drunter schreibt: Das war überhaupt kein Deutsch, das war Slowenisch, bis dann wieder der Ungar kommt und sagt: No, it wasn't Slovenian, it was Hungarian!
Also die Welt kommuniziert, die jungen Leute kommunizieren. Ich bewerte das positiv, und die Easy-Jet-Raver, oder das, was in "One Day in Europe", in meinem Film beschrieben wird, ist in dem Moment, wo Europa .. das Reisen ist doch auch immer, man stellt sich doch auch immer selbst in Frage. Und durch dieses Reisen, dieses Kennenlernen – ich glaube jeder kennt das, wenn man jetzt nicht nur seinen Urlaub verbringt in irgendwelchen Mallorca-Ballermann-6-Hochburgen, sondern wenn man mal einfach andere Landstriche erkundet, da stellt man auch seine eigene Lebensweise zuhause infrage, lernt neue Dinge kennen, und das ist doch Europa.
von Billerbeck: Also auch immer die Frage, wer bist du, die man sich dann selbst stellt. Ich erinnere mich an so eine Szene, da war ich in New Orleans an der Fähre, und ein Amerikaner sprach mich an, und ich habe ihn raten lassen, woher ich komme, und der hat dann kurz überlegt und hat gesagt: Europe! Und da habe ich gedacht: Europe? Es war 1991, da war Europe für mich noch nicht so normal. Es ist interessant, wie man dann plötzlich sich selbst auch sieht. Das ist ja auch so ein Ding.
Stöhr: Ja klar sieht man das, und je mehr man kennt, desto mehr sieht man. Das ist auch eine Binsenweisheit, und genau darum geht es, diese Vielfalt in Europa zu erhalten. Und ich glaube, die größere Einheit, um noch mal im Bild zu bleiben, Europa, Nation, Region, die größere Einheit, der größere Kreis Europa ist doch genau dazu da, diese Vielfalt zu schützen.
von Billerbeck: Das sagt der Regisseur Hannes Stöhr über die Möglichkeit eines künftigen vereinten Europas. Ganz herzlichen Dank für Ihr kommen und ein gutes europäisches Jahr Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Unsere Antwort auf Europa - Reihe im Radiofeuilleton: Künstler machen sich Gedanken zur Krise
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Hannes Stöhr: Herzlich willkommen, Guten Tag!
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Stöhr: Meine Vorfahren väterlicherseits sind Badener, mütterlicherseits sind es Niedersachsen, es gibt wohl noch ein paar Holländer irgendwo in der Cousinage, aber meine europäische Biografie, die ist eher erworben durch Erfahrungen. Ich bin jetzt nicht der typische, meine Mutter kommt aus der Türkei oder mein Vater kommt aus Spanien, und deshalb bin ich für Europa. Meine europäischen Erfahrungen bringen mich dazu, an Europa zu glauben.
von Billerbeck: Das heißt, Sie haben anderswo studiert, haben die Sprachen erlernt, und sind deshalb schon ein personifizierter Europäer?
Stöhr: Ach, das fing eigentlich früh an: In der Schule, da hatten wir in unserer Fußballmannschaft – ich habe von der F- bis zur A-Jugend aktiv gespielt –, da waren immer Anatolier, die haben da mitgespielt, da ging das los. Dann hatten wir auch mal Spanier. Dann waren wir früh oft im Elsass, weil mein Opa väterlicherseits hat zwei Weltkriege erlebt, und da spielt im Ersten Weltkrieg der Hartmannsweilerkopf und die Vogesen spielten da eine Rolle. Wer weiß, diese Schlachten, da sind sehr viele Menschen gestorben unnötigerweise. Und das kam viel auch durch meine Eltern. Meine Eltern hatten ein sehr starkes europäisches Bewusstsein, und da bin ich sicher beeinflusst.
von Billerbeck: Derzeit bekommt Europa ja ziemlich schlechte Noten, also Regierungen werden der Unfähigkeit geziehen – welche Rolle können denn Künstler in der Diskussion um Europa spielen?
Stöhr: Das mit den schlechten Noten würde ich erst mal in Frage stellen. Ich kann das nicht erkennen. Man kann natürlich immer sagen, das Glas ist halb voll, das Glas ist halb leer. Ich finde es erstaunlich, wie Europa zusammenarbeitet in der Krise. Ich nehme wahr, dass Frankreich und Deutschland trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die es da gibt, versucht jetzt … Die Leute arbeiten zusammen, es wird konkret, und ich kann nicht erkennen.
Ich habe Europa nie so stark empfunden wie jetzt, und dass der Konstruktionsfehler von 1992, nämlich die Währungsunion, nicht politisch abzusichern, sage ich jetzt mal, dass das aufs Tableau kommt, ist klar. Aber ich würde immer dran erinnern, vor 22 Jahren standen links und rechts Atomraketen und es gab eine Mauer, und Europa war zusammen vor dem kollektiven Selbstmord. Also wer da jetzt so negativ malt, das kann ich nicht verstehen.
Ich glaube jetzt, dass man die europäische Vision – meine europäische Vision ist zumindest, dass ich sage: Wir brauchen mehr Europa, weil wir sonst einfach nicht mithalten können mit China, mit Südamerika, mit den USA, mit Indien. Wer mal in diesen Ländern war, der weiß, mit wem wir da zu tun haben. Und man kann nicht einfach sagen, früher war alles besser oder so, zurück zur D-Mark, weil die Welt hat sich verändert. Die Gefahr ist doch, dass Europa durch ein Nichtstun seine Handlungsfähigkeit verliert, und den Begriff der Vereinigten ... niemand sagt, dass die Vereinigten Staaten von Europa eine Kopie von den USA sein sollen.
Aber was mich daran fasziniert, ist – ich glaube, wir müssen über drei Ebenen reden –, das ist für mich die Region, die Nation und Europa, also eine Kompetenzverteilung finden, wo von unten gewachsen, nicht ein von oben von Brüssel aufgepfropftes Konstrukt ... Das möchte niemand, und das wird einem manchmal unterstellt, wenn man von den Vereinigten Staaten von Europa spricht.
Entscheidend ist, dass das Gewachsene von unten – und das gab es schon ganz früh, 1949, ich erinnere an die Bayernpartei, die damals gesagt hat: Das Regionale – also das, was europaweit ... ein Bretone, ein Katalane, ein Gallego, ein Schwabe, ein Bayer, ein Sache, einer aus den West-Midlands, einer aus Cornwall, ein Waliser, ein Schotte ... der soll sich da drin finden. Und da stecken wir jetzt mitten drin, und ich würde da – ich weigere mich, dazu negativ zu sprechen. Weil ...
von Billerbeck: Diese regionale Identität, die kann man ja auch sehr genau in Ihrem Film "One Day in Europe" erleben, wo sie also auch beschreiben, dass Europa eben kein Brei ist, sondern aus sehr vielen Menschen besteht, die sehr viele spezielle Eigenheiten haben. Ist dann – wenn man aber die Unterschiede sieht, die Sie ja auch in Ihrem Film zeigen – ist dann eine kulturelle Gemeinschaft nicht doch eine Vision?
Stöhr: Natürlich ist das eine Vision, natürlich muss man das zusammenwachsen. Ich erinnere mal dran, 1871 musste man die Bayern kaufen, denen musste man Geld geben, damit sie bei der deutschen Einheit überhaupt mitmachen. Natürlich sind die Unterschiede enorm. West- und Ostdeutschland zum Beispiel hat gemerkt: Obwohl wir die gemeinsame Sprache sprechen, wie schwierig das ist, dieses West- und Ostdeutschland zusammenzubringen. Das wird potenziert auf europäischer Ebene jetzt auch stattfinden.
Aber entscheidend ist für mich: Natürlich gibt es Tausende von Jahren europäischer Geschichte. Aus deutscher Perspektive jetzt: Ist das Elsass französisch, ist es deutsch? Was ist mit Schlesien? Was ist mit den Banater Schwaben zum Beispiel in Ungarn? Andere Länder, die Basken, die Katalanen, das sind alles Landstriche. Und wenn jetzt ... wir müssen halt eine Organisationsform finden. Und beim Geld hört natürlich der Spaß immer auf, wer zahlt was, aber das ist doch in Deutschland auch schon so. Also wenn im Länderfinanzausgleich, wenn wir Baden-Württemberg und Bayern nicht hätten, dann stünde der Norden von Deutschland auch nicht so gut da. Das wissen auch alle. Die Katalanen beklagen sich in Spanien immer bei Madrid und wollen auch nicht zahlen.
Trotzdem, glaube ich, haben alle was davon, wenn die verschiedenen Regionen zusammenarbeiten, und die stärkeren Schultern müssen halt mehr tragen, aber man darf sie auch nicht so schwächen, dass sie nicht konkurrenzfähig sind, mit denen, mit denen wir konkurrieren, nämlich China, Indien, Brasilien, USA, mit denen wir ja in der Welt zusammenleben. Wir können ja nicht sagen, wir sind allein.
von Billerbeck: Sie haben ja nicht bloß in Ihrem Film "One Day in Europe" über europäische Regionen, Europäer in verschiedenen Ländern gearbeitet und da Bilder gezeigt, sondern Sie haben auch einen Film gedreht über die Club-Kultur, und da gibt es ja so einen Ausdruck, der heißt Easy Jetset, also die Clubber, die Menschen, die beispielsweise von Barcelona nach Berlin fliegen, um hier die Nächte durchzumachen. Was bedeutet in solchen Kreisen eigentlich noch so was wie einen Landesgrenze? Oder überhaupt Grenzen zwischen Ländern in Europa?
Stöhr: Sie meinen für den Easy-Jet-Raver?
von Billerbeck: Ja?
Stöhr: Der aus Spanien oder aus England fürs Partywochenende nach Berlin fliegt? Na, ich meine, die Reisefreiheit ist nur ein Vorteil. Ist doch schön, dass die Europäer miteinander ... ist doch schön, wenn die Engländer jetzt hierher kommen und hier Party machen. Vor 60 Jahren haben wir mit England Krieg geführt. Und jetzt lernt man miteinander sich kennen.
Auf meiner Homepage, oder auf der Berlin-Calling-Facebook-Seite, wenn man da mal guckt, da spricht mittlerweile ganz Europa über elektronische Musik. Das Englisch in diesen Kommentaren – das finde ich immer herrlich, wenn ein Ungar zum Beispiel etwas schreibt, und dann kommt drunter: Please don't speak German all the time. Also Sprechen sie nicht immer Deutsch, bevor dann einer da drunter schreibt: Das war überhaupt kein Deutsch, das war Slowenisch, bis dann wieder der Ungar kommt und sagt: No, it wasn't Slovenian, it was Hungarian!
Also die Welt kommuniziert, die jungen Leute kommunizieren. Ich bewerte das positiv, und die Easy-Jet-Raver, oder das, was in "One Day in Europe", in meinem Film beschrieben wird, ist in dem Moment, wo Europa .. das Reisen ist doch auch immer, man stellt sich doch auch immer selbst in Frage. Und durch dieses Reisen, dieses Kennenlernen – ich glaube jeder kennt das, wenn man jetzt nicht nur seinen Urlaub verbringt in irgendwelchen Mallorca-Ballermann-6-Hochburgen, sondern wenn man mal einfach andere Landstriche erkundet, da stellt man auch seine eigene Lebensweise zuhause infrage, lernt neue Dinge kennen, und das ist doch Europa.
von Billerbeck: Also auch immer die Frage, wer bist du, die man sich dann selbst stellt. Ich erinnere mich an so eine Szene, da war ich in New Orleans an der Fähre, und ein Amerikaner sprach mich an, und ich habe ihn raten lassen, woher ich komme, und der hat dann kurz überlegt und hat gesagt: Europe! Und da habe ich gedacht: Europe? Es war 1991, da war Europe für mich noch nicht so normal. Es ist interessant, wie man dann plötzlich sich selbst auch sieht. Das ist ja auch so ein Ding.
Stöhr: Ja klar sieht man das, und je mehr man kennt, desto mehr sieht man. Das ist auch eine Binsenweisheit, und genau darum geht es, diese Vielfalt in Europa zu erhalten. Und ich glaube, die größere Einheit, um noch mal im Bild zu bleiben, Europa, Nation, Region, die größere Einheit, der größere Kreis Europa ist doch genau dazu da, diese Vielfalt zu schützen.
von Billerbeck: Das sagt der Regisseur Hannes Stöhr über die Möglichkeit eines künftigen vereinten Europas. Ganz herzlichen Dank für Ihr kommen und ein gutes europäisches Jahr Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Unsere Antwort auf Europa - Reihe im Radiofeuilleton: Künstler machen sich Gedanken zur Krise