"Ich habe immer versucht, das mit mir alleine klarzukriegen"
Obwohl die Diözese Freiburg vom sexuellen Missbrauch eines Priesters an ihm gewusst habe, sei niemand auf ihn zugekommen, sagt Missbrauchsopfer Lars Müller (Name von der Redaktion geändert). Er habe sich vor Jahrzehnten selbst gemeldet. Dabei sei klar geworden, dass der damalige Personalreferent und heutige Bischof Robert Zollitsch schon bescheid wusste.
Ulrike Timm: Endlich einer, der sich für einen interessiert, der einen 13-Jährigen versteht, bei dem nichts so richtig rund läuft, der Anteil nimmt, der Nähe gibt, der erst großer Freund wird und dann Ersatzvater. Und dann wird es plötzlich sehr nah und ganz merkwürdig, unangenehm, tut sogar körperlich weh, und aus dem guten, dem sehr besonderen Kontakt ist Missbrauch geworden, und gab es das vertraute Verhältnis vielleicht nur, weil der Große den Kleinen so gut benutzen konnte? Der Große war Priester, der Kleine, den nennen wir Lars Müller, weil er seinen Namen hier im Radio nicht sagen möchte, und Lars Müller ist inzwischen 54 Jahre alt, und ich freue mich, dass er mit uns spricht. So bekommen die Missbrauchsskandale, die uns zurzeit erschüttern, einen konkreten Ton. Ich grüße Sie, Herr Müller!
Lars Müller*: Hallo, guten Tag!
Timm: Sie haben diesen Priester mit 13 kennengelernt und zwischen Ihrem 15. und 23. Lebensjahr wurde daraus ein Missbrauchsverhältnis. Wie hat sich das ergeben?
Müller: Der Priester kam neu in unsere Gemeinde und hat relativ bald zu unserer Familie Kontakt aufgenommen. Er hat mir aber auch später gesagt, dass er, als er mich zum ersten Mal gesehen hat, sich schon gleich in mich verschossen hatte und deshalb auch den Kontakt zur Familie gesucht hat.
Timm: Und wie wurde das aus einer nahen Beziehung von einem Mann zu einem Jungen, die ja auch was sehr Schönes haben kann, wie wurde das zum Missbrauch?
Müller: Na ja, als es zur ersten sexuellen Handlung kam, da war ich dann 15, das war also zwei Jahre später, da war mir natürlich nicht wohl dabei. Also als das zum ersten Mal passiert war, kann ich mich erinnern, dass mir am anderen Tag den ganzen Tag über schlecht war und ich natürlich wusste, dass irgendwas jetzt schief geht. Ich habe da mitgemacht, weil ich in den zwei Jahren natürlich ein großes Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut habe und ihn auch nicht verlieren wollte, klar. Viel, viel später, nachdem die Sache rum war und eigentlich ich richtig erwachsen war und darüber nachdenken konnte, war mir schon klar, dass das schon eine komische Situation war insgesamt.
Timm: Wie hat sich das bei Ihnen geformt, dass Sie wirklich irgendwann wussten, das war nicht eine etwas andere Art von Liebe, sondern das war ein Benutzen, das war Missbrauch?
Müller: Also ich habe es eigentlich daran dann festgemacht für mich, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass es bei ihm nicht um meine Person ging. Er hat mich nicht gefördert in meiner Entwicklung, sondern es hat sich also bei mir alles um ihn gedreht, es war irgendwie klar und ich habe da als Person, also in meiner Entwicklung zurückgestanden.
Timm: Das ist jetzt sehr abstrakt. Wie ist das bei dem 15-jährigen Lars Müller gewesen, der täglich zur Verfügung stand?
Müller: Der Tag war natürlich auf eine Art interessant insofern, dass sich der Priester um mich gekümmert hat. Vorher war es so, ich komme aus einer Großfamilie, dass man da mehr oder weniger untergeht in der großen Kinderschar. Von daher war es etwas Exklusives und Besonderes. Auf der anderen Seite war es natürlich schon so, dass er meinen ganzen Tagesablauf damit auch bestimmt hat. Das heißt also, er gab die Zeiten vor, wann wir uns treffen, und daran habe ich mich gehalten. Also wenn er gesagt hat, morgen Mittag um 14 Uhr treffen wir uns, dann war das für mich klar.
Timm: Und wie kommt das eigentlich, ein katholischer Priester lebt in einer großen Gemeinde, lebt mit einer großen Gemeinde – ist das niemandem aufgefallen, dass da ein pubertierender Junge stets und ständig mit einem erwachsenen Mann zusammen war?
Müller: Es ist schon aufgefallen, zumindest seinen Eltern, die bei ihm im Haushalt gewohnt haben, vor allem seiner Mutter. Also das Einzige, was ich mitgekriegt habe, es gab ein Gespräch wohl mit dieser, von dieser Mutter mit dem Ortspfarrer über genau diesen Sachverhalt, dass ihr auffällt, dass wir ständig zusammenhocken. Und dieser Ortspfarrer hat mich dann mal zum Gespräch geholt. Ja, und da ich aber in dieses Lügengebäude mit eingestiegen bin, habe ich natürlich gesagt, klar, es ist alles in Ordnung, wieso, was soll sein?
Timm: Und warum hat diese Mutter sich den Ortspfarrer ausgesucht und nicht mit ihrem Sohn mal Klartext gesprochen?
Müller: Keine Ahnung, also wie das Verhältnis zwischen den beiden war ... Ich habe es nur mitgekriegt, das war schwierig, weil sie auch eine sehr eifersüchtige Mutter war, die mit Argusaugen auf ihn aufgepasst hat.
Timm: Sie klingen da sehr einfühlsam, fast betroffen für die Mittäter. Ich sage Ihnen jetzt mal, wie ich das finde, ich finde das einfach feige, wenn man so was merkt und nicht dem Jugendlichen oder dem Kind hilft, sondern das versucht, irgendwie auf Umwegen zu regeln und dann auch merkt, das geht nicht.
Müller: Für mich war: einfach nur Mund halten, ruhig sein, mit niemand darüber reden – ist eh verboten und zwar in doppelter Hinsicht: einmal die Homosexualität an sich und dann der Sex mit dem Priester. Wir haben uns natürlich die meiste Zeit außerhäuslich getroffen; wenn wir uns verabredet haben zu einem Zeitpunkt, dann haben wir auch immer irgendwie einen Treffpunkt ausgemacht. Meistens sind wir mit dem Auto weggefahren, der Peter hatte ja einen Hund und wir haben diesen Hund dann ausgeführt und offiziell, und sind dann mit dem Auto an stille Flecken gefahren, sag ich mal.
Als der Peter die Pfarrei gewechselt hat, also wir haben jetzt bisher geredet von meinem Heimatort und dann hat er die Pfarrei gewechselt und damit war er so, na bis zum Bodensee waren es knappe 100 Kilometer entfernt. Und wir haben dann unsere Geschichte aufrechterhalten, indem ich ihn jedes Wochenende dort besucht habe. Und da es ja keinen Platz gab zu dem Zeitpunkt, da habe ich dann in der Garage, im Auto übernachtet. Wenn ich daran denke, dann tun sich auch so noch die ähnlichen Gefühle auf, die ich damals hatte, nämlich man hat ja auch Angst, weil die Garage ist dunkel und komisch, man schläft überhaupt nicht gut und man achtet auf jedes Geräusch und, also es war so stressig einfach auch. Ich habe also schon auch sehr Angst gehabt da in dieser Garage.
Timm: Wie lange hat es gedauert, bis der Peter Sie soweit hatte, dass er ganz sicher sein konnte, der Junge wird niemals aufbegehren?
Müller: Es war ja von Anfang an so, dass er schon nach dem ersten Mal gesagt hat, dass ich mit niemand darüber reden soll und dass er es aber schön fand und er es gern weiter so laufen lassen würde. Mir war von Anfang an klar, dass ich mit niemand drüber reden darf.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit einem Mann, nennen wir ihn Lars Müller, er war in seiner Jugend acht Jahre lang Opfer eines Priesters, der ihn sexuell benutzte. Herr Müller, wie ging denn dieser Kontakt zu Ende?
Müller: Der Priester hatte im letzten Jahr unserer Geschichte eine junge Haushälterin, sie war 18 Jahre jünger als er, und hat mit ihr dann ein Verhältnis angefangen und sie wurde dann auch schwanger von ihm und dann hat er sich entschlossen, diese Frau zu heiraten und seinen Priesterberuf aufzugeben.
Timm: Wie haben Sie das erfahren?
Müller: Ich habe es von seinem Sekretär erfahren. Zu dem Zeitpunkt war ich nur wochenends dort im Pfarrhaus, weil ich bei der Bundeswehr war. Und als ich Freitagabends dann zurückkam, hat mich der Sekretär empfangen und hat gleich gesagt, er müsste mir was sagen, und hat sich dann so ausgedrückt, der Pfarrer hat, letzte Woche zieht er weg, er heiratet die Andrea, so heißt die Frau, und ja, ich müsste innerhalb dieser Woche ausziehen. Mir wurde es eiskalt, ich konnte gar nichts dazu sagen, ich, also ich habe so eine Kälte gespürt am ganzen Körper und erschrocken natürlich. Ich war einfach nur getroffen und konnte gar nicht erst mal reagieren. Ich habe dazu, zu diesem Sekretär gar nichts gesagt.
Als ich die Woche später, wir hatten einen kleinen, Privatzoo ist nicht das richtige Wort, wir hatten Ziervögel und wir hatten Hasen und jeder von uns hatte einen Hund, und als ich die Woche später kam, waren die gesamten Tiere verschenkt, verkauft oder geschlachtet, die Hasen, und meinen Hund hat er einschläfern lassen und im Pfarrgarten begraben, weil er gesagt hat, ich könne ihn ja eh nicht mitnehmen zur Bundeswehr, und er will ihn nicht mitnehmen in seine neue Umgebung, und deswegen hat er ihn einschläfern lassen.
Timm: Können Sie sich an die Wochen danach überhaupt noch erinnern?
Müller: Ich kann mich erinnern, danach bin ich wieder zur Bundeswehr gefahren in strömendem Regen, und ich war so fertig eigentlich, dass ich, als ich in der Kaserne ankam, mich über eine Stunde in den Regen gelegt habe, in den Rasen. Weil ich irgendwie, ich war so, ich habe überhaupt kein Körpergefühl in dem Moment mehr gehabt so richtig, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Na, das war ziemlich übel so.
Timm: Sie haben über Ihre Erfahrung mal geschrieben vor sechs Jahren und die Überschrift finde ich sehr bezeichnend: "Überall so fühllos ein bisschen." Ist das der Ausdruck des gesamten Lebensgefühls über Jahre?
Müller: Schon. Also ich habe die Jahre danach dann schon sehr auch also mit niemandem darüber reden können, ich habe immer versucht, das mit mir alleine klarzukriegen. Ich bin, ich war auch sozial, kann man sagen, total gestört, weil ich keine Außenkontakte aufgenommen habe, auch danach nicht erst mal. Es war also ...
Timm: Auch danach nicht heißt, Sie waren während dieser Jahre völlig allein?
Müller: Genau. Also um das mal vielleicht transparent zu machen, ich habe dann angefangen mit einer Fachausbildung, und als eine Arbeitskollegin zu mir dann nach vier Wochen oder so mal gesagt hat, hast du nicht mal Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen, dann bin ich total erschrocken und habe innere Zustände gekriegt und habe es abgelehnt und bin fast zitternd weggegangen, weil ich eben durch dieses Versteckspiel schon einfach alles alleine mit mir abgemacht habe. Ich habe da zu dem Zeitpunkt keine, überhaupt keine Außenkontakte zu anderen gehabt, zu Gleichaltrigen oder, so gar nicht.
Timm: Sie haben sich dann ja mit Mitte 20 schon geöffnet, haben Hilfe gesucht, und die Diözese Freiburg hatte damals einen sehr bekannten Personalreferenten, Robert Zollitsch, heute Erzbischof – wie haben Sie ihn damals kennengelernt?
Müller: Das lief über Dritte. Den Robert Zollitsch habe ich nicht selber kennengelernt. Über einen Dritten, der mit dem Personalreferent geredet hat, kam eben diese Geschichte auf den Tisch, und da, in dem Rahmen hat er gesagt, wenn der Lars Hilfe braucht und Psychotherapie, dann würde die Kirche das bezahlen.
Timm: Wie empfanden Sie das?
Müller: Ich war so irgendwie im ersten Moment völlig irritiert, dass er das wusste, weil ich immer geglaubt habe, dass dieses Versteckspiel perfekt war. Und dann habe ich hinterher überlegt, wenn die das schon wussten, warum kam keiner auf mich zu und hat mir das gesagt und mich gefragt. Ich kann mich erinnern, ich habe mich sehr darüber gewundert, weil dieses Argument von dem Priester, dass ich mit niemandem darüber reden soll, war, dass das sonst ganz schlimme Konsequenzen für ihn hätte.
Da ich jetzt im Nachhinein erfahren habe, dass die Kirche das wohl wusste, dann hat das ja wohl null Konsequenzen gehabt zu dem Zeitpunkt. Fakt für mich war dann, dass es wohl keine Konsequenzen hat. Es kam keine Nachfrage bei mir und eben für den Pfarrer, soweit ich das mitgekriegt habe, hat es eben auch keine Konsequenz demnach gehabt. Denn wenn sie es schon eine Zeitlang gewusst hätten und ihn daraufhin zum Beispiel angeschrieben oder zur Rede gestellt hätten, hätte ich es hundertprozentig erfahren von ihm.
Timm: Ich gehe auch noch mal ein Stück zurück: Das heißt, Sie sind sicher, dass der Personalreferent Robert Zollitsch, ob Gespräch oder nicht, dass er um Ihren Fall wusste?
Müller: Da bin ich mir sicher.
Timm: Weil Robert Zollitsch in unserem Programm gesagt hat, diese ganzen Fälle hätten ihn tief überrascht.
Müller: Also das kann ich ihm so nicht abnehmen, dass es ihn überrascht. Also in meinem Fall, das hat er gewusst.
Timm: Ich danke Ihnen für das Gespräch, ich danke Ihnen für die Klarheit und ich wünsche Ihnen alles Gute! Lars Müller, so möchte mein Gesprächspartner genannt werden, erzählte uns von seiner Jugend, die von Missbrauch geprägt war. Vielen Dank für das Gespräch!
*Name von der Redaktion geändert
Lars Müller*: Hallo, guten Tag!
Timm: Sie haben diesen Priester mit 13 kennengelernt und zwischen Ihrem 15. und 23. Lebensjahr wurde daraus ein Missbrauchsverhältnis. Wie hat sich das ergeben?
Müller: Der Priester kam neu in unsere Gemeinde und hat relativ bald zu unserer Familie Kontakt aufgenommen. Er hat mir aber auch später gesagt, dass er, als er mich zum ersten Mal gesehen hat, sich schon gleich in mich verschossen hatte und deshalb auch den Kontakt zur Familie gesucht hat.
Timm: Und wie wurde das aus einer nahen Beziehung von einem Mann zu einem Jungen, die ja auch was sehr Schönes haben kann, wie wurde das zum Missbrauch?
Müller: Na ja, als es zur ersten sexuellen Handlung kam, da war ich dann 15, das war also zwei Jahre später, da war mir natürlich nicht wohl dabei. Also als das zum ersten Mal passiert war, kann ich mich erinnern, dass mir am anderen Tag den ganzen Tag über schlecht war und ich natürlich wusste, dass irgendwas jetzt schief geht. Ich habe da mitgemacht, weil ich in den zwei Jahren natürlich ein großes Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut habe und ihn auch nicht verlieren wollte, klar. Viel, viel später, nachdem die Sache rum war und eigentlich ich richtig erwachsen war und darüber nachdenken konnte, war mir schon klar, dass das schon eine komische Situation war insgesamt.
Timm: Wie hat sich das bei Ihnen geformt, dass Sie wirklich irgendwann wussten, das war nicht eine etwas andere Art von Liebe, sondern das war ein Benutzen, das war Missbrauch?
Müller: Also ich habe es eigentlich daran dann festgemacht für mich, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass es bei ihm nicht um meine Person ging. Er hat mich nicht gefördert in meiner Entwicklung, sondern es hat sich also bei mir alles um ihn gedreht, es war irgendwie klar und ich habe da als Person, also in meiner Entwicklung zurückgestanden.
Timm: Das ist jetzt sehr abstrakt. Wie ist das bei dem 15-jährigen Lars Müller gewesen, der täglich zur Verfügung stand?
Müller: Der Tag war natürlich auf eine Art interessant insofern, dass sich der Priester um mich gekümmert hat. Vorher war es so, ich komme aus einer Großfamilie, dass man da mehr oder weniger untergeht in der großen Kinderschar. Von daher war es etwas Exklusives und Besonderes. Auf der anderen Seite war es natürlich schon so, dass er meinen ganzen Tagesablauf damit auch bestimmt hat. Das heißt also, er gab die Zeiten vor, wann wir uns treffen, und daran habe ich mich gehalten. Also wenn er gesagt hat, morgen Mittag um 14 Uhr treffen wir uns, dann war das für mich klar.
Timm: Und wie kommt das eigentlich, ein katholischer Priester lebt in einer großen Gemeinde, lebt mit einer großen Gemeinde – ist das niemandem aufgefallen, dass da ein pubertierender Junge stets und ständig mit einem erwachsenen Mann zusammen war?
Müller: Es ist schon aufgefallen, zumindest seinen Eltern, die bei ihm im Haushalt gewohnt haben, vor allem seiner Mutter. Also das Einzige, was ich mitgekriegt habe, es gab ein Gespräch wohl mit dieser, von dieser Mutter mit dem Ortspfarrer über genau diesen Sachverhalt, dass ihr auffällt, dass wir ständig zusammenhocken. Und dieser Ortspfarrer hat mich dann mal zum Gespräch geholt. Ja, und da ich aber in dieses Lügengebäude mit eingestiegen bin, habe ich natürlich gesagt, klar, es ist alles in Ordnung, wieso, was soll sein?
Timm: Und warum hat diese Mutter sich den Ortspfarrer ausgesucht und nicht mit ihrem Sohn mal Klartext gesprochen?
Müller: Keine Ahnung, also wie das Verhältnis zwischen den beiden war ... Ich habe es nur mitgekriegt, das war schwierig, weil sie auch eine sehr eifersüchtige Mutter war, die mit Argusaugen auf ihn aufgepasst hat.
Timm: Sie klingen da sehr einfühlsam, fast betroffen für die Mittäter. Ich sage Ihnen jetzt mal, wie ich das finde, ich finde das einfach feige, wenn man so was merkt und nicht dem Jugendlichen oder dem Kind hilft, sondern das versucht, irgendwie auf Umwegen zu regeln und dann auch merkt, das geht nicht.
Müller: Für mich war: einfach nur Mund halten, ruhig sein, mit niemand darüber reden – ist eh verboten und zwar in doppelter Hinsicht: einmal die Homosexualität an sich und dann der Sex mit dem Priester. Wir haben uns natürlich die meiste Zeit außerhäuslich getroffen; wenn wir uns verabredet haben zu einem Zeitpunkt, dann haben wir auch immer irgendwie einen Treffpunkt ausgemacht. Meistens sind wir mit dem Auto weggefahren, der Peter hatte ja einen Hund und wir haben diesen Hund dann ausgeführt und offiziell, und sind dann mit dem Auto an stille Flecken gefahren, sag ich mal.
Als der Peter die Pfarrei gewechselt hat, also wir haben jetzt bisher geredet von meinem Heimatort und dann hat er die Pfarrei gewechselt und damit war er so, na bis zum Bodensee waren es knappe 100 Kilometer entfernt. Und wir haben dann unsere Geschichte aufrechterhalten, indem ich ihn jedes Wochenende dort besucht habe. Und da es ja keinen Platz gab zu dem Zeitpunkt, da habe ich dann in der Garage, im Auto übernachtet. Wenn ich daran denke, dann tun sich auch so noch die ähnlichen Gefühle auf, die ich damals hatte, nämlich man hat ja auch Angst, weil die Garage ist dunkel und komisch, man schläft überhaupt nicht gut und man achtet auf jedes Geräusch und, also es war so stressig einfach auch. Ich habe also schon auch sehr Angst gehabt da in dieser Garage.
Timm: Wie lange hat es gedauert, bis der Peter Sie soweit hatte, dass er ganz sicher sein konnte, der Junge wird niemals aufbegehren?
Müller: Es war ja von Anfang an so, dass er schon nach dem ersten Mal gesagt hat, dass ich mit niemand darüber reden soll und dass er es aber schön fand und er es gern weiter so laufen lassen würde. Mir war von Anfang an klar, dass ich mit niemand drüber reden darf.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit einem Mann, nennen wir ihn Lars Müller, er war in seiner Jugend acht Jahre lang Opfer eines Priesters, der ihn sexuell benutzte. Herr Müller, wie ging denn dieser Kontakt zu Ende?
Müller: Der Priester hatte im letzten Jahr unserer Geschichte eine junge Haushälterin, sie war 18 Jahre jünger als er, und hat mit ihr dann ein Verhältnis angefangen und sie wurde dann auch schwanger von ihm und dann hat er sich entschlossen, diese Frau zu heiraten und seinen Priesterberuf aufzugeben.
Timm: Wie haben Sie das erfahren?
Müller: Ich habe es von seinem Sekretär erfahren. Zu dem Zeitpunkt war ich nur wochenends dort im Pfarrhaus, weil ich bei der Bundeswehr war. Und als ich Freitagabends dann zurückkam, hat mich der Sekretär empfangen und hat gleich gesagt, er müsste mir was sagen, und hat sich dann so ausgedrückt, der Pfarrer hat, letzte Woche zieht er weg, er heiratet die Andrea, so heißt die Frau, und ja, ich müsste innerhalb dieser Woche ausziehen. Mir wurde es eiskalt, ich konnte gar nichts dazu sagen, ich, also ich habe so eine Kälte gespürt am ganzen Körper und erschrocken natürlich. Ich war einfach nur getroffen und konnte gar nicht erst mal reagieren. Ich habe dazu, zu diesem Sekretär gar nichts gesagt.
Als ich die Woche später, wir hatten einen kleinen, Privatzoo ist nicht das richtige Wort, wir hatten Ziervögel und wir hatten Hasen und jeder von uns hatte einen Hund, und als ich die Woche später kam, waren die gesamten Tiere verschenkt, verkauft oder geschlachtet, die Hasen, und meinen Hund hat er einschläfern lassen und im Pfarrgarten begraben, weil er gesagt hat, ich könne ihn ja eh nicht mitnehmen zur Bundeswehr, und er will ihn nicht mitnehmen in seine neue Umgebung, und deswegen hat er ihn einschläfern lassen.
Timm: Können Sie sich an die Wochen danach überhaupt noch erinnern?
Müller: Ich kann mich erinnern, danach bin ich wieder zur Bundeswehr gefahren in strömendem Regen, und ich war so fertig eigentlich, dass ich, als ich in der Kaserne ankam, mich über eine Stunde in den Regen gelegt habe, in den Rasen. Weil ich irgendwie, ich war so, ich habe überhaupt kein Körpergefühl in dem Moment mehr gehabt so richtig, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Na, das war ziemlich übel so.
Timm: Sie haben über Ihre Erfahrung mal geschrieben vor sechs Jahren und die Überschrift finde ich sehr bezeichnend: "Überall so fühllos ein bisschen." Ist das der Ausdruck des gesamten Lebensgefühls über Jahre?
Müller: Schon. Also ich habe die Jahre danach dann schon sehr auch also mit niemandem darüber reden können, ich habe immer versucht, das mit mir alleine klarzukriegen. Ich bin, ich war auch sozial, kann man sagen, total gestört, weil ich keine Außenkontakte aufgenommen habe, auch danach nicht erst mal. Es war also ...
Timm: Auch danach nicht heißt, Sie waren während dieser Jahre völlig allein?
Müller: Genau. Also um das mal vielleicht transparent zu machen, ich habe dann angefangen mit einer Fachausbildung, und als eine Arbeitskollegin zu mir dann nach vier Wochen oder so mal gesagt hat, hast du nicht mal Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen, dann bin ich total erschrocken und habe innere Zustände gekriegt und habe es abgelehnt und bin fast zitternd weggegangen, weil ich eben durch dieses Versteckspiel schon einfach alles alleine mit mir abgemacht habe. Ich habe da zu dem Zeitpunkt keine, überhaupt keine Außenkontakte zu anderen gehabt, zu Gleichaltrigen oder, so gar nicht.
Timm: Sie haben sich dann ja mit Mitte 20 schon geöffnet, haben Hilfe gesucht, und die Diözese Freiburg hatte damals einen sehr bekannten Personalreferenten, Robert Zollitsch, heute Erzbischof – wie haben Sie ihn damals kennengelernt?
Müller: Das lief über Dritte. Den Robert Zollitsch habe ich nicht selber kennengelernt. Über einen Dritten, der mit dem Personalreferent geredet hat, kam eben diese Geschichte auf den Tisch, und da, in dem Rahmen hat er gesagt, wenn der Lars Hilfe braucht und Psychotherapie, dann würde die Kirche das bezahlen.
Timm: Wie empfanden Sie das?
Müller: Ich war so irgendwie im ersten Moment völlig irritiert, dass er das wusste, weil ich immer geglaubt habe, dass dieses Versteckspiel perfekt war. Und dann habe ich hinterher überlegt, wenn die das schon wussten, warum kam keiner auf mich zu und hat mir das gesagt und mich gefragt. Ich kann mich erinnern, ich habe mich sehr darüber gewundert, weil dieses Argument von dem Priester, dass ich mit niemandem darüber reden soll, war, dass das sonst ganz schlimme Konsequenzen für ihn hätte.
Da ich jetzt im Nachhinein erfahren habe, dass die Kirche das wohl wusste, dann hat das ja wohl null Konsequenzen gehabt zu dem Zeitpunkt. Fakt für mich war dann, dass es wohl keine Konsequenzen hat. Es kam keine Nachfrage bei mir und eben für den Pfarrer, soweit ich das mitgekriegt habe, hat es eben auch keine Konsequenz demnach gehabt. Denn wenn sie es schon eine Zeitlang gewusst hätten und ihn daraufhin zum Beispiel angeschrieben oder zur Rede gestellt hätten, hätte ich es hundertprozentig erfahren von ihm.
Timm: Ich gehe auch noch mal ein Stück zurück: Das heißt, Sie sind sicher, dass der Personalreferent Robert Zollitsch, ob Gespräch oder nicht, dass er um Ihren Fall wusste?
Müller: Da bin ich mir sicher.
Timm: Weil Robert Zollitsch in unserem Programm gesagt hat, diese ganzen Fälle hätten ihn tief überrascht.
Müller: Also das kann ich ihm so nicht abnehmen, dass es ihn überrascht. Also in meinem Fall, das hat er gewusst.
Timm: Ich danke Ihnen für das Gespräch, ich danke Ihnen für die Klarheit und ich wünsche Ihnen alles Gute! Lars Müller, so möchte mein Gesprächspartner genannt werden, erzählte uns von seiner Jugend, die von Missbrauch geprägt war. Vielen Dank für das Gespräch!
*Name von der Redaktion geändert