"Ich halte diese Gefahr für groß"

Roger Willemsen im Gespräch mit Jürgen König |
Der Publizist Roger Willemsen, der zuletzt ein Buch über Bangkok geschrieben hat, hält nach jüngsten Ausschreitungen in der thailändischen Hauptstadt einen Bürgerkrieg für möglich. Eine friedliche Lösung der Konflikte werde es "in Zukunft nicht mehr geben."
Jürgen König: Durch die Straßen von Bangkok patrouillieren noch immer Soldaten, an Straßensperren aus Stacheldraht werden Autos nach Waffen durchsucht. Das wochenlang verschanzte Lager der Demonstranten steht leer, die Barrikaden sind weg. In den Geschäftsvierteln der Stadt wird aufgeräumt. Ministerpräsident Abhisit, dessen Rücktritt die oppositionellen Rothemden fordern, will sich heute mit einer Fernsehansprache an die Bürger Thailands wenden. Über Bangkok möchte ich nun sprechen mit einem Mann, der oft in Thailand war, längere Zeit dort auch gelebt hat, im letzten Jahr ein Buch über Bangkok geschrieben hat: "Bangkok Noir" heißt es: Roger Willemsen. Guten Morgen!

Roger Willemsen: Guten Morgen, Herr König!

König: Dieses Buch "Bangkok Noir" ist kein Reiseführer, sondern ein, sagen wir, poetischer, feuilletonistischer, auch journalistischer Versuch, die nächtliche Atmosphäre Bangkoks zu erkunden. Sie durchstreifen die Stadt auf der Suche nach Menschen, nach ihren Lebenssituationen, versuchen, Stimmungen, atmosphärische Verdichtungen, Brutalitäten aber auch Herzlichkeiten festzuhalten. Das ist schon so eine Liebeserklärung an die Stadt und ihre Menschen. An einer Stelle heißt es, Zitat: "Dieser Versuch, dass es dem Nächsten besser gehen soll, nachdem man ihn getroffen hat – das dringt in allen Bereichen durch. Das hat mich immer wieder bewegt. Ich kenne keine Großstadt, die buddhistischer ist als Bangkok", Zitat Ende. Wie fügen sich die Szenen der letzten Wochen in dieses Bild vom buddhistischen Bangkok?

Willemsen: Ja, Sie haben sehr recht, das zu fragen, denn man hat im Augenblick das Gefühl, dass zum ersten Mal nach langer Zeit soziale Fragen, politische Fragen wieder wichtiger werden als Glaubensfragen. Ich habe damals, wo ich mich nur in den Nächten bewegt habe, also im vorletzten Jahr, die aller-, allerersten Anfänge dieser Demonstrationen miterlebt und von da das Gefühl gehabt: Auf der einen Seite ist die Friedlichkeit, auch das Spielerische, Niedliche an diesen Demonstrationen fassbar. Also, da wird mit Spielzeug demonstriert, da gibt es bestimmte Apparate, mit denen man künstlich klatschen kann und alles ist leicht und es gibt Garküchen, die für die Demonstranten bereitstehen – und dann fällt plötzlich der erste Schuss und alles wendet sich, und man hat das Gefühl, dieser tief sitzende Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen Intellektuellen und Bauern wird plötzlich gewaltsam. Das ist mit Buddha nicht vereinbar, aber offenbar gibt es im Moment Wichtigeres als Buddha und sogar als den König.

König: Dieser Konflikt, wie Sie ihn beschreiben, zwischen Stadt und Land – ist das nicht die Lesart, die immer noch sozusagen den früheren Premierminister Thaksin nachempfindet? Ist das wirklich so? Denn inzwischen kann man doch sagen, dass sich alle Köpfe der thailändischen Bürgerrechtsbewegung gegen Thaksin gestellt haben, auch Teile der Landbevölkerung, dessen Norden wie der ganze Süden des Landes sollen der Rothemd-Bewegung kritisch gegenüberstehen, in Bangkok haben wir die Gelben, die Königstreuen. Können Sie mir sagen, wo genau da mittlerweile die Frontlinien verlaufen, wer da wem gegenübersteht?

Willemsen: Also, wenn man nach dem Wesen eines Konflikts fragt, dann muss man immer erst nach dem Ursprung fragen, und der Ursprung – so recht Sie haben mit der Frage – hat sich erst mal so dargestellt, dass man gesagt hat: Thaksin war der Mann, der Reis in die Dörfer brachte, vor allen Dingen im Isaan, das ist der Nord-Osten, wo die Wanderarbeiter herkommen, wo die Bauarbeiter herkommen, die Mädchen aus der Stange kommen meistens aus dem Isaan. Und diese Leute werden traditionell in Thailand verspottet, die gelten als ungebildet, die sehen nur Soap-Operas, die lesen, wenn sie lesen, nur die Zusammenfassungen von Soap-Operas, und die gehen häufig ohne richtige Identität und Personalausweis durch Bangkok und arbeiten da. Und Thaksin hat die immer gefördert, und dafür haben die immer an Thaksin gehangen. Und auf der anderen Seite hat Thaksin durch viele korrupte Prozesse immer wieder es geschafft, an die Macht zu kommen beziehungsweise seine Leute an die Macht zu bringen. Dagegen sind die Gelben aufgestanden. Die Gelben standen für Intellektuelle und sie standen für Städter.

Und nun vermischen sich die Fronten etwas, weil beide Seiten zu einem Teil recht haben. Die Gelben sagen: Das ist eine Scheindemokratie, die ist aufgrund von Korruption zustande gekommen. Die Roten sagen: Das berechtigt euch aber nicht, unsere Stimmen zu ignorieren. Und so gibt es Anhänger der demokratischen Bewegung, die sagen: Nein, man muss jetzt für die Roten sein, und es gibt immer noch vernünftige Anhänger, auch ländliche Anhänger für die Gelben, die sagen: Aber diese Wahl ist durch Korruption zustande gekommen.

König: Sie haben vorhin so schön den spielerischen Charakter der ersten Demonstrationen beschrieben. Ich habe auch immer noch die Frage nach dem buddhistischen Bangkok im Hinterkopf. Was glauben Sie, jetzt ist das umgekippt – mit welchen Empfindungen, Gedanken, Meinungen haben Thailänder jetzt diese Bilder einer – wie es ja manchmal schien – brennenden Hauptstadt Bangkok gesehen?

Willemsen: Ich glaube, dass dieser Konflikt eben sehr, sehr lange schon schwelt. Bangkok hat, ich glaube, seit den 30er-Jahren ungefähr 20 Staatskrisen erlebt, und man soll dieses Bild, das wir haben vom immer friedlich lächelnden Thai, man soll das nicht überbewerten. Also, gerade der soziale Konflikt ist immer da gewesen und hat auch das Buddhistische schon überlagert teilweise, und auch der Widerspruch zwischen einer 13-Millionen-Metropole und der nächstgrößeren Stadt, die ungefähr eine Million Einwohner, glaube ich, hat, ist natürlich nicht zu leugnen. Dieser Konflikt besteht. Und da ist dann, ich weiß nicht, der Dienst im Tempel oder auch die Stimme des Königs, auf die man im Moment sehr wartet, nicht mehr verbindlich genug, und ich glaube, der Konflikt ist – auch wenn er im Moment wieder für zwei Tage lang ruht –, der Konflikt ist nicht ausgestanden und selbst Neuwahlen werden ihn so nicht lösen können. Wie sich das mit dem Buddhismus verhält in einer Stadt, in der der Taxifahrer noch die Hände vom Steuerrad nimmt, wenn er am Schrein vorbeifährt und sich dort mit dem Wai verbeugt – das ist für uns schwer nachvollziehbar.

König: Wenn Sie den König ansprechen: Man möchte ja meinen, es gibt im Moment keine moralische Autorität mehr in Thailand, denn der König hat sich, meines Wissens, auch nicht bisher nennenswert geäußert. Er ist jetzt 83 Jahre alt. Ist da noch eine moralische Autorität im Lande?

Willemsen: Er ist die moralische Autorität im Land und man hat, als er jetzt krank war, sehr befürchtet, er könne nicht mehr lange leben, und das könnte dem Konflikt einen geradezu gesetzeslosen Zustand geben. Wenn das passieren würde in diesem Augenblick, dann gibt es mindestens ein Jahr Staatstrauer. Die Gelben haben sich ja nicht umsonst gelb angezogen, weil das die Farbe Buddhas und die Farbe des Königs ist und der König hat ganz am Anfang Vertreter der gelben Bewegung auch empfangen und auch den Präsidenten empfangen und da implizit durch die Blume klargemacht, dass er eher auf der Seite der Gelben ist. Inzwischen fehlt jede Stimme des Königs schon seit einer ganzen Weile, das kann mit seiner Krankheit zu tun haben, es kann aber auch damit zu tun haben, dass dieser politische Konflikt sich auch zu einer Erschütterung der Monarchie auswächst.

König: Sie haben vorhin den Unterschied zwischen Stadt und Land beschrieben. Ist das auch der Gegensatz von arm und reich, der diesen Konflikt schürt?

Willemsen: Zu einem sehr guten Teile ja. Sehen Sie mal, die Freudenmädchen oder die Tänzerinnen, die Gogo-Bar-Frauen, das sind alles nicht die Personen eigentlich, die in Thailand am stärksten leiden: Es sind die Wanderarbeiter, es sind diese viele weit, weit unter dem Existenzminimum existierenden Leute aus dem Isaan, die irgendwie versuchen müssen, in der Stadt Geld zu verdienen. Und dieses Potenzial eines Sozialkonfliktes, das besteht einfach sehr lange, und die sind ohne Sprachrohr. Nehmen Sie noch die Wanderarbeiter aus Laos und Kambodscha und Myanmar dazu, die sich alle in dieser boomenden Großstadt drängen, nehmen Sie noch dazu, dass es eine Reiskrise gegeben hat und der Reis, das Hauptnahrungsmittel aller Armen, plötzlich eine Preissteigerung in immensem Ausmaß gemacht hat, der das Leben für die Armen einfach unerschwinglich gemacht hat, dann kann man sich vorstellen, dass das ein echtes, auch ökonomisches Pulverfass ist.

König: Es waren ja teilweise extreme Gewaltausbrüche, die wir im Fernsehen gesehen haben, die sich in Bangkok zutrugen. Es gibt in Thailand eine neue Droge, die Yaba heißt, die ist so Crack-ähnlich und führt zu solchen irrationalen Ausbrüchen. Spielt das auch eine Rolle bei diesen Exzessen?

Willemsen: Ja, das ist richtig. Das ist zunächst mal die Droge, also, eine synthetische Droge, ganz richtig, Crack-artig, die vor allen Dingen sehr kurz in ihrer Wirkung nur anhält und dann starke Aggressionsschübe nach sich zieht. Und man hat auch bei diesen ersten sogenannten Drive-By-Shooting – das war der erste Tote, den es jetzt bei den Demonstrationen gegeben hatte –, da hat man auch gesagt, das ist auf Yaba zurückzuführen. Ich habe von Zeit zu Zeit Leute gesehen, die diese Droge genommen hatten und das hat was Beängstigendes. Im politischen Konflikt, glaube ich, spielt sie die große Rolle nicht. Da sind zunächst mal Signale wichtiger. Und es gibt ja auch, ich meine, Söldner, von denen man sagt, dass sie angekauft sind. Man sagt, dass Thaksin, der frühere Präsident, der eine Art Phantom ist, diesen Konflikt finanziell gestützt hat und dass der auch an der Militarisierung dieses Konflikts interessiert ist. Und wenn Sie dann noch dazunehmen, dass das Militär selber gespalten ist und wir also auch von da keine Ordnungsmacht erwarten können, dann kann man sich vorstellen, wie tief dieser Konflikt eigentlich reicht.

König: Und wenn ich dann noch an das erinnere, was Sie über den König gesagt haben, dass er eben auch lange schweigt und eigentlich die moralische Autorität ist, aber sich nicht rührt, dann kann man verstehen, dass immerzu das Wort "Bürgerkrieg" am Horizont herumgeistert. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass es in Bangkok, vielleicht dann ausufernd im ganzen Land, zu einem Bürgerkrieg kommen könnte?

Willemsen: Ich halte die im Moment leider, leider, weil ich sehr an Bangkok hänge und viele Freunde dort habe, ich halte diese Gefahr für groß. Denn da der König offenbar sich nicht regen will und ich im Moment nicht mal hundertprozentig sicher wäre, wie seine Stimme aufgenommen würde – ich halte es sogar für möglich, dass er sich nicht rührt, weil er weiß, dass er ein halbes Land gegen sich aufbringen könnte, wenn er es täte –, dann sind doch die Signale dafür, dass man im Grunde ja an einer Kleinigkeit die letzten Verhandlungen hat scheitern lassen … Es sollte im November Neuwahlen geben, man hatte sich fast geeinigt und dann kam plötzlich dieses Detail, dass die Regierung gesagt hat und das Militär gesagt hat, da müssen aber die Roten zur Annahme des Kompromisses erst ihre Stellungen räumen, das haben die abgelehnt und daraus ist die jetzige Situation entstanden. Also, die Hilflosigkeit auf Regierungsseite ist so groß, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man jetzt die nächsten selbst Wahlergebnisse einfach akzeptieren würde.

Und noch eins vielleicht: Es sind ja zwei Nachfolger von Thaksin schon ins Amt gerufen worden, jeweils auf dem Wege eigentlich einer korrupten Machtmanipulation, und als man den zweiten nicht loswerden konnte, weil man ihn nicht einfach stürzen konnte, da hat dann das Gericht entschieden, er habe ja als Fernsehkoch gearbeitet und das sei eine illegitime Nebeneinkunft, und dann hat er sich verteidigt mit den Worten: Aber ich habe doch immer so gut gekocht und ich war doch der erste, der öffentlich kochte! Und so löst man in Thailand einen Konflikt, die Gerichte sagen plötzlich etwas, was vor den Augen der Öffentlichkeit stattgefunden hat, sei illegal gewesen, und dann ist der weg. Und diese friedlichen Lösungen, glaube ich, die wird es in Zukunft nicht mehr geben.

König: Bangkok nach den Unruhen, ein Gespräch mit dem Publizisten Roger Willemsen. Sein Buch "Bangkok Noir" ist bei Fischer erschienen. Herr Willemsen, ich danke Ihnen!

Willemsen: Ich danke Ihnen auch, Herr König!