"Ich hatte auch meine Vorurteile"

Hatice Akyün im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Autorin Hatice Akyün wollte eigentlich einen deutschen Traummann finden. Doch dann kam alles anders, als sie dem türkischen Ali begegnete. Sie habe zuvor natürlich auch "gewisse Klischees gelebt, die man so generell über türkische Männer hat", sagte Akyün.
Dieter Kassel: In diesem Sommer und Herbst hatte eine türkische Fernsehserie, die übrigens in der Türkei fast ein Flop gewesen ist, großen Erfolg in der arabischen Welt. Eine ganz simple Serie, wie wir sie auch aus dem deutschen Fernsehen kennen, Südamerikaner machen das besonders gut, einfach eine Daily Soap, bei der es um Liebe ging. Was herauskam, als diese Serie plötzlich zum Straßenfeger in vielen arabischen Ländern wurde, was da herauskam, war, dass die Vorstellungen, die Frauen von ihrem Traummann haben, in der arabischen Welt gar nicht so essenziell anders sind als die Vorstellungen, die wir aus der sogenannten westlichen Welt kennen, dass aber die Männer ebenfalls wie in der westlichen Welt diesen Vorstellungen oft genug nicht so richtig entsprechen.

Das hat wohl viele Jahre lang auch Hatice Akyün geglaubt, die in der Türkei geborene und in Duisburg aufgewachsene Journalistin und Autorin, ist aber inzwischen anderer Meinung, weil sie selber sehr glücklich mit einem türkischen Mann, den sie in Deutschland kennengelernt hat, zusammenlebt. Sie hat ihre Erfahrungen, was diese Geschichte angeht, in einem Buch verarbeitet. "Ali zum Dessert" heißt das Buch, und Hatice Akyün ist jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Tag!

Hatice Akyün: Guten Tag!

Kassel: Man kann das in wenigen Worten erklären, was Sie früher geglaubt haben. Es steht nämlich folgendermaßen wörtlich in Ihrem Buch: "Türken sind unzuverlässig, eifersüchtig, besitzergreifend und haben ein aufgeblasenes Ego." Wie gesagt, also wegen der Protestbriefe, das ist nicht von mir, das haben Sie gedacht und so aufgeschrieben.

Akyün: Jetzt haben Sie es aber aus dem Zusammenhang gerissen.

Kassel: Ich kann es erklären, das ist ein Moment, wo Sie Ihren jetzigen Lebenspartner schon kennengelernt haben und sich noch mal daran erinnert haben, warum Sie eigentlich mal was anderes dachten. Ist denn aber Ihr Ali einfach nur die Ausnahme von der Regel oder war das, was Sie früher gedacht haben, wirklich falsch?

Akyün: Na ja, ich bin ja auch nur ein Mensch, und auch wenn ich türkischer Herkunft bin, bin ich ja auch nicht frei von Vorurteilen. Ich hatte ja auch meine Vorurteile und habe natürlich auch gewisse Klischees gelebt, die man so generell über türkische Männer hat.

Ich habe ja ein wunderbares Paradebeispiel zu Hause, mein kleiner Bruder Mustafa. Der ist so Goldkettchenträger, 3er-BMW-Fahrer, ein Kilo Gel in den Haaren und einfach ein Macho. Auf der anderen Seite habe ich aber einen anderen Bruder, der etwas älter ist, Mehmet, der ist total anders. Der ist halt sehr zuverlässig und hat einen Job, arbeitet wirklich 16 Stunden am Tag. Es ist halt, jeder türkische Mann ist nicht gleich. Aber man hat so gewisse Vorstellungen. Und ich habe immer gedacht, erst mal stehe ich auf blonde Männer, auf große, blonde Männer mit blauen Augen.
Blaue Augen waren für mich immer, das musste einfach sein. Wenn Sie in einer Familie groß werden, wo es nur schwarze Haare und braune Augen gibt und die ganze Verwandtschaft nur aus Schwarzhaarigen und Braunäugigen besteht, dann entwickelt man irgendwann eine Sehnsucht nach dem blauäugigen, großen, blonden Mann.

Na ja, und in der türkischen Männerwelt sind die einfach sehr schwer zu finden. Und ich dachte immer, ich bräuchte einen deutschen Mann. Der hat mir aber auch nicht gereicht, der musste aber auch so eine türkische Seele haben, die türkische Leidenschaft haben, die Art und Weise, Komplimente zu machen zum Beispiel. Und das war der Hans mit scharfer Soße, so hieß ja auch mein erstes Buch.

Diesem Irrglauben bin ich ja jahrelang auf den Leim gegangen, und irgendwann habe ich mir überlegt, als ich dann Ali getroffen habe, du hast dein ganzes Leben lang nach dem falschen Mann gesucht. Weil jetzt habe ich einen Türken, der aber auch irgendwie deutsch ist, letztendlich so wie ich. Ich bin eine türkische Frau, türkischer Herkunft, bin aber im Grunde meines Herzens sehr deutsch. Und warum sollte es das nicht als Mann geben? Und Ali hat es mir wunderbar bewiesen, dass es das auch geben kann.

Kassel: Das klingt aber doch jetzt ein bisschen danach, als sei er eben die Ausnahme. Also ein typischer Türke ist er dann genauso wenig wie ein typischer Deutscher vermutlich?

Akyün: Es liegt wahrscheinlich daran, also er ist keine Ausnahme, weil es gibt natürlich in meinem Freundeskreis allein und wenn man sich mal so umschaut, auch viele türkische Männer, die auch genauso sind wie Ali. Bloß in die habe ich mich halt nicht verliebt. Also ich hatte gar nicht die Möglichkeit herauszufinden, ob sie anders sind, sondern ich habe halt von vorneherein gesagt, ein Türke kommt für mich nicht infrage, oder ich habe mich einfach nicht verliebt.

Und bei Ali war es ja so, dass, weil er Türke ist, ich es ihm wirklich sehr schwer gemacht habe. Er musste wirklich drei Monate um mich kämpfen, über drei Monate sogar. Und wenn er Deutscher wäre, hätte ich nicht eine Sekunde überlegt, weil er eigentlich von seiner Art her und als Mensch und auch mit seinen Eigenschaften genau ins Schwarze getroffen hat bei mir.

Und weil er aber türkischer Herkunft ist, habe ich gesagt, nein, das kann ja gar nicht gehen, wie soll denn das funktionieren. Ich hatte meine Vorbehalte. Er hat mir wirklich Stück für Stück all diese Vorurteile, die ich gegenüber türkischen Männern hatte, widerlegt. Und diese Szene oder diese Eigenschaften, die Sie ja gerade vorgelesen haben, er hat es ja dann irgendwann mal umgedreht, als ich ihm das gesagt habe. Ich habe gesagt, die türkischen Männer haben ein großes Ego und immer mit einem dicken Auto vorfahren und das Wort Bescheidenheit existiert für sie nicht.

Und er sagte dann, ja, ja, und türkische Frauen sind zickig und werden dick nach der Hochzeit. Da habe ich gesagt, Moment mal, ich bin auch Türkin, wie kannst du so was behaupten? Und letztendlich hat er mit so Kleinigkeiten mir auch so den Spiegel vorgehalten und gezeigt, dass Klischees halt manchmal nicht stimmen.

Kassel: Klischees stimmen manchmal nicht, aber ist nicht das, Sie haben es ja selber so genannt, das Vorurteil, das auch Sie unter anderem im Kopf halten, dass, auch wenn es bei manchen gut gemeint ist, dass türkische Männer oft schon etwas Machohaftes ja haben und glauben, aber dieser kleine Weg von den Komplimenten, das haben Sie ja selber gesagt, die Sie sehr genießen und die auch Ihr Mann, ich nenne ihn jetzt mal so (…) bis hin zu diesem Beschützerinstinkt, der dann noch ein bisschen weitergedreht eine Frau auch unfrei machen kann. Der ist nun aber in der Tat doch immer noch verbreitet?

Akyün: Natürlich gibt es auch diese Fälle. Ich kann ja schlecht von den türkischen Männern sprechen, weil ich kenne sie nicht alle. Diese Geschichten, die wir auch immer wieder hören und auch in den Zeitungen lesen und durch die Medien erfahren, das sind ja keine Erfindungen, das sind ja keine Märchen. Es gibt ja Frauen, die auch unter ihren Ehemännern leiden. Es gibt ja türkische Frauen, die in Frauenhäuser flüchten, weil sie von ihren Ehemännern auch geschlagen werden.

Ich bin ja jetzt gar nicht aufgetreten oder ich bin ja nicht hier, um zu sagen, das sind alles Märchen, das gibt es gar nicht, sondern was ich wollte, ist einfach, mit meinem Leben und mit meinen Erfahrungen, die ich mit einem türkischen Mann auch gemacht habe, einfach diese Normalität eines deutsch-türkischen Lebens hier in Deutschland, einfach das Bild einer türkischen Familie oder das Bild eines türkischen Paares zu vervollständigen. Zu sagen, o.k., es gibt die Tragödien, es gibt auch die Dramen, es gibt die Familien, wo es nicht funktioniert, wo die Ehemänner wirklich die großen Machos spielen und ihre Ehefrauen vielleicht auch schlagen, aber es gibt auch Familien, wie wir es sind, ganz normal, und die ganz selbstverständlich in diesen beiden Welten leben.

Kassel: Aber die Frage ist natürlich immer, woher es kommt. Sie beschreiben ja ein bisschen auch das Elternhaus von Ali, was Sie da kennengelernt haben persönlich und was er Ihnen erzählt hat. Und Sie haben selber gerade gesagt, Sie haben aber auch in Ihrer Familie Brüder und Cousins, die vielleicht nicht gerade irgendwelche Frauen schlagen, aber einigen wir uns auf, die doch ziemlich große Chauvis sind oder zumindest sein können. Was macht denn diesen Unterschied? Ist es die Erziehung, ist es Zufall?

Akyün: Soll ich Ihnen mal was sagen? Ich habe in meinem Freundeskreis auch deutsche Männer, die absolute Chauvis sind, glauben Sie mir. Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen: Ich bin ja gerade Mutter geworden, und meine langjährige Freundin, eine Deutsche, mit einem deutschen Rechtsanwalt verheiratet, ich hoffe, dass sie mich jetzt nicht hört, aber ich werde jetzt keine Namen nennen.

Und als wir unsere Tochter bekommen haben, war ganz klar, dass Ali sich die Vaterzeit nimmt, dass wir uns sozusagen diese Elternzeit, die ja damals eingeführt wurde, auch teilen. Dass er gesagt hat, du hast auch einen Beruf und natürlich möchtest du auch deinem Beruf nachgehen, und das ist selbstverständlich, dass wir uns diese 14 Monate teilen. Der Mann meiner langjährigen deutschen Freundin hat gesagt: Wie stellst du dir denn das vor? Sie ist Lehrerin, er ist Rechtsanwalt. Sie war auch lange Jahre berufstätig. Wie stellst du dir das vor, was soll ich denn meinem Chef sagen, ich kann doch nicht zu Hause bleiben? Und das war ganz selbstverständlich, dass er arbeiten geht, also dass er nicht zu Hause bleibt, nicht mal diese zwei Vatermonate. Und sie hat wirklich echt mal neidisch auf Ali geschaut, weil sie gedacht hat, es ist unglaublich. Es kommt nicht darauf an, welche Herkunft ein Mann hat, sondern wie er im Kopf tickt, was er für ein Selbstverständnis hat, wie viel Respekt er auch vor dem Beruf der Frau hat.

Und er dachte halt, na ja, als Rechtsanwalt, da verdient er vielleicht was mehr Geld, und als Lehrerin, er hat sowieso nicht so großen Respekt gehabt, wo er gesagt hat, du hast ja eh die ganze Zeit Ferien, du arbeitest ja eh nicht so viel. Und dass er dann einfach gesagt hat, na ja, ist ganz klar, ich gehe wieder arbeiten und du bleibst zu Hause. Und ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: Man sagt ja immer, türkische Männer, die haben ein Problem damit, dass die Ehefrauen erfolgreich sind oder dass die Ehefrauen vielleicht mehr Geld verdienen.

Ich habe irgendwann mal Ali gefragt, jetzt mal ganz im Ernst, wirklich, wir sind ja jetzt hier unter uns: Hast du ein Problem damit, dass ich mehr Geld verdiene als du? Da schaut er mich an und sagt: Verdiene noch mehr, dann brauche ich nicht mehr zu arbeiten. Also Sie sehen, das Klischee des türkischen Mannes bröckelt auch. Es kommt wirklich darauf an, wie ein Sohn auch erzogen wurde. Und ich kenne ja seine Mutter sehr, sehr gut. Es gibt noch eine Tochter, die ist ein paar Jahre jünger als Ali. Sie durfte zu Hause zum Beispiel immer viel mehr, mit der Begründung der Mutter: Meiner Tochter kann ich vertrauen, dir nicht.

Kassel: Frau Akyün, ich höre das sehr gerne, und ich glaube es Ihnen alles, und Männer, deutsche Männer, also urdeutsche Männer, welcher Pass auch immer, die große Probleme damit haben, dass ihre Frau mehr Geld verdient, kenne ich eine Menge. Aber wollen Sie denn wirklich sagen, dass diese Debatte, die ja geführt wird, meinetwegen unter Deutschen, hoffentlich zum Teil auch unter türkischstämmigen Deutschen, die Debatte, die geführt wird, die so ein bisschen den Tenor ja doch hat, dass türkische Männer, egal, ob es nun was mit der Religion zu tun hat oder womit auch immer, generell weniger emanzipiert sind als andere, dass diese Debatte ausschließlich auf Vorurteilen beruht?

Akyün: Nein, auf gar keinen Fall. Natürlich gibt es Familien, die genau so ticken, wie Sie es gerade beschrieben haben, der Mann hat zu Hause das Sagen, die Frau hat sich dem zu fügen. Darum geht es ja auch gar nicht in meinen Büchern, und auch das, was ich auch sagen möchte. Es wäre doch schon wunderbar, wenn wir als Familie als Beispiel dastehen können, wenn andere türkische Familien, wo es vielleicht nicht so emanzipiert zugeht, sie sich einfach auch ein Beispiel daran nehmen können.

Und was natürlich ganz, ganz wichtig ist: Ich habe ja jetzt eine kleine Tochter, und ich weiß ja, wie viel Verantwortung jetzt in meinen Händen liegt. Ich bin ja jetzt dafür verantwortlich, dass meine Tochter irgendwann eine selbstbewusste, emanzipierte Frau werden wird. Und wenn ich jetzt irgendwann doch noch den Sohn bekommen sollte, werde ich natürlich darauf achten, dass mein Sohn nicht der kleine Chauvi wird. Es ist immer schwierig, ich kann natürlich nicht, ich kann die Welt nicht verändern, ich kann diese Familien, in denen es die Probleme gibt, nicht verändern, aber ich kann vielleicht mit einem guten Beispiel vorangehen und sagen: Guck mal, wir kommen auch aus einem ganz kleinen anatolischen Dorf und Alis Eltern auch, und wir sind auch Gastarbeiterkinder hierher, und unsere Eltern sind keine gebildeten Menschen, und wir kommen nicht aus der intellektuellen Familie aus Istanbul, wir sind ganz einfache Menschen.
Und trotzdem hat es auch bei uns funktioniert. Und es kann funktionieren. Und dass man einfach, ja, mit gutem Beispiel vorangeht. Wenn man dann ein paar Leute erreicht, dann ist es immer noch mehr, als wenn man irgendwie gar nichts tut.

Und wir reden natürlich auch sehr viel in unserem Freundeskreis darüber. Und schauen Sie, meine Eltern, die sehen ja auch, wie wir jetzt leben. Das hätten sie sich vor 20 Jahren niemals vorstellen können, dass irgendwie ihre Kinder mal so ein Leben leben. Dass die Frau arbeiten geht, dass der Mann arbeiten geht. Meine Mutter, die schlägt die Hände über den Kopf und sagt, warum gehst du denn wieder auf Reisen – ich bin momentan auf Lesereise –, du musst doch bei deinem Kind sein, dein Kind ist doch noch so klein. Sie hat natürlich ein sehr, ja, dieses Rollenverständnis, Mann geht arbeiten, Frau bleibt zu Hause. Aber natürlich weiß sie auch, dass die Welt sich verändert. Und es gibt ja auch den finanziellen Aspekt. Und viele türkischen Männer müssen ihre Ehefrauen zur Arbeit schicken, weil einfach das Geld nicht reicht.

Kassel: Manche Deutsche auch, aber das ist ein anderes Thema. Frau Akyün, Sie haben es gesagt, Sie sind auf Lesereise. Ich glaube morgen noch mal ein zweiter Auftritt in Berlin, dann, man kann das auf Ihrer Homepage Akyün dann mit "ue" geschrieben wegen Internet auch nachgucken.

Ich weiß, die nächsten Städte, ich sage es mal allgemein, sind dann Bremervörde, Frankfurt am Main und Hannover, aber danach geht es noch lange, lange weiter. Das Buch heißt "Ali zum Dessert", ist bei Goldmann erschienen und natürlich auch überall erhältlich. Ich wünsche Ihnen viel Glück mit der Arbeit und der Familie, und da ich weiß, Ihr Mann macht entfernt so was Ähnliches wie wir hier gerade, muss ich sagen, das passiert halt, dass man da wenig verdient, geht auch wieder vorbei. Danke, dass Sie bei uns waren.

Akyün: Dankeschön!