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Ukrainerinnen in Berlin
Mariia möchte mehr tun als demonstrieren. Sie überlegt sogar, in die Ukraine zu fahren, um vor Ort zu helfen. © Deutschlandradio / Maximilian Brose
"Wir müssen alles dafür geben, dass die Ukraine bleibt"
05:59 Minuten
Was ist in den letzten Tagen in den Menschen vorgegangen, die aus der Ukraine kommen und um ihre Angehörigen fürchten? Maximilian Brose hat zwei Ukrainerinnen, die in Deutschland leben, vier Tage begleitet.
12:00 Uhr mittags in Berlin am vergangenen Donnerstag. Seit der Nacht lässt Wladimir Putin die Ukraine angreifen. Tag eins in einem Krieg mitten in Europa. Vor dem Brandenburger Tor demonstrieren Hunderte Menschen, schwenken ukrainische Flaggen, halten Plakate. Auf einem steht „Donbass is Ukraine“. Es gehört Mariia Selemenko, deren Eltern und viele Freund:innen in Kiew leben.
„Meine Eltern haben jetzt auch schon die Koffer gepackt. Aber sie bleiben erstmal ruhig. Sie kommen aus Donezk, sie haben das schon acht Jahre erlebt, das tut mir sehr leid, dass sie das jetzt wirklich wieder erleben müssen.“ (*)
Über Lautsprecher rufen Aktivisten und Aktivisten der Gruppe „Vitsche Berlin“ zu Solidarität mit der Ukraine auf. Dahinter läuft Iryna mit einem weißen Smartphone in der Hand.
Ein Bekannter von Iryna unterbricht unser Interview – Russische Truppen sollen jetzt nahe der Hauptstadt stehen. Iryna tippt mit zitternden Händen ihre Nummer in mein Telefon. „Ich würde jetzt noch mal meine Schwester versuchen zu erreichen, und meine Freunde, um zu sehen, ob sie in Sicherheit sind", sagt Iryna.
Zwischen Fassungslosigkeit und Aktivismus
Um uns herum liegen sich immer wieder Menschen in den Armen, schwanken zwischen Fassungslosigkeit und Aktivismus, singen ukrainische Lieder.
Am Freitagmorgen fliehen Irynas Schwester und Familienmitglieder von Mariia mit ihren Autos aus Kiew. Nach acht Stunden haben Mariias Angehörige erst 200 Kilometer geschafft. Ihr Ziel, die Karpaten ganz im Westen des Landes, ist noch weit entfernt.
Kriegsberichterstattung in Dauerschleife
Samstagmorgen – 11 Uhr. In Mariias Altbauwohnung steht ein Tablet neben dem gedeckten Frühstückstisch. Die Nachrichten zeigen in Dauerschleife Kriegsszenen aus ihrer Heimat – darunter ein Wohnhaus, das von Raketen getroffen wurde.
Ihr Freund sitzt auch mit am Tisch. Über andere Themen zu reden – fast unmöglich. Denn immer wieder ziehen Mariia neue Mitteilungen aus ukrainischen Nachrichtenportalen oder aus Telegram-Gruppen auf ihrem Smartphone in den Krieg. Plötzlich ruft ihre Mutter an.
Mariia stellt ihr Handy auf laut und fasst zusammen, was ihre Mutter dazu sagt, wie sich die Menschen im Land nach drei Tagen Krieg fühlen: „Manche empfinden Hass, manche machen sich Sorgen. Aber eines empfinden wirklich die meisten Leute, mit denen meine Eltern sprechen, und das ist: Wir müssen alles dafür geben, dass die Ukraine bleibt, und wenn das nicht passiert, hat das Land unter Russland einfach keine Zukunft.“
Mariia ist nach dem Gespräch erschöpft. Wir machen eine Aufnahmen-Pause. Später erzählt sie mir, dass sie in Internetgruppen ihre 60-Quadratmeter-Wohnung als Zuflucht für Flüchtende anbietet. Sie hat trotzdem das Gefühl, zu wenig zu tun. Dabei stehen im Hausflur schon die Schilder für die Demos am Sonntag.
Eine davon wird Samstagabend in einer ukrainischen Bar in Kreuzberg geplant. In einem Hinterzimmer sitzen Dutzende junge Ukrainer:innen auf Sofas und Barhockern, vertieft in ihre Laptops, so auch Iryna, die an Pressemitteilungen feilt. „Ich war so durch gestern und habe das Gefühl: Oh mein Gott, ich muss irgendwie weiter etwas machen. Ich habe das Gefühl, ich kann mir nicht leisten, jetzt schlafen zu gehen.“
Stolz auf die Menschen in der Ukraine
Irynas Schwester ist in den frühen Morgenstunden bei Ihren Eltern südlich von Kiew angekommen. Das beruhigt sie zwar, doch sie macht sich Sorgen um ihren Vater. Der ist im zivilen Widerstand. Gleichzeitig ist Iryna stolz auf ihre Familie und Freunde und Freundinnen, die alle in der Ukraine ihrem Land helfen.
Sie kann von hier aus Spenden organisieren, Wohnungen für Geflüchtete suchen und protestieren. Heute Abend bereitet sie eine der Demos vor, die am Sonntag in Berlin stattfinden.
Demonstration gegen den Krieg
Über 100.000 Menschen ziehen gegen den Krieg durch die Innenstadt. Hier treffe ich Mariia wieder. Sie trägt einen ukrainischen Blumenkranz mit bunten Stoffbändern. Mittlerweile droht Putin mit Atomraketen. Als wir uns durch die Menge drängen, erzählt sie mir, dass es nahe der Stadt, in der ihre Großmutter wohnt, Explosionen gegeben hat.
Mariia denkt manchmal: Demonstrieren allein reicht ihr nicht. Am vierten Tag des Krieges spielt sie sogar mit dem Gedanken, selbst in die Ukraine zu fahren und vor Ort zu helfen.
(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben den zeitlichen Zusammenhang eines O-Tons korrigiert.
(maw)