"Ich mag meine erfundenen Figuren lieber als mich selbst"

Von Sigrid Brinkmann · 30.03.2011
Sein Buch "Wenn es ein Paradies gibt" katapultierte den Tel Aviver Autor Ron Leshem binnen kurzer Zeit an die Spitze der Bestsellerautoren, die Verfilmung wurde mit einem Silbernen Bären auf der Berlinale gekürt. Nun ist die deutsche Übersetzung von Leshems zweitem Roman unter dem Titel "Der geheime Basar" erschienen.
Sein Gang ist federnd leicht, die Ausstrahlung jungenhaft. Ron Leshem hat einen langen Arbeitstag am Set für eine Dokudrama-Serie vor sich. Es ist sein Skript, das verfilmt wird, und er will dabei sein. Deshalb treffen wir uns morgens um neun in einer ruhigen Straße und setzen uns auf die erstbeste Parkbank.

"Das Schreiben eines Romans bedeutet Einsamkeit, und jetzt habe ich einen Stab von ungefähr 300 Leuten um mich: Schauspieler, Regisseure, Produzenten. Du fühlst dich plötzlich wieder lebendig. Zwei, drei Jahre lang allein mit dem Schreiben zuzubringen, ist eine ziemlich ungesunde Sache."

Ron Leshem wohnt allein in einem Haus am Rand von Tel Aviv, in einer ruhigen Gegend, wo höchstens die Schreie der wilden Tiere aus dem naheliegenden Safari Park zu ihm dringen. In seinem Alter, mit 35 Jahren, keine eigene Familie zu haben, ist in Israel eher unüblich. Er hat es früh darauf angelegt, Karriere im Print-und Fernsehbusiness zu machen. Mit 24 Jahren hatte er die erste Leitungsposition in einer großen Tageszeitung.

Wie ein Streber wirkt er nicht, aber dass alles so glatt lief, wurde ihm selbst irgendwann ein bisschen unheimlich. Dazu kam das Gefühl, etwas Wesentliches verpasst zu haben. Alle alten Freunde hatten nach dem Militärdienst mindestens ein ganzes Jahr in Südamerika, Indien oder Neuseeland verbracht, bevor sie ihrem Leben eine Richtung gaben. Ron versuchte, etwas nachzuholen.

"Ich bin nach Bolivien geflogen und habe wirklich daran geglaubt, dass ich nackt in den Kokafeldern herumrennen und den ganzen Tag lang Sexorgien feiern würde, aber als ich ankam, war ich nur der Typ, der seinen Trolly hinter sich herzieht, sich mit Anfang 30 sehr alt fühlt, ständig über Moskitos jammert und den Dreck in den Straßen nicht erträgt. Plötzlich begriff ich, dass es stimmiger wäre, ins nächste Flugzeug nach Rom zu steigen, mich in einem Fünf-Sterne-Hotel einzuquartieren, die Jalousien herunterzulassen und darüber zu schreiben, wie ich nackend durch ein Kokafeld laufe. Ich mag meine erfundenen Figuren lieber als mich selbst. Durch das Schreiben zu leben, gibt mir einfach mehr Kraft."

Er wirkt nicht wie ein Schauspieler, aber das Hineinschlüpfen in fremde Identitäten ist für Ron Leshem ein Lebenselixier. In jeder Geschichte, die er schreibt, entdeckt er verborgene Leidenschaften und Menschen, die hungrig nach Zuneigung und Liebe sind, und das ist das gemeinsame Band.

Während einer nächtlichen Schreibblockade hatte er plötzlich die Idee, über Facebook herauszufinden, ob junge Iraner Israelis tatsächlich so sehr hassen, wie die Medien dies immerzu behaupten.

"Ich habe Kontakt zu hundert Iranern gesucht und nichts weiter gemacht, als den Button "Freundschaftsanfrage" zu drücken. Als ich morgens aufwachte, stellte ich fest, dass mir genau hundert Leute geantwortet hatten. Sie schrieben Briefe, schickten Songs, stellten Fragen. Mit vier von ihnen habe ich mich richtig angefreundet. Wir haben jede Nacht gechattet, und irgendwann bin ich jedem Einzelnen auch wirklich begegnet."

Heimlich fanden diese mühsam arrangierten Treffen statt, auf einem anderen Kontinent, weit weg von Zuhause. Ron Leshem hat zwei Jahre lang jede Nacht gechattet und tagsüber an seinem Roman "Der geheime Basar" gearbeitet. Seine Teheraner Freunde versorgten ihn mit dem nötigen Detailwissen über die Untergrundszene, in der junge Leute verbotene Bücher und Drogen handeln, exzessive Sexparties feiern und Menschen ihre Flucht aus dem Land vorbereiten.

"Ich war besessen davon, den Alltag im Iran möglichst genau zu schildern, aber es ging mir die ganze Zeit auch darum, zu zeigen, wie einfach es ist, sich an alles zu gewöhnen. Die weltlich eingestellte, liberale israelische Gesellschaft soll sich da nichts vormachen. Wir gleiten doch jeden Tag ein bisschen mehr ab in eine gefährliche Lage. In 20 Jahren leben wir hier vielleicht selber in einem Gottesstaat."

Die Israelis, sagt Ron Leshem, hätten überhaupt nicht wahrnehmen wollen, dass er ihnen den Spiegel vorhalte. Ständig würden neue, religiös begründete, rassistische Gesetze erlassen. In der "Blase" Tel Aviv wird zu selten protestiert gegen den zunehmenden Einfluss der militanten Orthodoxen, und er wagt tatsächlich diese dunkle Prophezeiung:

"Each one of us will find himself being hunted on the streets!"

Sich iranische Verhältnisse in Israel vorzustellen, das ist für Ron Leshem keine Spinnerei. Manche israelische Literaturkritiker halten den smarten Ron Leshem für einen Entertainer, dem es zu sehr darauf ankommt, Mitgefühl zu erwecken. Mir tritt er als Aufklärer entgegen, wütend, ein wenig frustriert, aber immer zugewandt. Vielleicht liegt es am Zwiegespräch. Zum Sprachrohr taugt er nicht, aber ist er weniger glaubwürdig, weil er die Bekenntnisse auf großer Bühne scheut?

"Ich schreibe für Zeitungen, wenn ich etwas zu sagen habe oder wenn Leute mich drängen, Position zu beziehen, aber ich fühle mich danach immer schmutzig. Ich beziehe lieber politisch Stellung, indem ich Geschichten erzähle. Das bin ich, und das ist meine Rolle."