"Ich möchte das Gesamtprodukt sehen"

Viola von Cramon, Obfrau der Grünen im Sportausschuss des Bundestages, will den gesamten Doping-Bericht sofort einsehen.
Viola von Cramon, Obfrau der Grünen im Sportausschuss des Bundestages, will den gesamten Doping-Bericht sofort einsehen. © Deutschlandradio - Hendrik Maaßen
Moderation: Klaus Pokatzky |
Die Obfrau der Grünen im Bundestags-Sportausschuss, Viola von Cramon, ist überrascht, dass die Ergebnisse der Studie über Doping in Deutschland als so neu empfunden werden. Der eigentliche Skandal sei, dass die Studie nicht sofort vollständig veröffentlicht werde.
Klaus Pokatzky: Das konnte man alles wissen – das hat zu der schlagzeilenträchtigen Studie über Doping in Deutschland von 1950 bis heute Hansjörg Kofink der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gesagt, Hansjörg Kofink, der ehemalige Frauenbundestrainer im Kugelstoßen. Fazit der Studie: Doping ist in der alten Bundesrepublik mit Steuergeldern finanziert worden. Im Bundesinstitut für Sportwissenschaft, das seit seiner Gründung 1970 dem Bundesministerium des Innern untersteht, sind laut der Studie jahrzehntelang die Fäden für Forschungsprojekte mit zahlreichen leistungsfördernden Substanzen zusammengelaufen. Viola von Cramon ist Obfrau der Grünen im Sportausschuss des Deutschen Bundestages, guten Tag!

Viola von Cramon: Ja, guten Tag, hallo!

Pokatzky: Frau von Cramon, haben Sie das auch alles gewusst, was jetzt in der Studie steht?

von Cramon: Also, ich würde es mal so zusammenfassen: Die Dopingproblematik in Deutschland ist wie so ein Puzzle, und langsam setzen sich oder setzen wir die Einzelteile zusammen. Ich denke, spätestens seit der Pressekonferenz des zweiten Zwischenberichts dieser besagten Studie, und das war im September 2011, hatten wir schon einen ziemlich guten Einblick, wie auch die Dopingpraktiken in der alten Bundesrepublik waren. Und ich bin ein bisschen erstaunt, und da kann ich mich Herrn Kofink auch nur anschließen, dass das jetzt so als brandneu verkauft wird. Sicherlich gab es im dritten Teil der Studie, den wir jetzt noch nicht kennen, also das heißt, nach 1989, noch weitere Details, noch weitere Einzelheiten, aber das System als solches, dass es Aufträge von oben gab, dass es eine politische Verantwortung gab, dass es Sportmediziner gab, die mit krimineller Energie unterwegs waren zulasten der Gesundheit von Athletinnen und Athleten, das ist alles längst bekannt.

Pokatzky: Das ist aber dann offenbar nicht in dem Maße in der Öffentlichkeit vorgedrungen und bei mir, dem ganz normalen Medienkonsumenten, angekommen, denn sonst hätte das, was wir jetzt in den letzten Tagen an Schlagzeilen erlebt hätten, doch nicht so ein Aufsehen erregen können?

von Cramon: Ja, das finde ich auch interessant, wie Medienaufmerksamkeit gelenkt werden kann. Und ich glaube, was jetzt besonders brisant ist, und darum geht es ja: Warum wird der Gesamtbericht nicht veröffentlicht? Punkt. Warum bekommen wir als Abgeordnete im Deutschen Bundestag, als Auftraggeber, als Geldgeber dieser Studie – Klammer auf, es sind mehr als 550.000 Euro ausgegeben worden, Klammer zu, die Forscher haben fünf Jahre lang an dieser Studie gearbeitet –, warum bekommen wir diese Studie vorenthalten? Der Grund mag tatsächlich dort sein mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben, vielleicht war er aber auch nur kreiert, Haftungsausschüsse et cetera pp., es wurden Gründe gefunden, warum die Studie nicht veröffentlicht wurde, und das ist natürlich schon eine gewisse – sagen wir – Neuheit, die man auch medienmäßig durchaus hochziehen sollte.

Pokatzky: Aber angekündigt wurde doch, dass heute im Laufe des Tages dieser Bericht auf der Homepage sich wiederfindet.

von Cramon: Das wäre mir absolut neu. Der Bericht umfasst 800 Seiten, es ist angekündigt worden, eine Kurzversion, eine Zusammenfassung mit einigen Auszügen, die aus Sicht des Bundesinnenministeriums die wichtigsten Fakten enthalten sollen, auf die Homepage gestellt wird. Aber Sie können mir doch nicht erzählen, dass ich als Abgeordnete weitere Monate, möglicherweise Jahre, warten muss, bis ich die Studie an sich sehen kann. Wir haben natürlich die Zwischenberichte, wir haben die Pressekonferenzen gehört, wir haben einige Zitate gesehen, aber ich möchte das Gesamtprodukt sehen, wofür wir gezahlt haben, und wofür wir auch den Auftrag gegeben haben. Das muss Ziel der Diskussion sein, das muss Gegenstand Diskussion sein.

Pokatzky: Was können Sie jetzt bei der ablaufenden Legislaturperiode überhaupt als Mitglied des Sportausschusses noch tun, um hier das Bundesinnenministerium unter Druck zu setzen?

von Cramon: Na ja, also das, was wir schon die ganze Zeit machen, ist natürlich, wir stellen schriftliche Fragen. Wir bereiten jetzt gerade wieder eine Anfrage an die Regierung vor, die Ende der Woche, vielleicht sogar früher, bei der Regierung eingeht, wir haben weitere schriftliche Fragen vorbereitet, das heißt, wir versuchen schon, unsere parlamentarische Kontrolle auch wahrzunehmen. Wir brauchen aber, wie Sie wissen, politische Mehrheiten. Und wenn Sie sich jetzt mal genau umgucken im Sportausschuss, dann sehen Sie, dass die politischen Mehrheiten bei dem Thema nicht reichen. Und da können Sie vielleicht an die Abgeordneten, oder mal bei den Abgeordneten fragen, die weniger kritisch sind und die vielleicht nicht so erpicht sind auf die Veröffentlichung, warum das der Fall ist. Also, das heißt, wir haben absolute zeitnahe Veröffentlichung der Studie gefordert, wir haben Offenlegung der Namen gefordert. Welche Projekte sind in diesen besagten Zeiträumen nach der Gründung des Bundesinstitutes für Sportinstitutes für Sportwissenschaften gefördert worden, mit welchem Ziel sind sie gefördert worden, mit welchen Summen sind sie gefördert worden? Wir haben aber auch gesagt, dass der zuständige Sportminister, also unser Bundesinnenminister Friedrich, die politische Verantwortung übernehmen muss. Er muss der erste Anti-Doping-Kämpfer im Staat sein. Er muss sich dafür stark machen, dass diese Veröffentlichung erfolgen wird – der Punkt ist, er hat noch gar nicht die Bedeutung der Studie verstanden. Das ist vermutlich eben auch ein Problem in dieser ganzen Geschichte.

Pokatzky: Oder er setzt andere Prioritäten, weil der Innenminister, der ja immer auch Sportminister ist, ein ganz erhebliches Interesse daran hat, Deutschland bei den Medaillenrängen gut dastehen zu lassen.

von Cramon: Sicherlich, er steht in der Nachfolge vieler Kollegen, die mitunter auch die Unterschrift gesetzt haben unter diese Forschungsaufträge, die auch vor den Olympischen Spielen in München, in Montreal, diese Leitlinie ausgegeben haben, wir wollen hier gleiche Rahmenbedingungen wie die Athletinnen und Athleten im Osten, und das bedeutet natürlich, dass das zu dem Zeitpunkt auch mit leistungssteigernden Mitteln war. Die haben natürlich ganz klar gesagt, dass hohe Medaillenziele auch das Ziel der alten Bundesrepublik waren, und damit gab es eine klare Vorgabe. Und möglicherweise sind eben viele dieser Vorgänger – nicht möglicherweise, sondern die meisten dieser Vorgänger sind noch am Leben und möchten vielleicht nicht unbedingt ihre Namen in diesem Zusammenhang in der Zeitung lesen.

Pokatzky: Welches Selbstbildnis des Sports liegt der Dopingpraxis zugrunde? Der Kugelstoßer Udo Beyer hat ja den Satz geprägt: Der Zweite ist der erste Verlierer. Also Aspekte wie Fairness, überhaupt so etwas wie ein sauberer Wettbewerbsgedanke – kann der in einem solchen Klima überhaupt gedeihen?

von Cramon: Ich glaube, das muss man schon immer von den einzelnen Athletinnen und Athleten abhängig machen. Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, dass die Menschen, die Athletinnen und Athleten, die in Endkämpfen am Start sind, dass die alle durchweg gedopt sind. Der Verdacht liegt natürlich mittlerweile nahe, aber wenn man mit jungen Athletinnen und Athleten spricht, dann würde ich schon davon ausgehen, dass die ganz genau wissen, welches Risiko sie eingehen, und dass man da auch schon auf die fairen Wettbewerbsbedingungen setzt und auf die eigene Leistung setzt. Aber sicherlich, klar, damals gab es den Kalten Krieg, es gab den Systemvergleich, es herrschten andere Bedingungen, und offensichtlich war eben auch im Westen den Sportmedizinern jedes Mittel recht.

Und ich meine, die Todesfälle, die wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten an Spitzenathleten, die sind ja auffällig hoch. Also da ist natürlich der Verdacht naheliegend, dass eine chronische Einnahme von Anabolika, von Wachstumshormonen et cetera pp., dass das eine extrem gesundheitsschädliche Wirkung hat, und all das hat man gewusst. Oder diese Humanexperimente, die jetzt eben in dem dritten Teilbericht auch rausgekommen sind – also man hat mit Insulin und mit Wachstumshormonen, in dem Fall Somatropin, geforscht. Und natürlich weiß man, dass das eine unglaublich schädliche, langanhaltend schädliche Wirkung hat, und man hat es dennoch gemacht, ohne teilweise die betroffenen Athleten darüber aufzuklären, und das ist grob fahrlässig und kriminell. Und das muss jetzt noch geahndet werden.

Pokatzky: Aber das kann ja teilweise gar nicht mehr geahndet werden, weil da Verjährungsfristen eingesetzt sind. Der Pharmakologe Fritz Sörgel wird in der "Frankfurter Allgemeinen" zitiert, nachdem er den 800-Seiten-Bericht, also offenbar vollständig, studiert hat: Ob man die hochbetagten Funktionäre und Sportärzte zu einer Äußerung oder gar einem Geständnis wie bei Zabel oder Armstrong bringen kann, bezweifle ich. Das heißt also, es käme dann noch nicht einmal so ein Versuch der Aufarbeitung des Ganzen.

von Cramon: Also vielleicht zwei Punkte dazu: Das eine ist die strafrechtliche Aufarbeitung. Da setzten Verjährungsfristen ein, das ist sicherlich richtig. Da ist es jetzt schwierig, juristisch ranzugehen, aber die politische Aufarbeitung – und das ist ja der Punkt, weswegen es überhaupt zu der Auftragsvergabe an die Historiker kam –, der muss natürlich, die politische Aufarbeitung, die muss natürlich jetzt erfolgen, und die ist möglich. Wenn ich zum Beispiel daran denke, dass viele Sportfunktionäre mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, Herr Keul vorne ran, aber viele andere auch, kann man da jetzt nicht mal sukzessive herangehen und diese Aberkennung vornehmen von Auszeichnungen der Bundesrepublik? Vieles andere kann man deutlich ambitionierter angehen, wenn man es denn wollte.

Pokatzky: Ist der Sportausschuss des deutschen Bundestages das richtige und effektive Gremium, um so etwas überhaupt aufzuklären, kritisch zu begleiten?

von Cramon: Selbstverständlich ist er das. Er ist sportfachlich genau dafür zuständig – ich hatte eben schon angedeutet, dass ich manchmal die Zweifel habe, ob die politischen Mehrheiten das genau so sehen wie ich. Aber natürlich ist er das Gremium, und wir sollten uns das auch nicht aus den Händen nehmen lassen. Und daher plädiere ich sehr, dass wir das noch in dieser Legislatur, das heißt, am Rande der Sondersitzung des Bundestages, Anfang September zu behandeln. Und ich hoffe, dass Herr Bundestagspräsident Lammert uns diesen Antrag genehmigen wird.

Pokatzky: Danke, Viola von Cramon, Obfrau der Grünen im Sportausschuss des Deutschen Bundestages!

von Cramon: Ich danke Ihnen auch, Herr Pokatzky, und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!


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