"Ich nehme der Kanzlerin ab, dass sie das ernst meint"

Nikolaus Schneider im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider glaubt den Bekenntnissen von Angela Merkel zum Umdenken in der Atompolitik. Zur Beteiligung der Kirchen an den Gesprächen zum Atomausstieg kündigte Schneider an: "Wir werden schon zu verhindern wissen, dass wir sozusagen die weiße Salbe werden."
Deutschlandradio Kultur: Am Mikrophon begrüßt Sie Korbinian Frenzel und ich freue mich auf unseren Gast heute in unserem Interview an diesem Ostersamstag, Präses Nikolaus Schneider, den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland. Schönen guten Tag, Herr Schneider.

Nikolaus Schneider: Schönen guten Tag, Herr Frenzel.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schneider, Sie stehen jetzt seit mehr als einem Jahr der Evangelischen Kirche in Deutschland vor, an der Spitze. Das sind gut 24 Millionen protestantische Christen in diesem Land, rund ein Drittel der Bevölkerung. Wenn ich jetzt die normalen Maßstäbe ansetze, die wir hier in unseren politischen Sendungen ansetzen, die Frage, wie mächtig ein Mensch ist, wie viel Gewicht er hat, dann müsste ich jetzt davon ausgehen, ich habe einen sehr gewichtigen, einen sehr mächtigen Gesprächspartner mir gegenübersitzen.
Herr Schneider, empfinden Sie sich selbst als mächtig? Haben Sie Macht in diesem Land? Haben Sie Einfluss?

Nikolaus Schneider: Ich denke, damit habe ich durchaus Einfluss. Meine Stimme wird auch gehört. Aber das ist nicht mit der Macht eines Konzernchefs zu vergleichen, auch nicht mit der Macht, die etwa ein römisch-katholischer Bischof hat, weil unsere Kirche eine andere Struktur hat. Ich bin mehr der erste Sprecher. Und die – in Anführungsstrichen – Macht muss ich mir immer wieder neu erwerben, indem ich nämlich überzeugend rede, nachvollziehbar rede und Menschen sich in dem wieder finden, was ich sage, oder dadurch angeregt und angestoßen. Das Wesentliche ist einfach, dass in meinem Reden deutlich wird, ich rede gebunden an die Heilige Schrift und ich rede aus meinem Glauben heraus. Und das, was ich sage, soll eben auch ein Zeugnis meines Glaubens sein und nicht nur irgendwie eine andere oder verstärkte politische Meinung oder noch andere Formen von gewerkschaftlicher Äußerung. Das alles soll es nicht sein, sondern es soll Zeugnis meines Glaubens sein. Und ich denke, wenn das am besten gelingt, dann bin ich auch am überzeugendsten.

Deutschlandradio Kultur: Ich habe mich das, was ich Sie gerade gefragt habe, mit Blick auf die letzten Monate, die letzten Wochen gefragt, die Umbrüche, die wir gesehen haben in der arabischen Welt, die Revolutionen, die Proteste. Ganz häufig waren das ja die Freitagsgebete, in Syrien jetzt aktuell, in Ägypten, die der Ausgangspunkt waren für Proteste. Aus dem Blickwinkel eines westlichen, eines deutschen Kirchenmannes empfinden Sie es da manchmal als schade, macht es Sie traurig, wenn Sie sehen, wie stark Religion, wenn es auch nicht die unsere ist, aber wie stark Religion dort ist im Vergleich dazu, wie verflüssigt sie sich schon in unserer Gesellschaft gemacht hat?

Nikolaus Schneider: Am Beispiel der Freitagsgebete ganz klar und deutlich: Nein! Denn was die Freitagsgebete bewirken, das ist etwas, was es auch bis zur Reformationszeit und darüber hinaus in Deutschland gab. Und wir mussten mühsam lernen, wie gut es ist, wenn man Staat und Kirche trennt, und wie segensreich es ist, wenn man für seine Glaubensvorstellungen nicht staatliche Macht zur Umsetzung und zur Durchsetzung in Anspruch nimmt. Denn dann haben wir die mit dem Glauben begründeten Kriege und die mit dem Glauben begründete Gewaltausübung. Und da ist viel Blut geflossen in Europa. Und das hat uns überhaupt nicht gut getan. Das war eine Lektion, die mussten wir schwer lernen. Und ich hoffe, dass sie auch noch dem Islam bevorsteht.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn wir noch mal auf das alltägliche Leben kommen, ich habe die Beispiele der arabischen Welt genannt, aber auch wenn wir uns zum Beispiel diejenigen Mitbürger hier angucken, die mit islamischen Wurzeln bei uns leben, wo wir ja erkennen können, es gibt eine gewisse Tendenz zu einer Stärkung der Religion, eine stärkere Präsenz, wenn Sie das betrachten, wenn Sie sehen, wie stark Religion im Alltagsleben dort stattfindet, ist das etwas, wo Sie sagen, ich würde mir das bei den Christen in Deutschland wünschen?

Nikolaus Schneider: Ja und nein. Es kommt auf die Gründe an. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die starke Betonung der Religiosität auch etwas zu tun hat mit Perspektivlosigkeit und Orientierungslosigkeit, dass man also sagt, der Islam ist die Lösung. Die gesellschaftlichen Probleme sind komplex und schwierig. Wir sind in einer benachteiligten Situation in dieser Gesellschaft. Wir haben sprachlich Probleme, wir haben Ausbildungsprobleme, wir werden benachteiligt am Arbeitsmarkt. So. Und dann ist der Islam die Lösung, um meine Identität zu finden, mich zu stärken. Und wenn wir diese ganze Gesellschaft dann auch religiöser gestalten könnten, dann würden wir auch alle sozialen Probleme lösen. – Das ist natürlich ein Irrweg. Das ist dummes Zeug.

Was ich begrüße, ist, wenn ein Mensch sagt, mein Glaube ist mir wichtig und ich will auch meinen Alltag so leben, dass er durchsichtig wird, also, dass mein Glaube durchsichtig wird für andere auf Begründungen hin, auf meine Motive hin, warum ich dieses tue und anderes lasse. Und meine Hoffnung ist, dass nun viele Christinnen und Christen, die in unserem Land mit diesem sehr exponierten Glaubensleben zu tun haben, auch neu herausgefordert sind, über sich und ihren Glauben nachzudenken. Es muss da nicht in gleicher Weise sein. Also, gegen Demonstration von Glauben habe ich auch was, weil es auch immer so einen überwältigenden Charakter hat, weil es den anderen so unter Druck setzt. So kann man mit Glauben nicht umgehen. Das ist eine Gewissensfrage und die Gewissen müssen frei bleiben. Aber im Sinne eines Bekenntnisses, dass ich mich identifiziere und behaften lasse, das – finde ich – ist eine gute Herausforderung, der wir uns stellen sollen und die uns auch nur gut tut.

Deutschlandradio Kultur: Reden wir mal über eine Herausforderung, der Sie sich gerade aktuell stellen müssen, eine kleine Debatte, die es gibt seit einigen Tagen, nämlich um die Feiertagsruhe am Karfreitag. Einen Vorstoß gab es vom grünen Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen, der eben diese infrage stellt und das damit begründet, dass eben nur noch eine Minderheit aktiv wirklich den Glauben praktiziert, eine Minderheit der Christen, und dass diese Minderheit der Mehrheit nicht vorschreiben darf, wie sie einen solchen Tag zu verbringen hat, einen Karfreitag.
Beschreibt er damit nicht einfach die Realität in unserem Lande?

Nikolaus Schneider: Also, ich finde diese Bemerkung sehr unbedacht – aus mehreren Gründen: Erstens, dieses sind gesetzliche Regelungen. Sie drücken damit die Willensbildung einer Mehrheit aus, die das so beschlossen hat. Zweitens, die Frage von Minderheit und Mehrheit: Das hätte ich gerne mal ein bisschen genauer untersucht. Aus der Anzahl der Gottesdienstbesucher abzuleiten, wie das aussieht mit den Minderheiten und den Mehrheiten, was den Karfreitag als stillen Feiertag angeht, das finde ich kühn. Es gibt eine Menge Menschen, die zwar von ihren religiösen Rechten nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen, also etwa auch einen Gottesdienst zu besuchen, die aber sehr wohl eine solche Prägung unserer Gesellschaft und unserer Gegenwart wünschen.
Und es gibt einen dritten Kurzschluss: Wenn man meint, man kann einen Feiertag seines Inhaltes entkleiden, ihn aber trotzdem als Feiertag behalten, dann wird man sich gewaltig irren.

Deutschlandradio Kultur: Sie argumentieren ja auch stark mit kultureller Tradition, eigentlich in einem sehr weltlichen Rahmen. Und wenn diese Traditionen schwächer werden, wenn sie in bestimmten Landesteilen Ostdeutschlands, aber auch in bestimmten Ballungsräumen einfach so stark nicht mehr greifen, muss das nicht Konsequenzen auch für die Gestaltung unserer Feiertage haben, für das, was der Staat auch an Schutz von Feiertagen vorsieht?

Nikolaus Schneider: Ja klar. Wenn das so ist, dann haben wir ja auch die möglichen Wege, wie wir es ändern können. Dann kann ich nur sagen, dann macht es bitte so. Macht es bitte auf den Wegen, die dafür vorgesehen sind, und macht es nicht auf diese verschluderte Art, das eben nicht.

Am Ende aber wird man sehen, ob es wirklich so ist. Denn diese kulturelle Prägung – jetzt bin ich also auf der Ebene gesellschaftlicher Prägung – tut uns ja gut. Wir brauchen einen Rhythmus für unser Leben. Wir brauchen Zeiten, wo wir arbeiten. Wir brauchen Zeiten, wo wir frei haben und da nicht nur irgendwie Spaß haben, sondern auch mal über uns und über das Leben zum Nachdenken kommen. Wir brauchen Feste, die jubelnd sind. Wir brauchen aber auch Zeiten, wo wir mal über die dunklen Seiten des Lebens nachdenken, denn jeder von uns macht die Erfahrung des Todes, macht die Erfahrung des Bösen in der Welt. Und wissen Sie, das Großartige am Karfreitag ist doch, und deshalb ist er für uns Protestanten wirklich theologisch gesehen der wichtigste Feiertag, heißt doch, selbst im Elend des Todes bist du nicht alleine. Sogar Gott selber in seinem Sohn ist diesen Weg gegangen – in Solidarität mit dir als Mensch. Und du gehst darin nicht verloren. Du wirst darin nicht vernichtet. Es ist nicht das letzte Wort über dich. – Eine großartigere, eine wichtigere Botschaft kann es kaum geben. Sich der zu entziehen, ist auch nicht schlau.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei den Botschaften, aber weniger bei den religiösen Botschaften, sondern vielleicht eher bei den politischen Botschaften, die Sie in Ihrer Funktion, die die Evangelische Kirche aussendet.

Sie haben sich relativ deutlich zu Wort gemeldet jüngst in der Frage, ob Deutschland Flüchtlinge aus dem Maghreb aufnehmen soll zur Entlastung Italiens. Sie haben die Bundesregierung kritisiert für die ablehnende Haltung. Ist das die Aufgabe auch einer Kirche, in tagesaktuellen, tagespolitischen Fragen Stellung zu beziehen?

Nikolaus Schneider: Nicht in jeder tagespolitischen Frage, aber es gibt unterschiedliche Gewichte. Und da gibt es eine Tradition quer durch die Heilige Schrift, dass Menschen, die sich an Gott binden, auch Verpflichtungen eingehen, für ihre Mitmenschen einzutreten. Und wenn Sie in die Heilige Schrift gucken, dann gibt es klassisch gesehen drei Gruppen – Witwen, Waisen, Fremdlinge. – Bei den Fremdlingen sind wir bei den Asylanten. Das sind nämlich Menschen, die keine Lobby haben, für die keiner eintritt, die als lästig oder manchmal als Bedrohung erlebt werden. Und das ist eine Frage sozusagen für meine Begriffe der humanen Qualität unseres Zusammenlebens, wie wir gerade mit den Schwächsten umgehen. Und dazu gehören die Menschen, die flüchten, auf jeden Fall.

Deutschlandradio Kultur: Eine weitere inhaltliche Frage, wo Sie sich klar positioniert haben schon früh, aber jetzt wieder, ist die Frage der Atomkraft. Sie haben hier bei uns im Sender vor gut einem Monat sich kritisch gezeigt zu der Rolle, die auch von Frau Merkel, von der Kanzlerin für Sie vorgesehen ist jetzt in der ethischen Debatte, und haben davor gewarnt, dass Sie eine "weiße Salbe" sein sollen, die quasi übertüncht, was an wirklichen Fragen dort zu entscheiden ist.

Meine Frage jetzt einen Monat später: Haben sich Ihre Befürchtungen bewahrheitet oder haben Sie das Gefühl, da wird eine ernsthafte Debatte geführt?

Nikolaus Schneider: Das steht noch aus. Das wird man nachher sehen, wie die Ergebnisse sind und wie die Wirkungen sind. Ansonsten will ich zunächst mal unterstellen, dass Frau Merkel das ernst meint. Ich meine, die ist immerhin Physikerin, die weiß, wovon sie redet. Und sie hat selber gesagt, dass sie den Begriff "Restrisiko nun neu verstanden" hat. Und das gilt ja für ganz viele Menschen in unserer Gesellschaft. Der Begriff Restrisiko verschleiert ja mehr als dass er enthüllt. Er ist ja völlig abstrahiert. Wir können im Augenblick in Japan studieren, was Restrisiko heißt. Und wir müssen uns mal klar werden: Wollen wir mit dieser Möglichkeit, die natürlich unter ganz anderen Bedingungen bei uns auftreten könnte, wirklich leben?
Ich nehme der Kanzlerin ab, dass sie das ernst meint. Und deshalb begeben wir uns nun auch genau in diese Gespräche hinein. Und wir werden es schon zu verhindern wissen, dass wir sozusagen die weiße Salbe werden.

Deutschlandradio Kultur: Ich möchte noch mal ganz kurz mit ein, zwei Fragen auf Ihr eigenes Leben zu sprechen kommen. Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie. Ihr Vater war Hochofenmeister in Duisburg. Aber was ich sehr spannend fand, ist, dass Ihre Eltern überzeugte Kommunisten waren. Wie konnten Sie bei der Prägung, die Sie bekommen haben aus diesem Arbeiterumfeld, letztendlich zur Kirche finden?

Nikolaus Schneider: So genau weiß ich das auch nicht. Ich kann Ihnen nur rückblickend beschreiben, wie es gewesen ist.

Ich glaube, es gibt zwei Dinge. Ein Punkt war Bildung. Also, meine Eltern haben Wert darauf gelegt, dass ich nicht am Religionsunterricht teilnehme. Und das wurde auch umgesetzt, aber unter den damaligen Bedingungen hieß das, im selben Klassenraum sitze ich hinten in der Ecke und lese ein Buch – habe ich auch gemacht. Dann habe ich zugehört. Das ist ja auch nicht zu vermeiden. Und die Lehrerin hat einen tollen Religionsunterricht gemacht. Das fand ich spannend. Ja, und dann habe ich irgendwann das Buch zugemacht und hab mitgemacht, hab mich beteiligt. – Also, das war so ein Bildungsweg.

Das ging auf dem Gymnasium weiter. Da hat mein Klassenlehrer meiner Mutter gesagt, religiöses Wissen gehört zur Bildung dazu. Man kann sonst die Literatur nicht verstehen, auch die Architektur nicht, die Bildende Kunst nicht. Das hat meiner Mutter sehr eingeleuchtet. Sie war sehr bildungsbeflissen, genau wie mein Vater. Und dann kommt ein zweites Element hinzu, das ist mir auch wichtig. Ich hatte einen großartigen Vater. Der war Betriebsrat. Der hat sich um seine Leute gekümmert. Ich kann mich gut erinnern, dass Leute ständig zu uns kamen, die irgendwelche Probleme und Sorgen hatten – bei der Wohnung oder wie auch immer. Also, es ist auch so eine Prägung, die sich mit unserem Glauben sehr gut verbindet, der halt eine andere Rückbindung im Denken hatte, aber so seine Ausrichtung war sehr, sehr – wenn Sie so wollen, müsste man abstrakt sagen – humanistisch geprägt, absolut Menschen zugewandt auf jeden Fall angelegt. Ich glaube, diese Prägung führte mit dazu, dass ich dann auch Pfarrer wurde.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja schöne Beinamen gesammelt im Laufe Ihrer bisherigen Karriere. Was ich gefunden habe: "politischer Präses" oder auch "Arbeiterbischof". Wie viel Politiker steckt in dem Kirchenmann Schneider?

Nikolaus Schneider: Ja, ich hätte mir auch durchaus vorstellen können, auch so eine Weg einzuschlagen. Aber es ist doch so: Das Evangelium will auch die Welt gestalten. Frieden und Gerechtigkeit sind Themen des Evangeliums. Insofern ist uns nicht egal, was in einer Gesellschaft diskutiert wird und wie gesellschaftliches Leben gestaltet wird. Und aus diesem Grunde nehmen wir Stellung.

Aber jetzt Achtung! Ich will kein besserer Politiker sein, sondern ich will respektieren, was die Politiker machen. Aber den Mund verbieten lasse ich mir auch nicht. Das heißt, wir nehmen teil am öffentlichen Diskurs. Barmer hat gesagt: Es ist Aufgabe der Kirche, den Staat an Gottes Reich und Gerechtigkeit zu erinnern. Gottes Reich heißt, kein totalitärer Staat. Das Ewige ist Gottes Reich. Der Staat ist begrenzt, kein Totalitarismus. Und Gottes Gerechtigkeit sind einfach die vielen Gebote, die vor allen Dingen auch Schutzrechte für die Kleinen sind. – Und da müssen wir mitdiskutieren.

Deutschlandradio Kultur: Wie viel Diplomat, frage ich dann vielleicht noch mal hinterher, steckt dann in Nikolaus Schneider, wenn ich zum Beispiel auf die Afghanistanfrage und die Debatte darum schaue? Ihre Vorgängerin Margot Käßmann hat als eine der letzten Amtshandlungen das Wort vom "nichts ist gut" hinterlassen. Sie haben im Vergleich dazu moderatere Worte gefunden. War das eine notwendige Geste auch gegenüber den Soldaten?

Nikolaus Schneider: So war das nicht gemeint. Ich habe mich von diesem Satz von Margot Käßmann nie distanziert. "Nichts ist gut in Afghanistan" war ein absolut nötiger Satz. Und in dieser Zuspitzung war er auch richtig. Denn wenn man überlegt, was danach an gesellschaftlicher Diskussion losging, die wir dringend brauchten, hat sich Margot Käßmann wirklich große Verdienste erworben.

Ich war ja gerade in Afghanistan. Und ich wurde genauso wie von Ihnen auch von vielen anderen Journalisten gefragt: Ihre Vorgängerin hat gesagt, was sagen Sie? – Meine Antwort ist: Es ist Hoffnung in Afghanistan, aber auf ganz dünnem Eis.

Deutschlandradio Kultur: Afghanistan ist ja ein Konflikt, der uns schon länger begleitet. Libyen ist ein neuer, ein junger Konflikt. Jetzt flammt die Debatte auf um die Frage, ob eine internationale Gemeinschaft dort auch mit Bodentruppen intervenieren muss, um die Zivilbevölkerung auch zu schützen.

Wenn wir uns in Afghanistan engagieren und wenn es auch die Unterstützung der Kirche findet, muss es dann nicht heißen, bei Libyen können wir uns nicht raushalten?

Nikolaus Schneider: Also, die Situation ist schon verschieden in Libyen. In Libyen haben wir den Konflikt zwischen jetzt zwei Krieg führenden Parteien, nämlich Ghaddafi und sein Clan und die Stämme, die ihn unterstützen, und rebellierende Stämme. Das ist eine völlig andere Situation. Was wir dort haben, ist ja faktisch ein Bürgerkrieg. Das ist was ganz anderes als Afghanistan.

Deutschlandradio Kultur: Aber es geht darum, Menschen in Not zu helfen.

Nikolaus Schneider: Nein, der vergleichbare Punkt könnte höchstens sein: Schutz der Zivilbevölkerung. Also, dass Menschen schwersten Menschenrechtsverbrechen ausgesetzt sind, dass totale Rechtlosigkeit herrscht, das ist mit einer der Gründe, die es rechtfertigen können, militärische Gewalt anzuwenden nach der Friedensdenkschrift der EKD. Da kommen aber noch weitere Gesichtspunkte hinzu. Also, dass die Mittel verhältnismäßig sein müssen, dass es die Aussicht auf Erfolg geben muss, dass man auch weiß, wie man wieder rauskommt – und, und, und.

Und unter all diesen Gesichtspunkten bin ich sehr zurückhaltend, in Libyen von einem militärischen Eingreifen wirklich einen großen Erfolg zu erwarten. Aber ich will ganz offen sagen: Wer heute behauptet zu wissen, wie man sich da richtig verhalten kann, das ist ein Angeber und Hochstapler.

Deutschlandradio Kultur: Kommen wir noch mal zu einem anderen Thema. In diesem Jahr steht ein hoher offizieller Besuch an in diesem Lande, der Besuch des Papstes. Was erwarten Sie von diesem Besuch?

Nikolaus Schneider: Ich hoffe, dass der Papst einiges sagen wird zu der Art und Weise, wie wir das Reformationsfest 2017 feiern werden. Wie schauen wir also auf das Wirken Martin Luthers?

Meine Erwartung ist, dass der Papst eine Möglichkeit findet, Martin Luther und seine Erkenntnisse positiv zu würdigen. Sie haben der Kirche gut getan. Und in der Grunderkenntnis, etwa bei der Frage der Rechtfertigungslehre, sind wir ja ganz nah beieinander. Da bleiben wenige Unterschiede. Da sind wir ganz nah beieinander. Und das ist ja nun auch dem damaligen Kardinal Ratzinger zu verdanken, dass wir so nah aneinander herankamen. Damit hat er sich auch Luther sehr angenähert.

Dann wäre die Frage: Die Römisch-Katholische Kirche sagt immer, wir können das nicht feiern, weil das war Spaltung. Das können wir höchstens bedenken. Hier ist meine Hoffnung, dass die Römisch-Katholische Kirche auch sagen kann, welchen Beitrag sie zur Spaltung geleistet hat, dass wir also nicht nur einen kritischen Blick aufeinander haben, sondern dass wir auch einen selbstkritischen Blick bewahren, den zum Ausdruck bringen können und so Gemeinsames formulieren können. Das ist also eine große Erwartung. Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen noch ein paar mehr sagen.

Deutschlandradio Kultur: Ich möchte erstmal, dass Sie mir erklären, warum Sie den Bundestagspräsidenten oder den Bundestag kritisiert dafür kritisiert haben, dass der Papst dort sprechen soll.

Nikolaus Schneider: Ja, das habe ich mehrere Male gelesen, aber so habe ich das überhaupt nicht gesagt. Meine Rede war: Wenn der Papst im Bundestag redet, dann ist das nicht mein Bier, das zu kommentieren, denn er ist auch ein Staatsoberhaupt. Und dass er als Staatsoberhaupt im Parlament redet, ist für mich völlig in Ordnung. Dann habe ich hinzugefügt: Hieran zeigt sich auch, dass wir ein doch deutlich unterschiedliches Kirchenverständnis haben. Denn wir Evangelischen sagen: Die Kirche hat keine staatliche Art und sie soll auch keine staatliche Art haben. – Das war alles.

Daraus wurde dann abgeleitet, ich kritisiere, dass der Papst im Bundestag redet. Das ist dummes Zeug.

Deutschlandradio Kultur: Also, er soll dort reden?

Nikolaus Schneider: Natürlich soll er dort reden, er ist ja auch ein Staatsoberhaupt.

Deutschlandradio Kultur: Ein Aspekt der Katholischen Kirche, den Sie nicht mittragen, oder auch bezogen auf die Person des Papstes ist die Unfehlbarkeit. Ich würde unter diesem Stichwort gerne noch mal auf ein abschließendes Thema kommen, nämlich die Präimplantationsdiagnostik, die PID. Da haben Sie persönlich gezeigt, dass man an Prinzipien rütteln kann. PID, das ist eben die Frage, die sich dort stellt, ob befruchtete Eizellen auf Erbkrankheiten überprüft werden dürfen oder nicht. Das strikte Nein zum Eingriff in die Schöpfung war ja da immer eigentlich die klare ethische Linie der Kirchen. Sie wollen Ausnahmen nicht ausschließen. Warum?

Nikolaus Schneider: Ich habe zwei Gründe. Grund 1 ist: Ich kann an der Situation betroffener Ehepaare nicht einfach vorbei. Und alles, was wir da sagen und beschließen, muss auch standhalten angesichts der Erfahrung, die solche Menschen machen. Und von daher muss man sich das noch mal angucken, was man da argumentiert.

Das zweite ist: Ich finde, es gut uns Kirchen nicht gut, wenn wir behaupten etwas zu wissen, was wir gar nicht wissen können, nämlich wann und wie menschliches Leben wirklich beginnt. Das weiß keiner. Das wissen auch die Wissenschaftler nicht. Und das wissen auch wir als Kirche nicht. Und wenn wir sagen, mit der Befruchtung von Samen und Eizelle ist das sozusagen ein Sicherheitsargument, dann sind wir auf jeden Fall auf der sicheren Seite. Aber wann es genau ist, ist ein Geheimnis und das soll auch ein Geheimnis bleiben. Deshalb hätte ich den Ton an dieser Stelle gerne etwas moderater und nicht so massiv.

Jetzt komme ich zum Punkt, weshalb ich dafür bin, dass man eine Ausnahme zulässt. Also, es gibt mehrere Problembereiche, die will ich jetzt im Einzelnen gar nicht alle aufzählen. Aber ein Problembereich ist der, dass man sagt: Wir sollen nicht lebenswertes und lebensunwertes Leben selektieren. Das ist ein ganz schwerwiegendes Argument. Weil, hier ist der Eingriff sozusagen in Gottes Schöpfung am massivsten. Und es regen sich auch Erinnerungen, die sich mit dieser Massivität noch mal ganz anders verbinden.

Wir haben im Rat der EKD diese Frage ganz lange diskutiert. Und der Durchbruch für uns alle war, dass wir mit einer großen Mehrheit sagen konnten, ja, diese Ausnahme ist denkbar. Und die, die nicht mitgehen konnten, konnten das respektieren. – Auch folgende Erkenntnis: Es gibt Situationen, da geht es nicht um lebenswert oder lebensunwert, sondern da geht es um die Frage der Lebensfähigkeit. Und das ist was ganz anderes, etwa, wenn Mütter die Erfahrung machen, dass sie Totgeburten haben oder dass sie regelmäßig die Leibesfrucht verlieren. Dann geht es bei der PID um eine völlig andere Frage, nämlich lebensfähige Embryonen zu identifizieren und denen zu einem Leben zu verhelfen. Und das halte ich, halten die, die mit mir so gegangen sind, das halten wir für ethisch zu rechtfertigen.

Deutschlandradio Kultur: Der Bundestag debattiert ja in diesen Wochen genau diese Frage. Es gibt keinen Fraktionszwang, sondern verschiedene Abgeordnetengruppen quer durch alle Parteien, drei verschiedene Entwürfe, einen Entwurf, der ein komplettes Verbot weiterhin vorsieht. Die anderen beiden Entwürfe sehen auch ein Verbot der PID vor, allerdings da mit mehr oder weniger Ausnahmen. Sind Sie mit der politischen, gesellschaftlichen Debatte zufrieden? Und finden Sie sich da auch wieder in dem, was dort im Bundestag debattiert wird?

Nikolaus Schneider: Ja, ich bin mit dieser Debatte sehr zufrieden, weil, sie wird auf einem hohen Niveau geführt und sie wird mit großem Respekt voreinander geführt. Es ist kein Schreithema. Das wäre auch völlig unangemessen. Es wird auch nicht benutzt, um den anderen moralisch herabzuwürdigen. Das finde ich eine sehr angemessene gesellschaftliche und politische Debatte. Da gibt es in gesellschaftlichen Bereichen noch den einen oder anderen Ausrutscher, das kommt immer vor im Überschwang dann der Gefühle oder in einer besonderen inneren Bindung. Aber ansonsten, finde ich, ist das eine Debatte, mit der wir uns wirklich sehen lassen können.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank Nikolaus Schneider für das Gespräch.

Nikolaus Schneider: Sehr gerne, Herr Frenzel.
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