"Ich spreche für alle Menschen, die unschuldig umgebracht wurden"
16:54 Minuten
Aus den USA ist Margot Friedländer in ihre alte Heimat Berlin zurückgekehrt, um jungen Menschen vom Nationalsozialismus und vom Holocaust zu erzählen. Die Pogromnacht des 9. November sei der Moment gewesen, "an dem wir gesagt haben: Hitler geht nicht, wir müssen gehen."
Philipp Gessler: Vor wenigen Tagen ist Margot Friedländer 92 Jahre alt geworden. Sie hat nicht nur, wie es sich gehört, ordentlich gefeiert, mit über 40 Gästen, sie wurde auch vom Bundespräsidenten Joachim Gauck im Schloss Bellevue zum Tee empfangen. Und das völlig zu Recht. Denn dass die Berlinerin sich für diese, die deutsche Gesellschaft, engagiert, ist ein so unverdientes Geschenk, dass es einen fast beschämt. Margot Friedländer ist in Berlin aufgewachsen. Sie wurde als Jüdin verfolgt und tauchte Anfang 1943 in Berlin unter. Während ihr Bruder Ralph und ihre Mutter ermordet wurden, überlebte sie versteckt in der Hauptstadt. Nach etwa einem Jahr aber wurde sie dann doch von den Nazis gefasst und ins Getto Theresienstadt verschleppt. Auch dieses KZ hat sie überlebt.
Mit ihrem Mann Adolf Friedländer emigrierte sie 1946 nach New York. Nach dessen Tod 1997 besuchte sie mehrmals ihre alte Heimat Berlin, um am Ende, 2010, endgültig zurückzukehren. Hier an der Spree erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft und vor genau zwei Jahren das Bundesverdienstkreuz am Bande, nicht zuletzt für ihr Engagement für viele junge Menschen hierzulande, denen Sie immer wieder ihre Geschichte als Zeitzeugin erzählt. Ihre Erinnerungen würden viele Sendungen füllen.
Für "Religionen" konnte ich sie vorgestern interviewen, hier im Sender. Es ist das frühere RIAS-Gebäude, wo Hans Rosenthal, ein Holocaust-Überlebender wie sie und enger Freund ihres ermordeten Bruders Ralph, lange wirkte. Meine erste Frage an sie war, ob Ihre Erinnerungen an die Pogromnacht vor 75 Jahren noch lebendig sind, nach so langer Zeit.
Margot Friedländer: Ja, das ist doch etwas, was man nie vergessen kann, weil das der Moment war, an dem wir gesagt haben, Hitler geht nicht, wir müssen gehen. Wenn man es vorher schon noch verdrängt hat, Verschiedenes, war das der Moment, wo wir gesagt haben, was wird noch geschehen, Schlimmeres, noch Schlimmeres!
Gessler: An was erinnern Sie sich denn an diesem Tag?
Friedländer: Ja, ich wollte zur Arbeit gehen, ich habe als Lehrmädchen damals in einem kleinen Salon ein halbes Jahr, dreiviertel Jahr gearbeitet. Und ich war auf dem Weg nach der Kalckreuthstraße. Wir wohnten am Ludwig-Kirch-Platz, Ludwig-Kirch-Straße, Uhlandstraße wollte ich zum Kurfürstendamm mit der Straßenbahn zum Nollendorfplatz fahren. Und als ich runter kam, fiel mir erst auf, dass … Ich fand erstens die Luft sehr schlecht, es roch komisch, es war … Es roch nach Brand. Aber ich habe keine Feuerwehr gehört und da dachte ich mir, es kann also nicht sein. Außerdem war die Straße relativ ruhig, was ungewöhnlich ist, denn sonst um diese Zeit gehen ziemlich viele Menschen zur Arbeit. Aber was mir auffiel, war, dass sehr viel Uniformierte, die braunen Uniformen in der Straße waren.
Gessler: Von der SA.
Friedländer: Ja, SA, und zu kleinen Gruppen gestanden haben. Wir gingen natürlich zu dieser Zeit meistens mit dem Blick nach unten, denn wir wollten keinen Eye-Kontakt mit irgendwelchen Menschen machen. Wir haben uns also so unauffällig benommen wie nur möglich. Als ich ein Stückchen die Ludwig-Kirch-Straße ging, ein Geschäft, das mir eigentlich vorher nie aufgefallen war, dass es also was Besonderes ist, hatte zerbrochene Fensterscheiben. Und da war mir das noch nicht klar, denn ich dachte, da sind einfach kaputte Scheiben. Aber es war, dass eben eine kleine Gruppe von SA-Leuten davorgestanden hat. Es waren nicht nur die kaputten Scheiben, es war die Ware aus diesen Geschäften rausgeschmissen worden und lag auf der Straße, und viele Menschen hatten sich schon versammelt und sich gebückt und die Kisten aufgemacht und Sachen genommen, was dort auf der Straße lag, auf Kisten. Und die SA stand rum und guckte zu und amüsierte sich darüber. Und ich guckte auf die andere Seite, ich war sprachlos, da war dasselbe. Ich bin auf Glas getreten und es war das Glas der zerbrochenen Fenster von jüdischen Geschäften, die es schon nicht mehr gab.
Gessler: Das heißt, die Leute haben sich bereichert an den …
Friedländer: Sie haben sich bereichert, sie haben so viel genommen, wie sie nur tragen konnte. Sie haben sich darum gerissen. Es waren schöne Geschäfte, es waren Kleidergeschäfte, es war ein Pelzgeschäft, wo eben auch Pelze auf, ich wusste, wer es lag, draußen lag. Und mir ist der kalte Schweiß den Rücken runtergelaufen und mein Gesicht war nass. Ich weiß nicht, ob ich geweint habe oder ob es der kalte Schweiß war. Ich bin schnellstens umgekehrt, um nach Hause zu gehen.
Mit ihrem Mann Adolf Friedländer emigrierte sie 1946 nach New York. Nach dessen Tod 1997 besuchte sie mehrmals ihre alte Heimat Berlin, um am Ende, 2010, endgültig zurückzukehren. Hier an der Spree erhielt sie die deutsche Staatsbürgerschaft und vor genau zwei Jahren das Bundesverdienstkreuz am Bande, nicht zuletzt für ihr Engagement für viele junge Menschen hierzulande, denen Sie immer wieder ihre Geschichte als Zeitzeugin erzählt. Ihre Erinnerungen würden viele Sendungen füllen.
Für "Religionen" konnte ich sie vorgestern interviewen, hier im Sender. Es ist das frühere RIAS-Gebäude, wo Hans Rosenthal, ein Holocaust-Überlebender wie sie und enger Freund ihres ermordeten Bruders Ralph, lange wirkte. Meine erste Frage an sie war, ob Ihre Erinnerungen an die Pogromnacht vor 75 Jahren noch lebendig sind, nach so langer Zeit.
Margot Friedländer: Ja, das ist doch etwas, was man nie vergessen kann, weil das der Moment war, an dem wir gesagt haben, Hitler geht nicht, wir müssen gehen. Wenn man es vorher schon noch verdrängt hat, Verschiedenes, war das der Moment, wo wir gesagt haben, was wird noch geschehen, Schlimmeres, noch Schlimmeres!
Gessler: An was erinnern Sie sich denn an diesem Tag?
Friedländer: Ja, ich wollte zur Arbeit gehen, ich habe als Lehrmädchen damals in einem kleinen Salon ein halbes Jahr, dreiviertel Jahr gearbeitet. Und ich war auf dem Weg nach der Kalckreuthstraße. Wir wohnten am Ludwig-Kirch-Platz, Ludwig-Kirch-Straße, Uhlandstraße wollte ich zum Kurfürstendamm mit der Straßenbahn zum Nollendorfplatz fahren. Und als ich runter kam, fiel mir erst auf, dass … Ich fand erstens die Luft sehr schlecht, es roch komisch, es war … Es roch nach Brand. Aber ich habe keine Feuerwehr gehört und da dachte ich mir, es kann also nicht sein. Außerdem war die Straße relativ ruhig, was ungewöhnlich ist, denn sonst um diese Zeit gehen ziemlich viele Menschen zur Arbeit. Aber was mir auffiel, war, dass sehr viel Uniformierte, die braunen Uniformen in der Straße waren.
Gessler: Von der SA.
Friedländer: Ja, SA, und zu kleinen Gruppen gestanden haben. Wir gingen natürlich zu dieser Zeit meistens mit dem Blick nach unten, denn wir wollten keinen Eye-Kontakt mit irgendwelchen Menschen machen. Wir haben uns also so unauffällig benommen wie nur möglich. Als ich ein Stückchen die Ludwig-Kirch-Straße ging, ein Geschäft, das mir eigentlich vorher nie aufgefallen war, dass es also was Besonderes ist, hatte zerbrochene Fensterscheiben. Und da war mir das noch nicht klar, denn ich dachte, da sind einfach kaputte Scheiben. Aber es war, dass eben eine kleine Gruppe von SA-Leuten davorgestanden hat. Es waren nicht nur die kaputten Scheiben, es war die Ware aus diesen Geschäften rausgeschmissen worden und lag auf der Straße, und viele Menschen hatten sich schon versammelt und sich gebückt und die Kisten aufgemacht und Sachen genommen, was dort auf der Straße lag, auf Kisten. Und die SA stand rum und guckte zu und amüsierte sich darüber. Und ich guckte auf die andere Seite, ich war sprachlos, da war dasselbe. Ich bin auf Glas getreten und es war das Glas der zerbrochenen Fenster von jüdischen Geschäften, die es schon nicht mehr gab.
Gessler: Das heißt, die Leute haben sich bereichert an den …
Friedländer: Sie haben sich bereichert, sie haben so viel genommen, wie sie nur tragen konnte. Sie haben sich darum gerissen. Es waren schöne Geschäfte, es waren Kleidergeschäfte, es war ein Pelzgeschäft, wo eben auch Pelze auf, ich wusste, wer es lag, draußen lag. Und mir ist der kalte Schweiß den Rücken runtergelaufen und mein Gesicht war nass. Ich weiß nicht, ob ich geweint habe oder ob es der kalte Schweiß war. Ich bin schnellstens umgekehrt, um nach Hause zu gehen.
"Die Augen meiner Mutter haben genug gesagt"
Gessler: Haben Sie denn auch noch eine rauchende Synagoge gesehen?
Friedländer: Nein, in der Uhlandstraße ist keine und Ludwig-Kirch-Straße auch nicht, ich habe nur … Als ich nach Hause kam, stand meine Mutter mit meinem Bruder an der Türe und sie haben mich schweigend in den Arm genommen. Ich muss sagen, Worte waren nicht nötig, die Augen meiner Mutter haben genug gesagt. Die war sehr verzweifelt. Und als ich wegging aus der Pension, war noch alles ruhig und es waren vielleicht 20 Minuten vergangen, und schon haben die Bewohner im Korridor gestanden und im Speisezimmer. Und was sie schon gewusst haben nach diesen paar Minuten, wo wir kein Radio hatten, kein Telefon, keine Zeitung, wussten sie, dass die Synagogen brennen. Und das war der Geruch, den ich gemerkt habe, diese stickige … ich weiß nicht, komische Luft. Aber da ich doch keine Feuerwehr gehört habe, konnte ich mir gar nicht vorstellen, wieso es brennen soll und es kommt unsere Gotteshäuser nicht löschen!
Gessler: Haben Sie sich dann auch mal eine Synagoge danach angeschaut?
Friedländer: Mein Bruder sollte an diesem Sonnabend seine Bar Mitzwa haben. Wir wussten, das kann nie stattfinden.
Gessler: Dieses große Fest für einen Jungen, in dem er in die Gemeinde aufgenommen wird.
Friedländer: Ja. Es war eigentlich, sollte im August sein, wie sein Geburtstag fällt, aber er war krank und es musste verschoben werden. Da meine Eltern geschieden waren, konnten wir nicht mit unseren Vater in Verbindung, wir wussten nicht, wie wir ihn erreichen können. Wir haben uns natürlich große Sorgen gemacht, denn wir haben gehört, dass so viele Männer in dieser Nacht verhaftet wurden, jung und alt. Und es dauerte mehrere Tage, bis mein Vater zu uns kam, und er hatte sich versteckt. Und er sagte, dass sein Geschäft, das in der zweiten Etage liegt, nicht zerschlagen war, aber dass es ihm nicht mehr gehört, dass es arisiert wird. Wir wussten, dass, was kann noch Schlimmeres passieren, denn das ist wohl das Ende von dem, wo wir immer noch gehofft haben, dass es sich nicht halten wird.
Gessler: Manche andere Holocaust-Überlebende haben das ja auch so geschildert, dass sie im Grunde nach der Reichspogromnacht wussten, hier kann man in Deutschland als Jude nicht mehr bleiben, wenn man überleben will. War das auch Ihr Gefühl?
Friedländer: Nein, in der Uhlandstraße ist keine und Ludwig-Kirch-Straße auch nicht, ich habe nur … Als ich nach Hause kam, stand meine Mutter mit meinem Bruder an der Türe und sie haben mich schweigend in den Arm genommen. Ich muss sagen, Worte waren nicht nötig, die Augen meiner Mutter haben genug gesagt. Die war sehr verzweifelt. Und als ich wegging aus der Pension, war noch alles ruhig und es waren vielleicht 20 Minuten vergangen, und schon haben die Bewohner im Korridor gestanden und im Speisezimmer. Und was sie schon gewusst haben nach diesen paar Minuten, wo wir kein Radio hatten, kein Telefon, keine Zeitung, wussten sie, dass die Synagogen brennen. Und das war der Geruch, den ich gemerkt habe, diese stickige … ich weiß nicht, komische Luft. Aber da ich doch keine Feuerwehr gehört habe, konnte ich mir gar nicht vorstellen, wieso es brennen soll und es kommt unsere Gotteshäuser nicht löschen!
Gessler: Haben Sie sich dann auch mal eine Synagoge danach angeschaut?
Friedländer: Mein Bruder sollte an diesem Sonnabend seine Bar Mitzwa haben. Wir wussten, das kann nie stattfinden.
Gessler: Dieses große Fest für einen Jungen, in dem er in die Gemeinde aufgenommen wird.
Friedländer: Ja. Es war eigentlich, sollte im August sein, wie sein Geburtstag fällt, aber er war krank und es musste verschoben werden. Da meine Eltern geschieden waren, konnten wir nicht mit unseren Vater in Verbindung, wir wussten nicht, wie wir ihn erreichen können. Wir haben uns natürlich große Sorgen gemacht, denn wir haben gehört, dass so viele Männer in dieser Nacht verhaftet wurden, jung und alt. Und es dauerte mehrere Tage, bis mein Vater zu uns kam, und er hatte sich versteckt. Und er sagte, dass sein Geschäft, das in der zweiten Etage liegt, nicht zerschlagen war, aber dass es ihm nicht mehr gehört, dass es arisiert wird. Wir wussten, dass, was kann noch Schlimmeres passieren, denn das ist wohl das Ende von dem, wo wir immer noch gehofft haben, dass es sich nicht halten wird.
Gessler: Manche andere Holocaust-Überlebende haben das ja auch so geschildert, dass sie im Grunde nach der Reichspogromnacht wussten, hier kann man in Deutschland als Jude nicht mehr bleiben, wenn man überleben will. War das auch Ihr Gefühl?
"Mein Vater fühlte sich sehr deutsch"
Friedländer: Es war unser Gefühl, aber wir haben schon vorher versucht, auszuwandern. Und es wurde uns so schwergemacht. Es war vielleicht schon zu spät. Ich denke immer, dass, wenn mein Vater das Buch gelesen hätte von Hitler, hätte er es nicht geglaubt, dass das möglich ist, was er schreibt, dass so etwas passieren kann. Mein Vater fühlte sich – die ganze Familie – sehr deutsch, war natürlich in Deutschland geboren. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, hat einen Bruder für Deutschland verloren. Er war hoch ausgezeichnet mit Verwundetenabzeichen und das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. Meine Mutter hatte einen Bruder, der für Deutschland im Krieg gefallen ist. Mein Vater sagte immer, sie meinen uns nicht. Wie konnte er sich so irren!
Gessler: Jetzt erzählen Sie Ihre Geschichte, also die Zeit im Versteck hier in Berlin und dann die Zeit im KZ Theresienstadt, häufiger jungen Leuten in Schulklassen vor allem. Haben Sie den Eindruck, dass diese Geschichte die jungen Leute erreicht?
Friedländer: Unbedingt, unbedingt. Ich habe einen sehr, sehr guten Erfolg, nämlich dass junge Menschen angefangen haben zu recherchieren von früheren Schülern, die in diese Schule gegangen sind, was in dieser Straße, Wohnungen, was für Leute dort gewohnt haben. Dass sie recherchiert haben und Häuser gefunden haben, wo Juden rausgeholt wurden, und Stolpersteine gelegt haben. Ich spreche ja für die, die nicht mehr sprechen können. Ich sage ja auch den jungen Menschen, dass ich für sie und für ihre Zukunft spreche, dass so etwas nie wieder geschieht. Dass ich ihnen meine Hand reiche, aber dass ich von ihnen hoffe, dass sie die Zeitzeugen sein sollen, die wir nicht mehr lange sein können.
Ich spreche nicht nur für die sechs Millionen Juden, ich spreche für alle Menschen, die unschuldig umgebracht wurden, die vielen, vielen. Alles, was politisch ihnen nicht gepasst hat, wurde ja von Anfang an sofort eliminiert. Homosexuelle, kleine Kinder, die krank geboren waren, hat man euthanasiert, alte, senile Menschen hat man umgebracht, von den Roma und Sinti will ich gar nicht sprechen, das weiß man. Aber man ist sich, glaube ich, gar nicht einig darüber, wie viele Menschen sie umgebracht haben, die nichts mit Judentum oder nichts mit diesem, was sie ausgegrenzt haben, zu tun hatten!
Gessler: Jetzt erzählen Sie Ihre Geschichte, also die Zeit im Versteck hier in Berlin und dann die Zeit im KZ Theresienstadt, häufiger jungen Leuten in Schulklassen vor allem. Haben Sie den Eindruck, dass diese Geschichte die jungen Leute erreicht?
Friedländer: Unbedingt, unbedingt. Ich habe einen sehr, sehr guten Erfolg, nämlich dass junge Menschen angefangen haben zu recherchieren von früheren Schülern, die in diese Schule gegangen sind, was in dieser Straße, Wohnungen, was für Leute dort gewohnt haben. Dass sie recherchiert haben und Häuser gefunden haben, wo Juden rausgeholt wurden, und Stolpersteine gelegt haben. Ich spreche ja für die, die nicht mehr sprechen können. Ich sage ja auch den jungen Menschen, dass ich für sie und für ihre Zukunft spreche, dass so etwas nie wieder geschieht. Dass ich ihnen meine Hand reiche, aber dass ich von ihnen hoffe, dass sie die Zeitzeugen sein sollen, die wir nicht mehr lange sein können.
Ich spreche nicht nur für die sechs Millionen Juden, ich spreche für alle Menschen, die unschuldig umgebracht wurden, die vielen, vielen. Alles, was politisch ihnen nicht gepasst hat, wurde ja von Anfang an sofort eliminiert. Homosexuelle, kleine Kinder, die krank geboren waren, hat man euthanasiert, alte, senile Menschen hat man umgebracht, von den Roma und Sinti will ich gar nicht sprechen, das weiß man. Aber man ist sich, glaube ich, gar nicht einig darüber, wie viele Menschen sie umgebracht haben, die nichts mit Judentum oder nichts mit diesem, was sie ausgegrenzt haben, zu tun hatten!
"Seid Menschen, respektiert Menschen"
Gessler: Was bewegt denn eigentlich die jungen Leute, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen, was bewegt die jungen Leute da besonders?
Friedländer: Es bewegt sie, dass ich zurückgekommen bin, dass ich die Stärke finde, mit ihnen zu sprechen. Aber wenn ich ihnen sage, dass es mir so viel bedeutet, ihnen das sagen zu können, ihnen die Hand zu reichen, aber von ihnen erhoffe, dass sie mich verstehen und dass sie dafür sorgen sollen, dass das nie wieder geschieht … Was geschehen ist, war schrecklich, es darf nie wieder geschehen. Ich gebe ihnen eine Aufgabe, ich glaube, das kommt gut an. Denn ich beschuldige sie ja nicht, aber ich hoffe, dass sie es nicht unter den Teppich schieben, dass sie diejenigen sind, die sich damit befassen und das verstehen, dass es unmenschlich war. Ich sage ihnen, seid Menschen, respektiert Menschen, was immer sie sind. Ihre Religion ist die private Angelegenheit von jedem, dass das Blut in meinen Adern dasselbe ist wie in ihren. Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein arabisches Blut, es gibt nur menschliches Blut, wir sind alle Menschen.
Gessler: Manche kritische Geister sagen ja, dass mittlerweile die Erinnerung an den Holocaust oder jetzt an die Pogromnacht etwas leicht Routiniertes hat mittlerweile in Deutschland. Ist das auch Ihr Eindruck?
Friedländer: Es kann nie genug darüber gesprochen werden, denn ich finde, es ist ein so großer Mord, Menschenmord gewesen … Menschen lernen nie, aber das gezielte Mördern von Menschen, das Grauenvolle … Wie konnten Menschen das tun und dann weiter Menschen sein?
Gessler: Das ist eine Frage, auf die sie bis heute keine Antwort haben?
Friedländer: Ich glaube, dazu wird man nie eine Antwort bekommen, und ich spreche auch mit älteren Leuten, die vielleicht Mitläufer waren, die sich heute nicht mal vorstellen können, wie konnte es sein, wie konnte das geschehen, wie konnten unsere Nachbarn, mit denen wir gelebt haben, uns nachher nicht mehr kennen, uns anspucken? War das zu verstehen, es ist nicht zu verstehen!
Gessler: Glauben Sie denn, dass eines Tages … Es wäre schrecklich, aber es wäre ja theoretisch möglich, dass eines Tages die Erinnerung an den Holocaust so verblassen könnte wie zum Beispiel die Erinnerung an die Revolution 1848?
Friedländer: Zeit verblasst Sachen. Aber ich möchte so gerne, dass es irgendwie in Erinnerung bleibt, wenn auch verblasst, aber doch ein bisschen. Und ich sage zu den jungen Menschen, es ist für euch und für eure spätere Zeit, für eure Kinder und deren Kinder.
Gessler: Sie haben schon mal gesagt, dass Ihr Engagement zum Beispiel in Schulklassen einer gewissen Mission gleicht, die Sie tun für die Ermordeten, für die sechs Millionen. Fühlen Sie sich an solchen Tagen wie dem 9. November diesen Toten in gewisser Weise besonders nahe?
Friedländer: Ich fühle mich tagtäglich ihnen nahe, denn ich kann mir … Ich kann nie vergessen meinen Bruder, der mit Hans Rosenthal sehr, sehr befreundet war und der gesagt hat, wer kannte Ralph nicht, er war doch immer Primus! Was wäre aus ihm geworden und aus den vielen Hunderttausenden von jungen Kindern? Eine Bereicherung für das Land!
Gessler: Vor wenigen Tagen sind Sie von dem Bundespräsidenten geehrt worden, Sie haben ihn besucht im Schloss Bellevue, haben Tee mit ihm getrunken. Sind solche Erlebnisse wie jetzt zu Ihrem 92. Geburtstag etwas, was Ihnen hilft, sich wieder einigermaßen wohl oder willkommen hier in Berlin zu fühlen?
Friedländer: Er hat mich gefragt, ob ich es jemals bereut habe, zurückzukommen. Da habe ich ihm gesagt, keine Minute. Ich bin froh, es war der richtige Schritt, ich habe das Richtige getan. Ich kann hier für die sprechen, die nicht mehr sprechen können, was hätte ich in Amerika tun können? Ich kann es verarbeiten, indem ich darüber spreche.
Nach Jahrzehnten in den USA, wo Sie sich Margot Friedlander, ohne Umlautpunkte, nannte, heißt sie heute wieder Margot Friedländer, mit ä. Ihr Buch, "‚Versuche, dein Leben zu machen‘. Als Jüdin versteckt in Berlin", erstmals erschienen 2008 bei Rowohlt in Berlin, hat sie noch unter dem Namen Friedlander veröffentlicht. Es hat 272 Seiten und kostet 19,90 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Friedländer: Es bewegt sie, dass ich zurückgekommen bin, dass ich die Stärke finde, mit ihnen zu sprechen. Aber wenn ich ihnen sage, dass es mir so viel bedeutet, ihnen das sagen zu können, ihnen die Hand zu reichen, aber von ihnen erhoffe, dass sie mich verstehen und dass sie dafür sorgen sollen, dass das nie wieder geschieht … Was geschehen ist, war schrecklich, es darf nie wieder geschehen. Ich gebe ihnen eine Aufgabe, ich glaube, das kommt gut an. Denn ich beschuldige sie ja nicht, aber ich hoffe, dass sie es nicht unter den Teppich schieben, dass sie diejenigen sind, die sich damit befassen und das verstehen, dass es unmenschlich war. Ich sage ihnen, seid Menschen, respektiert Menschen, was immer sie sind. Ihre Religion ist die private Angelegenheit von jedem, dass das Blut in meinen Adern dasselbe ist wie in ihren. Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein arabisches Blut, es gibt nur menschliches Blut, wir sind alle Menschen.
Gessler: Manche kritische Geister sagen ja, dass mittlerweile die Erinnerung an den Holocaust oder jetzt an die Pogromnacht etwas leicht Routiniertes hat mittlerweile in Deutschland. Ist das auch Ihr Eindruck?
Friedländer: Es kann nie genug darüber gesprochen werden, denn ich finde, es ist ein so großer Mord, Menschenmord gewesen … Menschen lernen nie, aber das gezielte Mördern von Menschen, das Grauenvolle … Wie konnten Menschen das tun und dann weiter Menschen sein?
Gessler: Das ist eine Frage, auf die sie bis heute keine Antwort haben?
Friedländer: Ich glaube, dazu wird man nie eine Antwort bekommen, und ich spreche auch mit älteren Leuten, die vielleicht Mitläufer waren, die sich heute nicht mal vorstellen können, wie konnte es sein, wie konnte das geschehen, wie konnten unsere Nachbarn, mit denen wir gelebt haben, uns nachher nicht mehr kennen, uns anspucken? War das zu verstehen, es ist nicht zu verstehen!
Gessler: Glauben Sie denn, dass eines Tages … Es wäre schrecklich, aber es wäre ja theoretisch möglich, dass eines Tages die Erinnerung an den Holocaust so verblassen könnte wie zum Beispiel die Erinnerung an die Revolution 1848?
Friedländer: Zeit verblasst Sachen. Aber ich möchte so gerne, dass es irgendwie in Erinnerung bleibt, wenn auch verblasst, aber doch ein bisschen. Und ich sage zu den jungen Menschen, es ist für euch und für eure spätere Zeit, für eure Kinder und deren Kinder.
Gessler: Sie haben schon mal gesagt, dass Ihr Engagement zum Beispiel in Schulklassen einer gewissen Mission gleicht, die Sie tun für die Ermordeten, für die sechs Millionen. Fühlen Sie sich an solchen Tagen wie dem 9. November diesen Toten in gewisser Weise besonders nahe?
Friedländer: Ich fühle mich tagtäglich ihnen nahe, denn ich kann mir … Ich kann nie vergessen meinen Bruder, der mit Hans Rosenthal sehr, sehr befreundet war und der gesagt hat, wer kannte Ralph nicht, er war doch immer Primus! Was wäre aus ihm geworden und aus den vielen Hunderttausenden von jungen Kindern? Eine Bereicherung für das Land!
Gessler: Vor wenigen Tagen sind Sie von dem Bundespräsidenten geehrt worden, Sie haben ihn besucht im Schloss Bellevue, haben Tee mit ihm getrunken. Sind solche Erlebnisse wie jetzt zu Ihrem 92. Geburtstag etwas, was Ihnen hilft, sich wieder einigermaßen wohl oder willkommen hier in Berlin zu fühlen?
Friedländer: Er hat mich gefragt, ob ich es jemals bereut habe, zurückzukommen. Da habe ich ihm gesagt, keine Minute. Ich bin froh, es war der richtige Schritt, ich habe das Richtige getan. Ich kann hier für die sprechen, die nicht mehr sprechen können, was hätte ich in Amerika tun können? Ich kann es verarbeiten, indem ich darüber spreche.
Nach Jahrzehnten in den USA, wo Sie sich Margot Friedlander, ohne Umlautpunkte, nannte, heißt sie heute wieder Margot Friedländer, mit ä. Ihr Buch, "‚Versuche, dein Leben zu machen‘. Als Jüdin versteckt in Berlin", erstmals erschienen 2008 bei Rowohlt in Berlin, hat sie noch unter dem Namen Friedlander veröffentlicht. Es hat 272 Seiten und kostet 19,90 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.