"Ich verdanke dem Glauben und dem Vertrauen der Opfer sehr viel"
Entscheidend für die Aufklärung sei, dass die Opfer zu Wort kommen, sagt Pater Klaus Mertes. Er hatte im Januar 2010 mit einem Brief dafür gesorgt, dass erste Missbrauchsfälle bekannt wurden. Die Geschichten der Opfer riefen die Kirche zu einem Umdenken auf, so Mertes.
Philipp Gessler: Mit Pater Klaus Mertes habe ich über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche gesprochen. Der Jesuit hat Mitte Januar 2010 einen Brief an die früheren Schüler des Canisius-Kollegs geschrieben, mit der Bitte, ihm Fälle sexuellen Missbrauchs in deren Schulzeit zu melden. Mertes konnte nicht ahnen, welche Welle er damit ausgelöst hat. Pater Mertes hat nun ein Buch über seine Erfahrungen und Gedanken in, mit und über die Kirche angesichts dieses Skandals verfasst. Es heißt "Verlorenes Vertrauen".
Wie viel ist da verloren? Entsteht vielleicht neues durch den neuen Papst? Wie ist das mit dem Vertrauen seines Jesuiten-Mitbruder Franz Jalics? Der hatte dem jetzigen Papst jahrelang vorgeworfen, ihn in den Zeiten der argentinischen Militärdiktatur ans Messer geliefert zu haben. Meine erste Frage an Pater Mertes aber war, ob mein Eindruck stimme, dass er so viel Vertrauen in die Kirche dann doch nicht verloren hat, trotz des Titels seines Buches und trotz des Missbrauchsskandals.
Klaus Mertes: Es gibt Vertrauen, das ich verloren habe, Vertrauen in Strukturen, auch Vertrauen in große Teile der personellen Ausstattung der gegenwärtigen Hierarchie in Deutschland auf der einen Seite. Aber ich habe zugleich letztlich großes Vertrauen sowohl auch gefunden bei vielen Katholiken als auch selbst ein Grundvertrauen gegenüber der Kirche als Gemeinschaft, die auf dem Evangelium gegründet ist, um es theologisch auszudrücken. Das heißt, ich habe ein Grundvertrauen darauf, dass man das Evangelium eben in der Kirche leben kann, und kenne auch viele Menschen, die es tun.
Gessler: Gleichzeitig zeigen Sie natürlich viel Verständnis dafür, dass gerade die Missbrauchsopfer jegliches Vertrauen verloren haben in die Kirche.
Mertes: Ja.
Gessler: Und gleichzeitig gibt es trotzdem Missbrauchsopfer, die noch irgendwie etwas mit der Kirche zu tun haben wollen. Ist das nicht etwas komisch?
Mertes: Ja, aber das ist ja gerade für mich sehr interessant. Da ist ja die Möglichkeit für mich zu hören, wie Menschen sich durch den Missbrauch nicht aus der Kirche herausdrängen lassen, sondern dass eben die Kirche und der Glaube in der Kirche gelebt, so wichtig ist, dass sie in der Kirche bleiben und auch in der Kirche und dem Evangeliumsglauben Kraft finden, mit dieser Erfahrung umzugehen. Und das heißt, ich finde doch bei den Opfern einen Glauben, von dem ich ja selbst lernen kann. Und das wäre dann auch eine Quelle für mein Vertrauen in die Kirche.
Gessler: Ist das nicht manchmal beschämend, wenn man dann doch diesen Glauben sieht, selbst der Missbrauchsopfer?
Mertes: Ja, es ist beschämend, und es ist sehr berührend und sehr, sehr bewegend. Ich muss sagen, dass ich dem Glauben der Opfer und dem Vertrauen der Opfer sehr viel verdanke, gerade in den letzten drei Jahren. Das hat meinen Glauben und mein Vertrauen gestärkt.
Gessler: Sie wurden ja angegriffen mehrmals, sowohl von Leuten in der Hierarchie als auch von einfachen Gläubigen, Laien, was hat Sie da eigentlich am meisten verletzt?
Mertes: Am meisten hat mich verletzt, wenn meine Motive verleumdet wurden, also mir zum Beispiel Eitelkeit vorgeworfen wurde oder Ähnliches, und die Verleumdungen von anderen, die mir wichtig sind, auch noch geglaubt wurden.
Gessler: Sie sagen ja in Ihrem Buch – ich versuche das mal ein bisschen zusammenzufassen –, Sie sagen: Die Opfer lehren uns, die Kirche anders zu sehen, und wir als Kirche müssen durch den Blick der Opfer unsere Kirche neu entdecken und anders entdecken. Kann man das so sagen?
Mertes: Das kann man so sagen. Ich habe ja gerade was ganz Positives gesagt, dass es Opfer gibt – muss ich vorsichtiger sagen –, die uns auch lehren, Neues und Kraftvolles und Lebensspendendes in der Kirche zu sehen. Aber wir müssen uns natürlich auch der anderen Seite stellen, nämlich, dass die Opfer mit der Kirche, und zwar nicht nur mit den Missbrauchstätern, sondern auch mit den Verschweigens- und Vertuschungsstrukturen Erfahrungen gemacht haben, in denen wir die Kirche, wir uns als Kirche, in einem Bild sehen und sehr, sehr hässlich aussehen.
Also im Kern sind das immer Geschichten über Machtmissbrauch in der Kirche, Machtmissbrauch von geistlicher Macht, elitäres Denken, Imageängste und Dinge dieser Art. Insofern führt der Blick der Opfer auf uns als Kirche dazu, dass wir, so fühle ich das, aufgerufen sind zu einer Metanoia, also griechisch gesprochen, zu einer Umkehr, zu einem Umdenken. Da stimmt etwas ganz tief in der Kirche nicht, wenn man den Opfergeschichten wirklich Vertrauen und Glauben schenkt.
Gessler: Haben Sie denn den Eindruck, dass gerade, weil hier nun leider die römisch-katholische Kirche ja ein sehr hierarchischer Laden ist, dass gerade in der Spitze dieses Metanoia-Denken angekommen ist?
Mertes: Es gibt einige Spuren, die man sehen kann. Ich verweise zum Beispiel auf den Kongress von 2012 den die Gregoriana in Rom im Auftrag des Vatikans veranstaltet hat. Und da mussten sich ja einige Hundert Bischöfe Opfergeschichten anhören. Es hat 2002 schon mal einen Kongress gegeben zum Thema Missbrauch, und wie ich von Beteiligten weiß, wurden damals praktisch nur Tätertherapeuten eingeladen. Die Opferperspektive kam gar nicht vor. Die Entscheidung, überhaupt Opfer einzuladen, ihre Geschichte zu erzählen, und die Hierarchie zu verpflichten von höchster Stelle her, sich diese Geschichten anzuhören, ist, denke ich, ein wichtiger Schritt gewesen, und ich hoffe, dass weitere Gespräche dieser Art folgen, denn das ist der Schlüssel. Zuerst einmal die Geschichten anhören.
Gessler: Nun haben sich ja auch die Täter, die noch leben, diese Geschichten angehört, die zumindest in den Medien verbreitet wurden, davon kann man ausgehen. Haben Sie denn, weil Sie jetzt so viel auch mit den Opfern zu tun hatten, auch irgendwo mal gehört, dass ein Täter vielleicht ins Grübeln gekommen ist?
Mertes: Ja, das habe ich mitbekommen. Ich hatte allerdings viel mehr Opferkontakte als Täterkontakte, und ich habe festgestellt, dass es ganz unterschiedliche Reaktionen von Tätern gibt. Es gibt die Täter, die wirklich begreifen, was sie getan haben, und bereuen. Es gibt die Täter, die begreifen, was sie getan haben, aber meinen schon, genug bereut zu haben, weil sie mit sich selbst im Reinen sind und gebeichtet haben und Ähnliches, und zwei, drei Wiedergutmachungsleistungen gebracht haben. Und es gibt Täter, die bis heute meinen, dass sie eigentlich selbst Opfer sind.
Gessler: Und wie kann man an die rankommen, oder ist das verlorene Liebesmüh?
Mertes: Das ist verlorene Liebesmüh. Das muss man einfach aushalten, so lange, bis von irgendwo anders her sich die Blackbox öffnet.
Gessler: Es gab ja, als der Skandal noch relativ neu war, zumindest für uns Deutsche neu war, diesen schrecklichen Satz von Angelo Sodano, also im Grunde die Nummer zwei im Vatikan gegenüber Papst Benedikt damals, er solle sich doch nicht kümmern um das Geschwätz des Tages. Das war einer der ganz schlimmen kirchlichen Sätze in den letzten Jahren, oder?
Mertes: Ja, ohne Zweifel. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass der Papst in dem Moment aufsteht, zu Sodano geht und sagt: Du, jetzt sei aber bitte ruhig, solche Art von Verteidigung brauche ich nicht.
Gessler: Aber er schien sich darüber gefreut zu haben, der Papst.
Mertes: Das weiß ich nicht, also ich kann nicht in den Kopf von Menschen hineinlesen.
Gessler: Sodano galt als papabile?
Mertes: Ja.
Gessler: Das heißt, es wäre möglich gewesen, dass er der nächste Papst geworden wäre.
Mertes: Ja, selbstverständlich, und das ist schon erschreckend.
Gessler: Wenn Sie jetzt nach Rom gucken unter Franziskus, Sie schreiben es in Ihrem Buch, da klingt doch sehr viel Hoffnung mit. Glauben Sie wirklich, dass das, was wir in den ersten Monaten erlebt haben, diese Option für die Armen, dass die nachhaltig ist?
Mertes: Ich glaube, dass Papst Franziskus aus zwei Erfahrungen kommt, die ganz wesentlich sind, und weswegen da eine große Stabilität ist. Es geht hier nicht nur um Dinge, die sich in seinem Kopf ereignen. Das erste ist, er kommt aus einer Erfahrung mit einem diktatorischen Regime, mit der Militärjunta, und das ist eine Lebenserfahrung, die verändert, und die ist ja auch thematisiert worden in ihrer ganzen Ambivalenz und Komplexheit.
Das heißt, Papst Franziskus hat Erfahrung mit autoritärem Machtmissbrauch, und mit der Erfahrung, wie sehr das Vertrauen erschüttern kann in einer Gesellschaft bis in die intimsten Beziehungen hinein, und wie sehr man auch dann in solchen Verhältnissen selbst straucheln kann und unsicher werden kann. Ich glaube, das ist eine ganz, ganz wichtige Erfahrung, und die bereitet Ihn sicherlich auch vor, jedenfalls hat er hier die Möglichkeit, sich auch noch mal zu öffnen, mit größerem Verständnis für die Erfahrung, die andere Menschen mit anderem Machtmissbrauch in der Kirche gemacht haben. Das ist das eine.
Das Zweite ist, er ist einfach sozial zu Hause bei den Armen. Er fühlt sich eben unter einfachen Leuten und Armen wohl, das weiß ich von den Mitbrüdern aus Argentinien und anderen, die mit ihm befreundet waren und sind. Da ist er zu Hause. Der ist eben nicht gern in fürstbischöflichem oder königlichem Ambiente zu Hause, wobei ich damit nicht dasselbe über seinen Vorgänger behaupten will. Aber er hat einfach keinen Gefallen daran, wenn er so ein Konzert wie vor vier Wochen eben absagt, weil man sich da einkaufen kann in die erste und zweite Reihe, um dann den Ring des Papstes zu küssen, dann sagt er: Da will ich gar nicht sein, da fühle ich mich nicht wohl. Er fühlt sich unter diesem prestigeträchtigen, parfümierten, gepuderten Volk eben nicht wohl, und das ist ein Habitus, das ist bei ihm verinnerlicht, das ist keine Kopfentscheidung, sondern es ist eben so. Und weil er aus einem anderen sozialen Milieu kommt, glaube ich, ist da etwas Neues im Vatikan, was auch nicht so schnell erstickt werden kann durch die realen Verhältnisse dort.
Gessler: Finden Sie, dass er seine Rolle in der Zeit der Militärjunta genug reflektiert hat?
Mertes: Dazu weiß ich zu wenig im Einzelnen. ich weiß aber, dass es zwischen ihm und dem hier in der deutschen Provinz lebenden Pater Franz Jalics ja eben auch lange Gespräche gegeben hat und einen Versöhnungsprozess gegeben hat. Und ich glaube - das sagt mir meine Intuition, das Wissen, das ich habe -, dass es eben da auch bei seiner Seite, vielleicht auch von der Seite von Franz Jalics, noch mal auch eine Reflexion gegeben hat über die Frage, was ist denn damals eigentlich schiefgelaufen, sodass es zu diesem Zerwürfnis innerhalb der argentinischen Jesuiten und der argentinischen Kirche kommen konnte.
Gessler: Zum Missbrauchsskandal habe ich bisher relativ wenig gelesen von Papst Franziskus. Ist da auch von dieser Seite noch etwas zu erwarten?
Mertes: Ich hoffe das. Ich glaube, dass das ohnehin einfach kommen wird, weil sich das Thema weiterhin stellen wird. Missbrauch wird ja weiterhin aufgedeckt und findet ja weiterhin statt, und warten wir mal ab, wie es ist, wenn da jetzt in Polen oder in Italien die Öffentlichkeit weit genug ist, oder in Lateinamerika weit genug ist, dass die Gesellschaft sich auch öffnet für die Informationen, die schon da sind. Das ist ja der entscheidende Punkt. In solchen Ländern sind die Informationen zwar auch schon da, aber die Gesellschaft als Ganzes reagiert noch nicht so, wie sie eben in den USA und Irland oder 2010 in Deutschland reagiert hat.
Das heißt, die Aufmerksamkeit für sexuellen Missbrauch ist auch wirklich einfach eine Frage, ist die Gesellschaft so weit, die Informationen, die da sind, auch wirklich anzunehmen. Und da kommt er aus einer Gesellschaft, meine ich, in der auch gesellschaftlich das Thema noch nicht so präsent ist wie eben andere Themen, wie zum Beispiel Machtmissbrauch in Diktaturen, das ist ja das große Thema in Lateinamerika und speziell in Argentinien.
Gessler: Jetzt hat die deutsche katholische Bischofskonferenz ja diesen Vertrag zur Erarbeitung einer Studie mit Herrn Pfeiffer in dem kriminologischen Institut in Niedersachsen gekündigt, angeblich wegen eher persönlicher Gründe, Schwierigkeiten mit Herrn Pfeiffer. Ein neues kriminologisches Institut ist noch nicht gefunden worden. Haben Sie da Vertrauen, dass es wirklich noch mal objektiv angepackt wird?
Mertes: Ich habe die Hoffnung, dass die Diözesen beginnen, jeweils in ihrem Verantwortungsbereich die Sachen aufzudecken und die Berichte zu erstellen, und Berichte zu erstellen über das hinaus, was an Berichten schon da ist. Dasselbe gilt auch für die Orden, das heißt, dass die Aufklärungsarbeit, und um die geht es ja hier entscheidend, dass die eben wirklich auf der Ebene der Diözesen beginnt. Ich glaube, dass das Projekt Pfeiffer und Bischofskonferenz der Komplexität des Themas so, wie es sich stellt, letztlich nicht gerecht geworden ist in seiner Konzeption, weder bei Pfeifer, noch bei der Bischofskonferenz.
Ich glaube, dass die Diözesen noch mal einzeln ganz neu anfangen müssen, selbst Berichte zu erstellen, um dann das Material zu liefern, welches dann auch einer wissenschaftlichen Institution ermöglicht, es noch weiterhin aufzuarbeiten. Ich glaube, dass ein kriminologisches Institut damit überfordert ist, zumal ein kriminologisches Institut dazu neigt, eher täterfixiert zu sein, als wirklich noch mal den systemischen Kontext als ganzen in den Blick zu nehmen. Pfeiffer war ja einer von denjenigen, der 2010 durch alle Talkshows tingelte und sagte: Das hat alles gar nichts mit dem Zölibat zu tun. Heute hält er Interviews, in denen er sagt und unterstellt, dass das Ganze deswegen abgebrochen worden sei, weil er inzwischen den Zölibat auch infrage stellt. Mir scheint da auch die Position von Pfeiffer wirklich nicht reflektiert genug gewesen zu sein, um sich auf so ein komplexes Thema einzulassen.
Gessler: Haben Sie den Eindruck, dass mittlerweile die Kräfte, das weiter aufzuarbeiten, langsam erlahmen?
Mertes: Es gibt Erlahmungserscheinungen, es gibt auch Kreise, die eine Jetzt-ist-endlich-Schluss-Stimmung haben, aber es kommt ja nach. Im Sommer dieses Jahres ist jetzt schon wieder ein Fall herausgekommen, ein 48-jähriger Priester aus der Diözese Eichstätt, der eben in Untersuchungshaft sitzt wegen schwerwiegenden sexuellen Missbrauchs aus den Jahren 1998 bis 2001. Und in dem Moment, wo so was wieder da ist, ist das Thema ja wieder da. Das führt wieder dazu, dass das Thema da ist. Insofern glaube ich, das Entscheidende ist immer, dass die Opfer sprechen, und dieser Prozess, dass die Opfer sprechen, der erlahmt nicht.
Gessler: Weil es ihnen weiter auf der Seele brennt und sie im Grunde nie damit fertig werden?
Mertes: Ja, die einzige Möglichkeit, damit fertig zu werden, ist, es auszusprechen, und der Mut und die Bereitschaft, das auszusprechen, ist 2010 gewachsen. Es ist eben ein Tabu gebrochen. Es ist auch eine größere Bereitschaft jetzt da, zu hören, weil das Vertuschen nicht mehr funktioniert, auch weil es ja aufgedeckt worden ist und sofort als Fragestellung mit im Raum steht.
In dem Zusammenhang sind natürlich auch die Präventionsmaßnahmen, die in der Kirche eingerichtet worden sind, die greifen natürlich auch, weil zum Beispiel die Fragen des Beschwerdemanagements jetzt endlich wirklich einmal reflektiert worden sind auf der Ebene der Akteure, die in den Diözesen und den Orden dann ja handeln müssen. Insofern, glaube ich, ist da etwas geschehen. Es gibt auch in der Öffentlichkeit selbst eine Erlahmung der Aufmerksamkeit für dieses Thema, auch das habe ich beobachtet – einschließlich der Presse.
Gessler: Ja, ein bisschen beobachte ich auch, dass manche dann so die Tendenz haben, zu sagen, ja, jetzt mit dem Papst Franziskus, der wunderbaren Aufmerksamkeit, die er kriegt, und der positiven Resonanz, die er erzeugt, lass uns doch diesen unangenehmen Missbrauch jetzt nach drei Jahren etwas zur Seite legen. Haben Sie auch diesen Eindruck, dass es diese Tendenz gibt?
Mertes: Es gibt eine tiefe Sehnsucht in der katholischen Kirche und darüber hinaus nach positiven Nachrichten, die kann ich auch verstehen. Ich fand sie viel stärker beim Papstbesuch 1991 in Deutschland, da war das geradezu konzeptionell manchmal: Wir müssen endlich wieder positive Schlagzeilen bringen. Ich glaube, dass die Nachrichten von Papst Franziskus eben für alle eine große Überraschung waren. Und das macht den Unterschied aus, es ist keine gezielte positive Nachricht, die konstruiert ist, sondern hier ist etwas geschehen in der katholischen Kirche. Und das führt auch zu realer Hoffnung.
Aber Hoffnung ist nur dann tragfähig, wenn sie zugleich den Blick für die Wahrheit, auch die bitteren Wahrheiten, offenhält. Deswegen muss die Sehnsucht nach positiven Nachrichten immer konterkariert werden oder gegengewichtet werden mit einem Blick so in die Wirklichkeit, wie sie ist. Und das ist eine Auseinandersetzung, auch eine spirituelle Auseinandersetzung in der katholischen Kirche, die zurzeit da ist.
Gessler: Dies war ein Interview mit Pater Klaus Mertes. Er ist heute Direktor des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald, ebenfalls ein hochangesehenes Gymnasium. Sein Buch "Verlorenes Vertrauen – katholisch sein in der Krise" ist im Herder Verlag erschienen, hat 224 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wie viel ist da verloren? Entsteht vielleicht neues durch den neuen Papst? Wie ist das mit dem Vertrauen seines Jesuiten-Mitbruder Franz Jalics? Der hatte dem jetzigen Papst jahrelang vorgeworfen, ihn in den Zeiten der argentinischen Militärdiktatur ans Messer geliefert zu haben. Meine erste Frage an Pater Mertes aber war, ob mein Eindruck stimme, dass er so viel Vertrauen in die Kirche dann doch nicht verloren hat, trotz des Titels seines Buches und trotz des Missbrauchsskandals.
Klaus Mertes: Es gibt Vertrauen, das ich verloren habe, Vertrauen in Strukturen, auch Vertrauen in große Teile der personellen Ausstattung der gegenwärtigen Hierarchie in Deutschland auf der einen Seite. Aber ich habe zugleich letztlich großes Vertrauen sowohl auch gefunden bei vielen Katholiken als auch selbst ein Grundvertrauen gegenüber der Kirche als Gemeinschaft, die auf dem Evangelium gegründet ist, um es theologisch auszudrücken. Das heißt, ich habe ein Grundvertrauen darauf, dass man das Evangelium eben in der Kirche leben kann, und kenne auch viele Menschen, die es tun.
Gessler: Gleichzeitig zeigen Sie natürlich viel Verständnis dafür, dass gerade die Missbrauchsopfer jegliches Vertrauen verloren haben in die Kirche.
Mertes: Ja.
Gessler: Und gleichzeitig gibt es trotzdem Missbrauchsopfer, die noch irgendwie etwas mit der Kirche zu tun haben wollen. Ist das nicht etwas komisch?
Mertes: Ja, aber das ist ja gerade für mich sehr interessant. Da ist ja die Möglichkeit für mich zu hören, wie Menschen sich durch den Missbrauch nicht aus der Kirche herausdrängen lassen, sondern dass eben die Kirche und der Glaube in der Kirche gelebt, so wichtig ist, dass sie in der Kirche bleiben und auch in der Kirche und dem Evangeliumsglauben Kraft finden, mit dieser Erfahrung umzugehen. Und das heißt, ich finde doch bei den Opfern einen Glauben, von dem ich ja selbst lernen kann. Und das wäre dann auch eine Quelle für mein Vertrauen in die Kirche.
Gessler: Ist das nicht manchmal beschämend, wenn man dann doch diesen Glauben sieht, selbst der Missbrauchsopfer?
Mertes: Ja, es ist beschämend, und es ist sehr berührend und sehr, sehr bewegend. Ich muss sagen, dass ich dem Glauben der Opfer und dem Vertrauen der Opfer sehr viel verdanke, gerade in den letzten drei Jahren. Das hat meinen Glauben und mein Vertrauen gestärkt.
Gessler: Sie wurden ja angegriffen mehrmals, sowohl von Leuten in der Hierarchie als auch von einfachen Gläubigen, Laien, was hat Sie da eigentlich am meisten verletzt?
Mertes: Am meisten hat mich verletzt, wenn meine Motive verleumdet wurden, also mir zum Beispiel Eitelkeit vorgeworfen wurde oder Ähnliches, und die Verleumdungen von anderen, die mir wichtig sind, auch noch geglaubt wurden.
Gessler: Sie sagen ja in Ihrem Buch – ich versuche das mal ein bisschen zusammenzufassen –, Sie sagen: Die Opfer lehren uns, die Kirche anders zu sehen, und wir als Kirche müssen durch den Blick der Opfer unsere Kirche neu entdecken und anders entdecken. Kann man das so sagen?
Mertes: Das kann man so sagen. Ich habe ja gerade was ganz Positives gesagt, dass es Opfer gibt – muss ich vorsichtiger sagen –, die uns auch lehren, Neues und Kraftvolles und Lebensspendendes in der Kirche zu sehen. Aber wir müssen uns natürlich auch der anderen Seite stellen, nämlich, dass die Opfer mit der Kirche, und zwar nicht nur mit den Missbrauchstätern, sondern auch mit den Verschweigens- und Vertuschungsstrukturen Erfahrungen gemacht haben, in denen wir die Kirche, wir uns als Kirche, in einem Bild sehen und sehr, sehr hässlich aussehen.
Also im Kern sind das immer Geschichten über Machtmissbrauch in der Kirche, Machtmissbrauch von geistlicher Macht, elitäres Denken, Imageängste und Dinge dieser Art. Insofern führt der Blick der Opfer auf uns als Kirche dazu, dass wir, so fühle ich das, aufgerufen sind zu einer Metanoia, also griechisch gesprochen, zu einer Umkehr, zu einem Umdenken. Da stimmt etwas ganz tief in der Kirche nicht, wenn man den Opfergeschichten wirklich Vertrauen und Glauben schenkt.
Gessler: Haben Sie denn den Eindruck, dass gerade, weil hier nun leider die römisch-katholische Kirche ja ein sehr hierarchischer Laden ist, dass gerade in der Spitze dieses Metanoia-Denken angekommen ist?
Mertes: Es gibt einige Spuren, die man sehen kann. Ich verweise zum Beispiel auf den Kongress von 2012 den die Gregoriana in Rom im Auftrag des Vatikans veranstaltet hat. Und da mussten sich ja einige Hundert Bischöfe Opfergeschichten anhören. Es hat 2002 schon mal einen Kongress gegeben zum Thema Missbrauch, und wie ich von Beteiligten weiß, wurden damals praktisch nur Tätertherapeuten eingeladen. Die Opferperspektive kam gar nicht vor. Die Entscheidung, überhaupt Opfer einzuladen, ihre Geschichte zu erzählen, und die Hierarchie zu verpflichten von höchster Stelle her, sich diese Geschichten anzuhören, ist, denke ich, ein wichtiger Schritt gewesen, und ich hoffe, dass weitere Gespräche dieser Art folgen, denn das ist der Schlüssel. Zuerst einmal die Geschichten anhören.
Gessler: Nun haben sich ja auch die Täter, die noch leben, diese Geschichten angehört, die zumindest in den Medien verbreitet wurden, davon kann man ausgehen. Haben Sie denn, weil Sie jetzt so viel auch mit den Opfern zu tun hatten, auch irgendwo mal gehört, dass ein Täter vielleicht ins Grübeln gekommen ist?
Mertes: Ja, das habe ich mitbekommen. Ich hatte allerdings viel mehr Opferkontakte als Täterkontakte, und ich habe festgestellt, dass es ganz unterschiedliche Reaktionen von Tätern gibt. Es gibt die Täter, die wirklich begreifen, was sie getan haben, und bereuen. Es gibt die Täter, die begreifen, was sie getan haben, aber meinen schon, genug bereut zu haben, weil sie mit sich selbst im Reinen sind und gebeichtet haben und Ähnliches, und zwei, drei Wiedergutmachungsleistungen gebracht haben. Und es gibt Täter, die bis heute meinen, dass sie eigentlich selbst Opfer sind.
Gessler: Und wie kann man an die rankommen, oder ist das verlorene Liebesmüh?
Mertes: Das ist verlorene Liebesmüh. Das muss man einfach aushalten, so lange, bis von irgendwo anders her sich die Blackbox öffnet.
Gessler: Es gab ja, als der Skandal noch relativ neu war, zumindest für uns Deutsche neu war, diesen schrecklichen Satz von Angelo Sodano, also im Grunde die Nummer zwei im Vatikan gegenüber Papst Benedikt damals, er solle sich doch nicht kümmern um das Geschwätz des Tages. Das war einer der ganz schlimmen kirchlichen Sätze in den letzten Jahren, oder?
Mertes: Ja, ohne Zweifel. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass der Papst in dem Moment aufsteht, zu Sodano geht und sagt: Du, jetzt sei aber bitte ruhig, solche Art von Verteidigung brauche ich nicht.
Gessler: Aber er schien sich darüber gefreut zu haben, der Papst.
Mertes: Das weiß ich nicht, also ich kann nicht in den Kopf von Menschen hineinlesen.
Gessler: Sodano galt als papabile?
Mertes: Ja.
Gessler: Das heißt, es wäre möglich gewesen, dass er der nächste Papst geworden wäre.
Mertes: Ja, selbstverständlich, und das ist schon erschreckend.
Gessler: Wenn Sie jetzt nach Rom gucken unter Franziskus, Sie schreiben es in Ihrem Buch, da klingt doch sehr viel Hoffnung mit. Glauben Sie wirklich, dass das, was wir in den ersten Monaten erlebt haben, diese Option für die Armen, dass die nachhaltig ist?
Mertes: Ich glaube, dass Papst Franziskus aus zwei Erfahrungen kommt, die ganz wesentlich sind, und weswegen da eine große Stabilität ist. Es geht hier nicht nur um Dinge, die sich in seinem Kopf ereignen. Das erste ist, er kommt aus einer Erfahrung mit einem diktatorischen Regime, mit der Militärjunta, und das ist eine Lebenserfahrung, die verändert, und die ist ja auch thematisiert worden in ihrer ganzen Ambivalenz und Komplexheit.
Das heißt, Papst Franziskus hat Erfahrung mit autoritärem Machtmissbrauch, und mit der Erfahrung, wie sehr das Vertrauen erschüttern kann in einer Gesellschaft bis in die intimsten Beziehungen hinein, und wie sehr man auch dann in solchen Verhältnissen selbst straucheln kann und unsicher werden kann. Ich glaube, das ist eine ganz, ganz wichtige Erfahrung, und die bereitet Ihn sicherlich auch vor, jedenfalls hat er hier die Möglichkeit, sich auch noch mal zu öffnen, mit größerem Verständnis für die Erfahrung, die andere Menschen mit anderem Machtmissbrauch in der Kirche gemacht haben. Das ist das eine.
Das Zweite ist, er ist einfach sozial zu Hause bei den Armen. Er fühlt sich eben unter einfachen Leuten und Armen wohl, das weiß ich von den Mitbrüdern aus Argentinien und anderen, die mit ihm befreundet waren und sind. Da ist er zu Hause. Der ist eben nicht gern in fürstbischöflichem oder königlichem Ambiente zu Hause, wobei ich damit nicht dasselbe über seinen Vorgänger behaupten will. Aber er hat einfach keinen Gefallen daran, wenn er so ein Konzert wie vor vier Wochen eben absagt, weil man sich da einkaufen kann in die erste und zweite Reihe, um dann den Ring des Papstes zu küssen, dann sagt er: Da will ich gar nicht sein, da fühle ich mich nicht wohl. Er fühlt sich unter diesem prestigeträchtigen, parfümierten, gepuderten Volk eben nicht wohl, und das ist ein Habitus, das ist bei ihm verinnerlicht, das ist keine Kopfentscheidung, sondern es ist eben so. Und weil er aus einem anderen sozialen Milieu kommt, glaube ich, ist da etwas Neues im Vatikan, was auch nicht so schnell erstickt werden kann durch die realen Verhältnisse dort.
Gessler: Finden Sie, dass er seine Rolle in der Zeit der Militärjunta genug reflektiert hat?
Mertes: Dazu weiß ich zu wenig im Einzelnen. ich weiß aber, dass es zwischen ihm und dem hier in der deutschen Provinz lebenden Pater Franz Jalics ja eben auch lange Gespräche gegeben hat und einen Versöhnungsprozess gegeben hat. Und ich glaube - das sagt mir meine Intuition, das Wissen, das ich habe -, dass es eben da auch bei seiner Seite, vielleicht auch von der Seite von Franz Jalics, noch mal auch eine Reflexion gegeben hat über die Frage, was ist denn damals eigentlich schiefgelaufen, sodass es zu diesem Zerwürfnis innerhalb der argentinischen Jesuiten und der argentinischen Kirche kommen konnte.
Gessler: Zum Missbrauchsskandal habe ich bisher relativ wenig gelesen von Papst Franziskus. Ist da auch von dieser Seite noch etwas zu erwarten?
Mertes: Ich hoffe das. Ich glaube, dass das ohnehin einfach kommen wird, weil sich das Thema weiterhin stellen wird. Missbrauch wird ja weiterhin aufgedeckt und findet ja weiterhin statt, und warten wir mal ab, wie es ist, wenn da jetzt in Polen oder in Italien die Öffentlichkeit weit genug ist, oder in Lateinamerika weit genug ist, dass die Gesellschaft sich auch öffnet für die Informationen, die schon da sind. Das ist ja der entscheidende Punkt. In solchen Ländern sind die Informationen zwar auch schon da, aber die Gesellschaft als Ganzes reagiert noch nicht so, wie sie eben in den USA und Irland oder 2010 in Deutschland reagiert hat.
Das heißt, die Aufmerksamkeit für sexuellen Missbrauch ist auch wirklich einfach eine Frage, ist die Gesellschaft so weit, die Informationen, die da sind, auch wirklich anzunehmen. Und da kommt er aus einer Gesellschaft, meine ich, in der auch gesellschaftlich das Thema noch nicht so präsent ist wie eben andere Themen, wie zum Beispiel Machtmissbrauch in Diktaturen, das ist ja das große Thema in Lateinamerika und speziell in Argentinien.
Gessler: Jetzt hat die deutsche katholische Bischofskonferenz ja diesen Vertrag zur Erarbeitung einer Studie mit Herrn Pfeiffer in dem kriminologischen Institut in Niedersachsen gekündigt, angeblich wegen eher persönlicher Gründe, Schwierigkeiten mit Herrn Pfeiffer. Ein neues kriminologisches Institut ist noch nicht gefunden worden. Haben Sie da Vertrauen, dass es wirklich noch mal objektiv angepackt wird?
Mertes: Ich habe die Hoffnung, dass die Diözesen beginnen, jeweils in ihrem Verantwortungsbereich die Sachen aufzudecken und die Berichte zu erstellen, und Berichte zu erstellen über das hinaus, was an Berichten schon da ist. Dasselbe gilt auch für die Orden, das heißt, dass die Aufklärungsarbeit, und um die geht es ja hier entscheidend, dass die eben wirklich auf der Ebene der Diözesen beginnt. Ich glaube, dass das Projekt Pfeiffer und Bischofskonferenz der Komplexität des Themas so, wie es sich stellt, letztlich nicht gerecht geworden ist in seiner Konzeption, weder bei Pfeifer, noch bei der Bischofskonferenz.
Ich glaube, dass die Diözesen noch mal einzeln ganz neu anfangen müssen, selbst Berichte zu erstellen, um dann das Material zu liefern, welches dann auch einer wissenschaftlichen Institution ermöglicht, es noch weiterhin aufzuarbeiten. Ich glaube, dass ein kriminologisches Institut damit überfordert ist, zumal ein kriminologisches Institut dazu neigt, eher täterfixiert zu sein, als wirklich noch mal den systemischen Kontext als ganzen in den Blick zu nehmen. Pfeiffer war ja einer von denjenigen, der 2010 durch alle Talkshows tingelte und sagte: Das hat alles gar nichts mit dem Zölibat zu tun. Heute hält er Interviews, in denen er sagt und unterstellt, dass das Ganze deswegen abgebrochen worden sei, weil er inzwischen den Zölibat auch infrage stellt. Mir scheint da auch die Position von Pfeiffer wirklich nicht reflektiert genug gewesen zu sein, um sich auf so ein komplexes Thema einzulassen.
Gessler: Haben Sie den Eindruck, dass mittlerweile die Kräfte, das weiter aufzuarbeiten, langsam erlahmen?
Mertes: Es gibt Erlahmungserscheinungen, es gibt auch Kreise, die eine Jetzt-ist-endlich-Schluss-Stimmung haben, aber es kommt ja nach. Im Sommer dieses Jahres ist jetzt schon wieder ein Fall herausgekommen, ein 48-jähriger Priester aus der Diözese Eichstätt, der eben in Untersuchungshaft sitzt wegen schwerwiegenden sexuellen Missbrauchs aus den Jahren 1998 bis 2001. Und in dem Moment, wo so was wieder da ist, ist das Thema ja wieder da. Das führt wieder dazu, dass das Thema da ist. Insofern glaube ich, das Entscheidende ist immer, dass die Opfer sprechen, und dieser Prozess, dass die Opfer sprechen, der erlahmt nicht.
Gessler: Weil es ihnen weiter auf der Seele brennt und sie im Grunde nie damit fertig werden?
Mertes: Ja, die einzige Möglichkeit, damit fertig zu werden, ist, es auszusprechen, und der Mut und die Bereitschaft, das auszusprechen, ist 2010 gewachsen. Es ist eben ein Tabu gebrochen. Es ist auch eine größere Bereitschaft jetzt da, zu hören, weil das Vertuschen nicht mehr funktioniert, auch weil es ja aufgedeckt worden ist und sofort als Fragestellung mit im Raum steht.
In dem Zusammenhang sind natürlich auch die Präventionsmaßnahmen, die in der Kirche eingerichtet worden sind, die greifen natürlich auch, weil zum Beispiel die Fragen des Beschwerdemanagements jetzt endlich wirklich einmal reflektiert worden sind auf der Ebene der Akteure, die in den Diözesen und den Orden dann ja handeln müssen. Insofern, glaube ich, ist da etwas geschehen. Es gibt auch in der Öffentlichkeit selbst eine Erlahmung der Aufmerksamkeit für dieses Thema, auch das habe ich beobachtet – einschließlich der Presse.
Gessler: Ja, ein bisschen beobachte ich auch, dass manche dann so die Tendenz haben, zu sagen, ja, jetzt mit dem Papst Franziskus, der wunderbaren Aufmerksamkeit, die er kriegt, und der positiven Resonanz, die er erzeugt, lass uns doch diesen unangenehmen Missbrauch jetzt nach drei Jahren etwas zur Seite legen. Haben Sie auch diesen Eindruck, dass es diese Tendenz gibt?
Mertes: Es gibt eine tiefe Sehnsucht in der katholischen Kirche und darüber hinaus nach positiven Nachrichten, die kann ich auch verstehen. Ich fand sie viel stärker beim Papstbesuch 1991 in Deutschland, da war das geradezu konzeptionell manchmal: Wir müssen endlich wieder positive Schlagzeilen bringen. Ich glaube, dass die Nachrichten von Papst Franziskus eben für alle eine große Überraschung waren. Und das macht den Unterschied aus, es ist keine gezielte positive Nachricht, die konstruiert ist, sondern hier ist etwas geschehen in der katholischen Kirche. Und das führt auch zu realer Hoffnung.
Aber Hoffnung ist nur dann tragfähig, wenn sie zugleich den Blick für die Wahrheit, auch die bitteren Wahrheiten, offenhält. Deswegen muss die Sehnsucht nach positiven Nachrichten immer konterkariert werden oder gegengewichtet werden mit einem Blick so in die Wirklichkeit, wie sie ist. Und das ist eine Auseinandersetzung, auch eine spirituelle Auseinandersetzung in der katholischen Kirche, die zurzeit da ist.
Gessler: Dies war ein Interview mit Pater Klaus Mertes. Er ist heute Direktor des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald, ebenfalls ein hochangesehenes Gymnasium. Sein Buch "Verlorenes Vertrauen – katholisch sein in der Krise" ist im Herder Verlag erschienen, hat 224 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.