Jüdische Geflüchtete
Flüchtete mit ihrer Mutter, Tante und Großmutter vor dem Krieg in der Ukraine: die 23-jährige Jolie Ruslichenko (l.). © Michael Brandt
Zuflucht in der deutschen Gemeinde
09:12 Minuten
Mehr als 270.000 Menschen sind vor dem Ukraine-Krieg nach Deutschland geflüchtet. Darunter sind auch jüdische Familien. Anschluss finden viele in jüdischen Gemeinden, etwa in Niedersachsen.
Vier ukrainische Frauen sitzen im idyllischen Garten eines Einfamilienhauses in Hannover. Die 23-jährige Jolie Ruslichenko, ihre Tante, Mutter und Großmutter. Als ihr Haus in Charkiw nach einer Woche Krieg von Raketen beschädigt wurde, flohen die vier Frauen. Das Nachbarhaus sei komplett niedergebrannt. Auch in Hannover beschäftigen Jolie Ruslichenko die Kriegserlebnisse noch.
„Gestern bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, weil ich Flugzeuge hörte. Ich hatte eine richtige Panikattacke, weil ich Angst hatte, dass sie kommen.“
Irgendwas in ihr habe ihr gesagt: Renn einfach! Und das, obwohl sie eigentlich wisse, dass sie nun in Sicherheit ist.
Vier Frauen teilen sich ein Zimmer
Eine Familie aus der liberalen Gemeinde hatte die ukrainischen Frauen spontan aufgenommen. Alle vier teilen sich ein Zimmer. Auch die kleine Familienhündin Margo hat ein neues Zuhause gefunden. Stolz nimmt die 23-Jährige ihre Margo auf den Arm, mit einem Lächeln. Die Stimmung im Haus ist herzlich – sprachlich hilft Jolie Ruslichenko oft aus. Die Philologin spricht vier Sprachen. Trotzdem ist sie unsicher, wie es für sie weitergeht.
"Wir sind hier für jede Frage"
Eine Sorge, die Sterna Wolff gerade öfter hört. Die Vorsitzende der Chabad-Gemeinde in Hannover ist derzeit fast rund um die Uhr beschäftigt. Sie und andere Gemeindemitglieder helfen ukrainischen Geflüchteten.
„Die einen brauchen Essen, die anderen brauchen eine SIM-Karte, die dritte braucht (einen Ort) zum Wohnen, die vierte braucht einfach Hilfe: Sachen, Kleidung. Wir sind hier für jede Frage.“
Die Handys von Shterna Wolff und anderen Gemeindemitgliedern scheinen nicht still zu stehen.
Auch Abraham Toubiana versucht, seine Handyleitung immer freizuhalten. Für ukrainische Geflüchtete. Er ist der Geschäftsführer des Landesverbands jüdischer Gemeinden von Niedersachsen. Das Interview kann er erst am späten Abend telefonisch führen. Toubiana holt da gerade mit einem Transporter Benzinkanister für Busse im moldawischen Kishinew. Von dort sollen Geflüchtete nach Deutschland geholt werden.
Überwältigt von der Solidarität in Deutschland
„Sie hören an meiner Stimme: Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich die ganze Zeit Meldungen bekomme von Leuten, die von Kishinew nach Berlin, nach Hannover, nach Heiligendamm wollen. Und wir versuchen, das momentan irgendwie zu managen.“
In Heiligendamm hat ein Spender kurzfristig Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Insgesamt sei Toubiana von der Solidarität in der deutschen Gesellschaft überwältigt. Eine Solidarität, die er sich auch gewünscht hätte, als die syrischen Geflüchteten kamen. In Hannover hat der Landesverband jetzt im Handumdrehen ein ehemaliges Altenheim umgebaut – gemeinsam mit der palästinensischen Gemeinde.
Spenden, Hilfspakete und Transporte von Geflüchteten – all das ist auch bei der liberalen Gemeinde in Hannover gefragt. Yevgen Bruckmann ist ihr stellvertretender Vorsitzender.
„Gerade haben wir auch gar keinen Überblick davon, welche jüdischen Geflüchteten kommen, welche nicht-jüdischen. Das ist auch gerade völlig zweitrangig, wenn nicht sogar drittrangig.“
Ukrainer und Russen helfen
Sie helfen einfach jedem – das betonen alle Gemeinden deutlich. Unter den Gemeindemitgliedern packe auch jeder mit an, ob aus der Ukraine oder aus Russland. Anders als 2014 nach der Krim-Annexion, damals habe es auch politische Streitereien innerhalb der Gemeinden gegeben.
„Das kann ich gerade weder bei uns groß beobachten, noch in den meisten anderen. Selbst wenn Leute vorher vielleicht positiv gegenüber Russland und Putin eingestellt waren – seit Kriegsbeginn hat das tatsächlich bei den allermeisten Leuten ein Ende genommen.“
Aus einigen Gemeinden ist abseits des Mikrofons zu hören, dass es Einzelfälle gebe, die viel russisches Staatsfernsehen schauten und dadurch wohl beeinflusst seien. In einigen Synagogen vermeide man daher politische Debatten zum Krieg.
Vom Freudenfest zum Fest der Hoffnung
Vor allem zu Purim, das vor wenigen Wochen gefeiert wurde. Purim es ist eigentlich das Freudenfest schlechthin im jüdischen Kalender, bunte Kostüme und Partys gehören dazu - auch bei der jüdischen Gemeinde Hannover und der orthodoxen Chabad-Gemeinde. In diesem Jahr sind dort aber auch Frauen und Kinder dabei, die vor dem Ukraine-Krieg fliehen mussten:
„Purim ist für mich mein liebster Feiertag und auch für meine Kinder. Aber in diesem Jahr ist es nicht nur ein Feiertag, sondern wir verbinden damit auch große Hoffnungen - dass der Krieg zu Ende geht", sagt Viktoria aus Dnipro in der Zentralukraine. Die 31-Jährige arbeitete dort noch bis vor ein paar Wochen selbst in der Chabad-Gemeinde, war dabei, die Purim-Feier zu organisieren. Dann kam der Krieg.
„Am 24. Februar sind wir alle früh morgens plötzlich aufgewacht – von den vielen Anrufen und Raketeneinschlägen.“
Angst, auf die Straße zu gehen
Viktoria packte hastig ein paar Sachen. Sie, ihre beiden Kinder und ihre Mutter konnten fliehen. Ehemann und Vater durften die Ukraine aber nicht verlassen.
„Für uns hier ist es schwierig – mein Ehemann und mein Vater sind noch da drüben. Aber auch für sie ist es schwierig. Wir fehlen ihnen. Und sie sind im Krieg.“
Tochter Sara wirkt beim Kinderschminken zunächst etwas nachdenklich. Erst nach und nach kommt sie ins Gespräch mit anderen Kindern. Sonst sei Sara die aufgeschlossenste in der ganzen Familie, sagt Mutter Viktoria, aber:
„Die Flucht hat sich stark auf die Kinder ausgewirkt. Meine Tochter hatte Angst, auf die Straße rauszugehen und sie hatte auch Angst vor Leuten. Wenn Krankenwagen vorbeifuhren, dachte meine Tochter, es wäre Raketenalarm.“
Die Koffer passten nicht in den überfüllten Zug
Eine Woche vor der Purim-Feier, nur wenige Tage nach ihrer Ankunft, sitzt Sara auf dem Schoß ihrer Mutter, sagt wenig. Nur das: Sie vermisse ihren Papi und ihren Opa. Und auch ihre Schule, sagt Sara.
Die Strapazen der Flucht sieht man der Achtjährigen deutlich an. Nach etwa einer Woche kam die Familie in Hannover an. Nur mit ein paar Rucksäcken. Ihre Koffer mussten sie am Bahnhof ihrer Heimatstadt zurücklassen – die passten nicht in den überfüllten Zug.
„Wir wissen, wie es ist, in Aufnahmelagern zu sein"
Der 25-jährige Yevgen Bruckmann von der liberalen Gemeinde ist auch Anfang der 2000er aus der Ukraine nach Hannover gekommen. Er ist in Charkiw geboren. Seine Familien waren Kontingentflüchtlinge, so wie viele Gemeindemitglieder.
„Wir wissen, wie es ist, in Aufnahmelagern zu sein. Dort sind die meisten von uns durchgegangen, meine Familie auch. Gerade dieses Ankommen und sich zurechtfinden – da haben wir Erfahrungen und sind sehr froh, dass wir diese Erfahrungen jetzt auch nochmal nutzen können, um es den Leuten möglichst einfach zu machen.“
Auch Bruckmanns Großvater gelang mit einem der wohl letzten Busse die Flucht Charkiw, so wie auch Jolie Ruslichenko und einem Teil ihrer Familie.
Viele Freunde müssen in Charkiw ausharren
Aber viele ihrer Freunde und Familie müsse noch in Charkiw ausharren. Das sei gerade ihre größte Sorge, sagt die 23-Jährige. Sie könne ihnen einfach nicht helfen, auch ihrem Vater nicht. „Jeden Tag schreibe ich ihm und frage: Bist du am Leben? Es ist furchtbar, diese Frage zu stellen, aber das ist momentan unsere Realität.“
Sie fühle sie sich machtlos wegen des Kriegs, sagt Ruslichenko. Und auch etwas schuldig, dass sie nun in Sicherheit sei, andere aber nicht.
Erst vor wenigen Tagen ist Boris Romantschenko durch einen russischen Raketenangriff auf seine Heimatstadt Charkiw getötet worden. Der 96-Jährige hatte mehrere Konzentrationslager überlebt.
„Ich war völlig schockiert. Es ist so sinnlos. Und es tut mir so leid um ihn. Raketen aus Russland haben ihn getötet - unserem Nachbarland, dass sich einfach entschieden hat, uns zu besetzen. Ich weiß nicht, wie ich das später mal meinen Kindern erklären soll.“
Shoah-Überlebende nach Deutschland geflüchtet
Mittlerweile sind etwa 20 Shoah-Überlebende aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Einige sind in Seniorenheimen untergekommen.
Jolie Ruslichenko habe auch zu Hause in der Ukraine immer gerne mit angepackt, sei sehr aktiv in der jüdischen Jugendorganisation Hillel gewesen. Nun hat sie ein Ziel: Sie möchte auch hier eine Jugendorganisation gründen. Beim Neustart in Hannover hilft Gastgeber Samuel Frenkel den Ukrainerinnen. Der ehemalige Deutschlehrer begleitet sie zu verschiedenen Ämtern.
„Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet, aber ich muss natürlich mit ihnen auf die Ämter gehen. Das ist eigentlich das, was ich nicht so schön finde an der Geschichte. Ansonsten: Das Zusammenleben geht bis jetzt sehr gut.“
Dank einer Initiative des Zentralrats sollte es nun für Jüdinnen und Juden einfacher möglich sein, auch in Deutschland unbürokratisch einen Antrag auf Zuwanderung zu stellen. Der Zentralverband hat sogar eine Hotline eingerichtet. Russischsprachige und deutschsprachige Mitarbeitende beraten dort zur Antragsstellung und vermitteln Kontakte zu jüdischen Gemeinden. Wer aber eine eigene Wohnung sucht, der muss trotzdem zum Sozialamt.