"Ich versuche, in die Psyche einer einzigen Figur zu kriechen"

Chris Kraus im Gespräch mit Britta Bürger |
Mit "Poll" erzählt Autorenfilmer Chris Kraus die Geschichte der Dichterin Oda Schaefer, die ihm ganz besonders am Herzen liegt. Zufällig stieß er in den 80er-Jahren darauf, dass sie beide zur selben Familie gehören. In Estland hat er mit viel Aufwand sein filmisches Langzeitprojekt realisiert.
Britta Bürger: "Poll", der neue Film von Chris Kraus, kommt in dieser Woche in die deutschen Kinos. 14 Jahre lang hat der Regisseur an der Entwicklung dieses Projekts gearbeitet. Er hat selbst das Drehbuch geschrieben, es muss sich also um eine echte Herzensangelegenheit handeln, denn mit ihrer Hauptfigur Oda folgen Sie den Spuren Ihrer eigenen Familiengeschichte. Was verbindet Sie mit Oda?

Chris Kraus: Ganz banal gesagt erst mal die Verwandtschaft, und das herauszubekommen, war für mich schon ein Abenteuer, denn sie war eine Verwandte, die nicht bekannt war in meiner Familie, jedenfalls nicht in meiner Generation. Es wurde nicht über sie gesprochen. Ich bin per Zufall in den 80er-Jahren, als ich Literatur studiert habe, auf ihre Existenz gestoßen. In einer Bibliothek in Mannheim habe ich ein Buch gefunden von einer Oda Schaefer, geborene Kraus, und stellte fest: Hoppla!, in den Memoiren wird ja meine Familiengeschichte beschrieben, aus einer anderen Perspektive, und das hat mich natürlich auch schockiert, aber auch fasziniert.

Und es stellte sich dann raus, dass sie – was es in vielen deutschen Familien übrigens gab – einfach im falschen politischen Spektrum war, sie war eben links und ich komme aus einer sehr rechtskonservativen Familie. Und das passte einfach nicht ins Bild. Und dann habe ich eben versucht herauszubekommen, was ist da schiefgegangen bei uns oder auch bei ihr, und hab mich dann sehr für ihre Biografie interessiert.

Bürger: Und doch ist "Poll" jetzt kein Biopic der Dichterin Oda Schaefer, sondern diese Figur Oda wird verwoben mit einer zum Teil auch fiktiven Geschichte im Milieu der deutsch-baltischen Oberschicht im Jahr 1914. Bevor Sie jetzt in Berlin an der Deutschen Film- und Fernsehakademie studiert haben, wollten Sie ja eigentlich Historiker werden. Diesem Interesse folgen Sie jetzt mit dem Film auf andere Weise. Was hat Sie genau an diesem historischen Ausschnitt interessiert?

Kraus: Ach, wie das so oft ist, das war tatsächlich auch ein Zufall. Ich bin 1993 mit meiner Familie, also nach dem Ende der Sowjetunion, nach Estland gefahren, wir haben uns sozusagen die Heimat unserer Vorfahren angesehen. Ich kam dann nach Poll und das war ein ganz verwunschener, auch kaputter Ort, und ich war damals ein junger Filmstudent und hatte sofort eine Begeisterung für diesen Ort und für die Zeit, die er auch repräsentierte, weil seit 1918/20 schien da nichts mehr passiert zu sein.

Bürger: Das heißt, Sie brauchten eine junge Hauptdarstellerin, und die Schülerin Paula Beer war während des Drehs tatsächlich gerade mal 14 Jahre alt, hat für ihre Darstellung jetzt auch gerade den Bayerischen Filmpreis bekommen. Wie haben Sie diese Jugendliche entdeckt und was hat sie Besonderes, was 2000 andere gecastete nicht hatten?

Kraus: Na ja, erst mal ist das wirklich ein langer Slalomlauf, den ich gar nicht renne, laufe – das macht die Castingfirma, das ist die Nina Haun, die mit ihren Mitarbeitern wirklich anderthalb Jahre gesucht hat. Das ist ja wie das Suchen einer Stecknadel im Heuhaufen – und noch dazu deshalb erschwerend, weil diese kleine Stecknadel dann ein riesiges, tonnenschweres Gebilde und vor allem auch millionenschweres Gebilde tragen muss.

Also es war uns klar, es musste ein Mädchen sein, das fast noch nie gespielt haben kann. Das war sozusagen die Aufregung für uns alle. Ich selber habe sie dann - sozusagen - ich habe mich entschieden für sie, nachdem sie entdeckt wurde auf einem Schulhof. Bei einem ganz klassischen Streetcasting heißt das neudeutsch, also macht man heute gar nicht mehr, weil die Kids wollen ja alle ins Fernsehen und bewerben sich eigentlich zu Milliarden bei diversen Sendern, die wir alle kennen. Und das war bei ihr nicht so, sie hätte das nie getan, passte gar nicht zu ihrem Familienumfeld. Wir haben sie also wirklich klassisch gefunden.

Und ich fand an ihr so betörend – neben dem Talent, das sie hat, das man nicht beschreiben kann – den unbedingten Willen, die unbedingte Ernsthaftigkeit, mit der sie darangegangen ist, die eben was sehr, sehr Reifes und Erwachsenes hatte. Das heißt, ihr Gehirn ist sehr, sehr viel älter als der Rest ihres Wesens, ihres Körpers auch. Und das fand ich reizvoll, und das hatte ich eben bei Oda Schaefer auch vermutet, die von sich schrieb: Sie war eine Philosophin, gar nicht mal eine kleine, sondern schon eine große Philosophin mit 14.

Bürger: Edgar Selge spielt den Vater von Oda, der ja tatsächlich Schriftsteller und Journalist war, im Film nun aber ein Hirnforscher ist. Teile des Hauses gleichen auch einem geheimnisvollen Labor mit Regalen voller Schädeldecken und Gläsern mit Gehirnen drin, die in Formaldehyd eingelegt sind. Wofür steht das Gebiet der Hirnforschung jetzt im Kontext dieser Geschichte?

Kraus: Es geht ganz stark darum, wie findet man zu sich selber, eine Identitätsfindung – wie wird man zum Ich. Und wir werden ja alle viel, viel stärker geprägt durch unsere Umwelt, als wir das vor allem in diesem Alter glauben, das ist ja ganz bekannt. Es gibt eine schöne Geschichte von Hemingway, die das beschreibt, "Indianerlager" heißt das, wo jemand glaubt, also etwas Furchtbares erlebt und dann glaubt, ich werde niemals sterben.

Und ich wollte zeigen auf der einen Seite diese Selbstfindung und auf der anderen Seite, was damals sehr modern war, das Gegenteil, eine Vorprägung, eine Determinationstheorie, die dann ja auch vom Rassismus unterstützt wurde. Und der Rassismus ist eines der prägenden und schrecklichen Linien gewesen im 20. Jahrhundert. Und dazu passte ein Hirnforscher sehr gut, der sowohl die Moderne repräsentierte als auch eben das Gegenteil dieser Selbstfindung, was ich erzählen wollte, der gesagt hat: Im Grunde genommen ist jeder hier in meiner Familie determiniert.

Und natürlich habe ich mich auf die Seite von Oda geschlagen, weil ich das eben auch faszinierend an der echten Oda Schaefer fand, dass sie sich gegen die doch sehr starren Strukturen ihrer Familie gewandt hat und etwas Eigenes entwickelt hat: eine eigene Weltanschauung, ein eigenes Wertesystem. Und das ist sehr schmerzhaft, wenn man sich damit gegen seine Familie stellt, die einen natürlich fallen lässt.

Bürger: Zum Start seines neuen Films "Poll" ist der Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus unser Gast hier im Deutschlandradio Kultur, und es gibt ja noch einen heimlichen Hauptdarsteller in dem Film, nämlich das Haus, in dem das Ganze spielt: den Gutshof Poll. Das ist eine Art Renaissancepalast auf Stelzen im Meer, der extra für den Film gebaut wurde. Gibt es, Herr Kraus, nicht tausend andere verlassene Gutshöfe, die man hätte umbauen können? Warum war dieser enorme Aufwand nötig?

Kraus: Warum baut man in der Oper die abstrusesten Szenenbilder, um einen Menschen, eine kleine Ameise in seine Umwelt glaubhaft zu setzen? Das ist natürlich auch die Frage bei diesem Film gewesen. Ich wollte die Welt, in die Oda kommt, eine sehr exotische Welt, glaubhaft wiederherstellen, und wir waren in ganz vieler Hinsicht authentisch, soweit, dass wir sogar das Baltendeutsch, das mittlerweile ausgestorben ist, wieder rekreiert haben. Aber wir haben kein Gut gefunden in zwei Jahren Suche in ganz Osteuropa, von dem ich überzeugt war, dass es diesen besonderen Ort – deshalb heißt der Film ja "Poll", nach dem Ort –, diesen ganz, ganz, ganz besonderen Ort symbolisch überhöht wiedergibt.

Es war mir klar, das muss ein Hauptdarsteller sein, so hat Oda Schaefer diesen Ort auch beschrieben. Es musste etwas ganz Besonderes sein, wenn auch nur aus der subjektiven Sicht des Mädchens. Ich fand diesen Zauber nicht. Und dann haben wir ihn hergestellt. Wir haben am Ende entschieden, dass wir in Estland drehen, am Originalort, und hatten einen wunderschönen einsamen Strand, ganz nah am Naturschutzgebiet gefunden und haben dann diesen Ozeandampfer ja fast fellinesk gebaut.

Bürger: Sie haben es eben schon angedeutet: Man wundert sich am Anfang des Films über die Sprache, die man nur schwer versteht, denn die Schauspieler sprechen zum Teil den alten Dialekt der Deutschbalten. Ist das eigentlich noch eine andere Sprache als Ostpreußisch?

Kraus: Die Balten sagen ja, aber das ist ungefähr der Unterschied zwischen, weiß nicht, Schwäbisch und Bayerisch. Das heißt, für einen Hamburger ist es dasselbe, die Schwaben und Bayern verstehen das überhaupt nicht, es sind vollkommen unterschiedliche Sprachstämme. Es ist tatsächlich was anderes, die haben eine ganz andere Melodie, sprechen dieses breite R, aber haben sonst etwas viel Melodiöseres. Und wir haben uns dann auch gestritten, ob man das überhaupt so machen kann, weil in Estland hatte man einen anderen Dialekt als wiederum in Lettland.

Bürger: Warum war Ihnen das dann noch wichtig?

Kraus: Ich glaube, das Tolle ist, dass man durch die Sprache immer daran erinnert wird, dass man sich in einer anderen Zeit befindet, und ich liebe ja die Sprache. Ich habe ja als Autor begonnen, und ich finde halt, dass die Sprache ganz stark bei so einem Culture Clash, den wir ja erzählen, in einer Geschichte, in der Deutsche aus dem Baltikum, eine Deutsche aus Berlin, Esten, Russen aufeinandertreffen, dass da die Sprache unheimlich wichtig ist, und deshalb sprechen auch alle Beteiligten ihre Sprache.

Bürger: "Poll", das ist richtig großes Kino mit gewaltigen Szenenbildern, extrem vielen Ausstattungsdetails, aufwendigen Kamerafahrten und Schlüssellochperspektiven, Licht- und Wetterinszenierung, aber auch jeder Menge Blut und Wunden in Großaufnahme. Ich habe gedacht, das ist so eine Art Gegenentwurf zu Michael Hanekes "Das weiße Band", der ja auch auf starke Bildgemälde setzt, auch 1914 spielt, allerdings in Schwarz-Weiß und mit extrem reduzierten Details. Welche Überlegungen haben Sie zu Ihrer visuellen Auflösung gehabt, die ja doch sehr viel dicker aufträgt?

Kraus: Also ich kann nur sagen - Michael Haneke hat übrigens den - wir haben das parallel ja vorbereitet, und ich glaube, er hat ein halbes Jahr vor uns, nein, er hat ungefähr ein Jahr vor uns gedreht, übrigens auch 1993 gestartet sein Projekt. Da gibt es also eine Menge Parallelen. Aber er seziert ja eine Gesellschaft, was ich nicht tue, sondern ich versuche, in die Psyche einer einzigen Figur zu kriechen, und erlaube mir deshalb auch, was ich legitim finde, Übertreibungen.

Ja, wie das eben ist, wenn man aus einer ganz bestimmten Perspektive guckt: Dann gibt es eine verzerrte Wirklichkeit, und dieses Verzerren mache ich mit vielen filmischen, musikalischen Mitteln auch. Und das ist bei einer solchen Versuchsanordnung, wie sie Michael Haneke macht, illegitim, das würde gar nicht funktionieren.

Bürger: Sie haben dort in Estland in völliger Abgeschiedenheit mehrere Monate lang gedreht. Was waren, jetzt im Rückblick, für Sie persönlich die größten Schwierigkeiten?

Kraus: Wir nannten das irgendwann den Fitzcarraldo-Effekt. Ob man nun im Amazonas im Dschungel sitzt oder da in Osteuropa, ist letztlich egal. Es ist halt ohne die Hilfsmittel der Zivilisation, die man gerade beim Filmemachen braucht. Es gibt kein Techniklager, es gibt keine Hotels, es gibt einfach nichts, man muss alles dorthin karren. Und das haben wir unterschätzt, das war Dschungelcamp fast. Ich hoffe, mit einem anderen Ergebnis.

Bürger: "Poll", der neue Film von Chris Kraus, kommt am Donnerstag in die deutschen Kinos, und ich danke Ihnen für das Gespräch!

Kraus: Vielen, vielen Dank!