"Ich weiß jetzt, dass ich nur ein Staubkorn bin"

Von Christian Linder |
Er sei nicht an einem Mangel, sondern an der Überfülle von Leben gestorben, wünschte Thomas Wolfe in seinen Nachrufen zu lesen. Tatsächlich gierte der Schriftsteller nach Leben, was sich ungefiltert in seinen Werken wiederfand. Besondere Glücksmomente durchlebte er im Berlin der 20er-Jahre.
Die öffentlichen Auftritte des knapp zwei Meter großen und zwei Zentner schweren Mannes hatten allein schon durch dessen physische Präsenz etwas Überwältigendes. Wenn man dann noch wusste, wer er war, nämlich einer der berühmtesten amerikanischen Schriftsteller zu Lebzeiten, konnte Thomas Wolfe sich aller Aufmerksamkeit sicher sein.

So wie er auftrat – maßlos, besitzergreifend - schrieb er auch.

"Die Summe dessen, was wir sind, hat keiner von uns je ermessen; man versetze uns zurück in Blöße und Nacht und wird vor 4000 Jahren auf Kreta die Liebe keimen sehen, die gestern in Texas ihr Ende fand."

Schon der Anfang des 1929 erschienenen Romans "Schau heimwärts, Engel" signalisierte Thomas Wolfes Anspruch, das Leben als Ganzes zu sehen und in den Griff zu bekommen. Seine Prosa las und hörte sich an wie eine donnernde Brandung:

"Die Saat unseres Untergangs wird in der Wüste aufgehen, das Gegengift wächst aus den Gebirgsfelsen, und durch unser Leben spukt eine Schlampe aus Georgia, weil in London ein Taschendieb dem Galgen entging. Jeder Moment ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Augenblick ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten."

Wie Hiob wollte Thomas Wolfe aus seiner innersten Erfahrung sprechen und schrieb nur über das, was er selbst erlebt und erfahren hatte. "Schau heimwärts, Engel" ist die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in Asheville im amerikanischen Bundesstaat North Carolina, wo Wolfe am 3. Oktober 1900 als Sohn eines kinderreichen und trinkfreudigen Steinmetzen deutscher Herkunft und einer puritanischen Mutter schottisch-irischer Abstammung geboren wurde.

Ihr hatte Wolfe sein Schreibprogramm als 23-Jähriger in einem Brief angekündigt:

"Leben – das Einzige, worauf es ankommt. Es ist wild, grausam, edel, leidenschaftlich, selbstsüchtig, dumm, hässlich, schön, schmerzlich, freudvoll – dies alles ist es und mehr, und dies alles muss ich erkennen und, bei Gott, ich werde es erkennen, mögen sie mich dafür kreuzigen."
Einmal fiel er dadurch auf, dass er die Bäume am Kurfürstendamm umarmte
Der Erfolg des Romans "Schau heimwärts, Engel" erlaubte es Wolfe, eine Dozentenstelle an der New Yorker Universität aufzukündigen und als freier Schriftsteller zu leben. Er reiste viel, war oft auch im alten Europa unterwegs, in England, Frankreich und Deutschland, und schrieb alles auf, was er sah und hörte und roch. Keinen bekritzelten Zettel, den er nicht aufbewahrte; zwei Kisten voller Papiere schleppte er auf seinen Reisen mit sich herum. In Deutschland fühlte er sich wohl, auch weil er – bevor er 1936 als Besucher der Olympischen Spiele unter der Propaganda-Maske die Fratze des deutschen Faschismus erkannte – Ende der 1920er-Jahre in Berlin zwei Glückserlebnisse gehabt hatte. Einmal fiel er dadurch auf, dass er die Bäume am Kurfürstendamm umarmte. Das zweite Erlebnis:

"Dann endlich kam der Tag, an dem ich morgens durch das Brandenburger Tor und über die bezaubernden Alleen des feenhaft grünen Tiergartens in Berlin ging und den Ruhm an meiner Seite spürte. Nach langen mühseligen Jahren harter Arbeit erfüllte sich für die gequälte Seele mein Traum: nun konnte ich aufatmen und mein unmögliches Verlangen wurde mit einem Zauberschlag erfüllt."

Doch das blieb ein Traum, wie auch der Wunsch, als Theaterautor zu reüssieren, unerfüllt blieb. Auf- und ausatmen konnte Thomas Wolfe allein deshalb nie, weil sein Schreibzwang ihn ständig wild drauflos erzählen ließ, ohne dass er sich – im Gegensatz etwa zu seinen zeitgenössischen Kollegen Faulkner und Hemingway – um eine Struktur kümmerte, die ihm für einen Augenblick wenigstens die Illusion verschafft hätte, zu einem Ende und zur Ruhe gekommen zu sein. Seinen Büchern lagen wüst aussehende, von notizartigen Aufzeichnungen überquellende Manuskripte zugrunde, vieles kreuz und quer geschrieben, sodass sein Lektor sie erst in eine halbwegs lesbare Form bringen musste. Angesichts dieses Mitteilungsdrangs blieb dem Lektor nichts anderes übrig, als seinen Autor immer wieder zu ermahnen, nicht endlos an einem neuen Buch fortschreiben zu wollen. Wohl nur deshalb konnte der Roman "Von Zeit und Strom" erscheinen.

Thomas Wolfe starb am 15. September 1938 mit nur 37 Jahren an einer Lungenentzündung. Die Papiermenge, die er beschriftet hatte, reichte aus, um posthum noch zahlreiche Prosabücher wie "Geweb und Fels" oder "Es führt kein Weg zurück" sowie eine umfangreiche Korrespondenz zu veröffentlichen. Im letzten Brief Thomas Wolfes an seinen Lektor steht die Bilanz nach diesem kurzen, aber mit nahezu rauschhaft aufgesogenen Wahrnehmungen überfüllten Leben:

"Ich weiß jetzt, dass ich nur ein Staubkorn bin."

Rezensionen von Wolfes Werken:
Eine Geschichte von Aufstieg und Fall - Thomas Wolfe: "Die Party bei den Jacks"

Lebenspralle Menschenschilderung - Buch der Woche, Thomas Wolfe: "Schau heimwärts, Engel"