"Ich will das Böse fotografieren"

Rezensiert von Carsten Hueck · 15.09.2006
Vor 35 Jahren nahm sich die Fotografin Diane Arbus in New York das Leben. Die Biografie "Schwarz & Weiß" zeichnet das Leben der radikalen und eigenwilligen Künstlerin nach, die beim Fotografieren von Freaks und beim Sex "authentische Erfahrungen" gesucht hat.
Die Fotos der Diane Arbus konfrontieren uns auch heute noch - 35 Jahre nach ihrem Freitod - mit einem verstörenden, subversiven Blick auf den Menschen. Als Klassiker der modernen Fotografie erzählen sie von Entfremdung, Isolation und irritierender Sexualität. Es sind schonungslos "hässliche" Porträts von Reichen und Armen, von Prominenten und Normalbürgern - vor allem aber von gesellschaftlichen Außenseitern: Transvestiten, Kleinwüchsige, Prostituierte und Tätowierte, Zwerge und Behinderte bevölkern die schwarz-weiße Welt der Diane Arbus.

Das Extreme, Fremde, Verbotene und Perverse zog die Tochter aus gutem Hause magisch an. Diane Arbus - so schildert sie die Biografien Patricia Bosworth - war eine obsessive Künstlerin: intelligent, hochbegabt, schüchtern, sexsüchtig und depressiv. Eine Frau, die sich in der Männerwelt behauptete, sich selbst aber nicht gewachsen war, die ihre Kunst aus dem Widerspruch von gesellschaftlichen Konventionen und eigenen Bedürfnissen schuf. Ihre Fotos haben unser Sehen verändert und ästhetische Maßstäbe verschoben. Diane Arbus hat das Spektrum von Themen, das in der Fotografie bearbeitet wird, entscheidend erweitert.

Patricia Bosworth erzählt Diane Arbus' Leben chronologisch: Sie wurde 1923 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren. Ihre Familie besaß ein namhaftes Pelz- und Modekaufhaus in der "Fifth Avenue". Die Eltern kultivierten einen neureichen Lebensstil. Sommerferien verbrachte man in Europa, die Erziehung der Kinder überließ man Angestellten. Kindermädchen und Chauffeur kümmerten sich um Diane und ihre beiden jüngeren Geschwister Howard und Renée.

Obgleich wohlbehütet, beklagte sich Diane später über die "emotionale Leere" im Elternhaus - die "Irrealität", in der sie aufwuchs. Früh entwickelte sie künstlerische Interessen, wie auch ihre Geschwister. Bruder Howard wurde Dichter, ihre jüngere Schwester Bildhauerin.

Die Frage nach "Wirklichkeit" und "Normalität" beschäftigte Diane Arbus von früh auf. "Alice im Wunderland" war ihr Lieblingsbuch. Später faszinierten sie die Erzählungen von Kafka und Borges. Georges Grosz - bei dessen Schülerin Dorothy Thompson sie Zeichenunterricht nahm - wurde ihr Lieblingsmaler.

Im Alter von 14 Jahren lernte Diane den 5 Jahre älteren Allen Arbus kennen. Er jobbte im Kaufhaus ihrer Eltern, war musisch begabt, spielte Klarinette und wollte Schauspieler werden. Gegen den Willen der Eltern wurden Diane und Allen ein Paar. 1941 heirateten sie, bekamen zwei Kinder und gründeten Ende der 40er Jahre gemeinsam ein Studio für Modefotografie. Allen war für den technischen Teil verantwortlich, Diane für das Kreative, Styling und Arrangement.

Patricia Bosworth betont, dass Diane Arbus sich immer als eigenständige Person begriff. Vom Elternhaus grenzte sie sich ab und wahrte ihre Eigenständigkeit auch in Ehe und Arbeit. Eines ihrer Kernthemen war Sexualität. Sie pflegte Verhältnisse mit Männern und Frauen und sprach freimütig über ihre Erfahrungen. Sex war für Diane Arbus nach eigenem Bekunden die schnellste Möglichkeit, eine Verbindung zu anderen Menschen herzustellen. Dabei war sie Opfer und Jägerin zugleich. Eigentlich eine scheue Person, die gegen Gefühle der Wertlosigkeit kämpfte und zeitlebens von Depressionen gequält wurde. Beim Sex und beim Fotografieren ging sie aus sich heraus. Dort suchte sie "authentische Erfahrung".

Ihre Leidenschaft, das Innenleben von Menschen, das Geheimnis ihres Daseins freizulegen, führte Diane Arbus ins Reich der "Freaks". Selbst eine Exzentrikerin, suchte sie die Lebensräume der Penner und Transvestiten, Nutten und Nudisten auf. Extreme zogen sie an. Sie fotografierte in Männergefängnissen und Bordellen, Leichenschauhäusern und auf Jahrmärkten. "Ich will das Böse fotografieren", bekannte sie. Die Angst, die sie dabei empfand, regte sie an.

In den 60er Jahren wurde Diane Arbus in den USA berühmt. Das New Yorker "Museum of Modern Art" stellte in einer bahnbrechenden Fotoausstellung ihre Werke aus. Einige der Arbus-Fotos wurden vom Publikum bespuckt. Das Ende der traditionellen Dokumentarfotografie aber war mit dieser Ausstellung offiziell besiegelt. Moderne Fotografie war subjektiv: Fotograf und Modell kollaborierten - beide offenbarten sich. Diane Arbus war eine der Wegbereiterinnen dieser neuen Ästhetik. Sie hob Schranken zwischen privatem und öffentlichem Leben auf - vor und hinter der Kamera.

Patricia Bosworths Biografie beruht auf Gesprächen und Korrespondenzen mit Mitarbeitern, Lehrern, Angehörigen und Freunden von Diane Arbus - insgesamt beinahe 200 Personen. Dianes Töchter und der geschiedene Mann Allen Arbus verweigerten die Mitarbeit. Die Autorin hat dennoch extrem viele Details zusammen getragen. In der Menge begünstigen sie mitunter den Eindruck der Geschwätzigkeit. Ganz amerikanisch liebt Patricia Bosworth das "name dropping": Der deutsche Leser kann nicht recht unterscheiden, welche der genannten Personen warum wichtig ist.

Bosworth bleibt dicht an ihrer Hauptfigur. Der zeitgeschichtliche Kontext ist in bescheidenen Umrissen ausgearbeitet. "Schwarz & Weiß" ist eine detailreiche, vor allem berichtende Biografie. Die Analyse von Zusammenhängen kommt zu kurz. Diane scheint Depressionen zu haben wie schwarzes Haar. Kein Wort, wie sie entstanden, warum sie in ihrer Familie häufig vorkamen. Kein Gedanke zu der Stellung der Frau als Künstlerin und der daraus resultierenden Problematik.

Die Biografie ist fleißig und brav. Gerade bei Diane Arbus aber hätte man sie sich radikal und eigenwillig gewünscht. Und aus dem Abstand von Jahrzehnten - mit psychologischem und feministischem Wissenszuwachs - hätte die Neuauflage tiefere Einsichten in die Psyche und die künstlerische Existenz einer Frau im 20. Jahrhundert vermitteln können.

Patricia Bosworth: Schwarz und Weiss. Das Leben der Diane Arbus.
Übersetzt von Peter Münde, Frank Thomas Mende, Dorothee Asendorf, Barbara Evers
Dumont Literatur und Kunst Verlag, September 2006
439 Seiten, 24.90 Euro