"Ich will endlich Chefin sein"

Von Sabine Eichhorst |
Jede Zweite ist ledig. Sie verlassen sich nicht allein auf die Großfamilie, sondern bauen selbstständig eine Firma auf. Und das keineswegs im so genannten ethnischen Gewerbe: türkische Unternehmerinnen visieren die einkommensstarke deutsche Mittelschicht an. Als Architektin oder Anwältin, als Buchautorin oder Betreiberin eines Pflegedienstes.
Vor allem Frauen der so genannten zweiten Generation drängen in die Selbstständigkeit. Ein Grund ist die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter Einwanderern, der andere unterscheidet sich nicht von denen deutscher Unternehmensgründerinnen: Ich will mehr verdienen! Ich will endlich Chefin sein!

Hatice Akyün sitzt im Hamburger Literaturhaus und trinkt Kaffee. Am Morgen hat ihr Verlag angerufen: bis Mai ist sie ausgebucht mit Lesungen. In der Bestsellerliste fehlen nur noch ein paar Plätze, dann ist ihr Buch unter den Top 20.
Selbstständig wollte sie schon werden, als sie noch in Duisburg zur Hauptschule ging.

"Ich bin sehr traditionell erzogen worden. Ich habe bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr ein Kopftuch getragen, war in der Koranschule. Ich will damit nicht sagen, dass meine Eltern mich unterdrückt haben, mich zwangsverheiraten wollten oder sowas, gar nicht - es war sehr traditionell. Dagegen habe ich mich aufgelehnt. "

Hatice wollte die Welt entdecken. Sie sah, dass andere anders lebten.

"Mein Vorbild, mein richtiges Vorbild, war meine Lehrerin an der Hauptschule. Die kannte ich, seit ich elf war. Sie war nicht verheiratet und hatte keine Kinder, war damals Anfang dreißig, fuhr mit ihrem roten Auto immer auf den Lehrerparkplatz - und ich fand das toll, wie sie da angefahren kam. Wenn sie Pausenaufsicht hatte, bin ich zu ihr hingelaufen, habe sie ausgefragt: Was machen Sie so den ganzen Tag, abends? Weil ich das wissen wollte. Bei uns zu Hause war das ja nicht möglich, abends ins Kino zu gehen oder so. Und sie hat mir auch das Wort Volljährigkeit beigebracht. Dass man in Deutschland mit achtzehn volljährig ist - dass wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, das war mit vierzehn. "

Mit drei Jahren war sie nach Deutschland gekommen. Nach der Schule sollte sie heiraten, wie ihre Schwestern. Aber ich war anders, sagt sie.

"An meinem achtzehnten Geburtstag habe ich das Haus meiner Eltern verlassen, meine türkische traditionelle Familie verlassen, um ein selbstständiges Leben zu leben. Am Anfang hat mein Vater sehr türkisch reagiert und gesagt: Ich habe nur noch fünf Kinder - er hat sechs Kinder mit mir. Er wollte nicht mehr, dass ich nach Hause komme. "

Hatice ruft zu Hause an, versucht, Kontakt zur Familie zu halten. Der Vater bleibt stur. Hatice macht eine Lehre beim Amtsgericht, geht als Aupairmädchen nach New York, kommt zurück, hat einen Freund, und der Freund arbeitet in der Sportredaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Eines Tages sagt der Lokalchef: Du kannst doch Türkisch - kannst du nicht mal ins Gericht gehen und türkische Kriminelle interviewen?

"Justizangestellte hätte ich ja bleiben können und hätte einen lebenssicheren Job gehabt dort beim Amtsgericht. Aber es war nicht das, was mich gereizt hat. Und als ich dann eher zufällig zum Journalismus gekommen bin, habe ich gemerkt: das isses. Das ist mein Beruf. "

Weil sie schreiben will, Sprache mag, Talent hat. Sie macht das Abitur nach, volontiert, studiert, zieht nach Berlin. Zwei Jahre als Society-Reporterin bei MAX: Glanz und Glamour. Aber auch das Schulmassaker in Erfurt. Die Hinterbliebenen in Solingen, zehn Jahre nach dem Brandanschlag; eine von Mevlüde Gencs Töchtern, die in den Flammen starben, hieß auch Hatice.
Akyün ist doppelt qualifiziert, spricht Deutsch und Türkisch, kennt beide Kulturen - lässt sich aber nicht auf die Ethno-Schiene festlegen.

"Zwischen "Allahs rechtlosen Töchtern" und "Die Emanzipierten von Istanbul" habe ich eine Reportage aus New York geschrieben über "Sex and the City" und Mr. Big und warum Frauen auf so Arschlöcher wie Mr. Big stehen. Was natürlich überhaupt keinen türkischen Aspekt hatte... "

Und der Vater zu Hause in Duisburg?

"Es war wirklich ein täglicher Kampf Kontakt aufzunehmen. Aber ich habe es immer wieder versucht. Die ersten Male hat er aufgelegt, aber irgendwann hat er sich dann mal angehört, was ich zu sagen habe. Es war ein Prozess - auch für meinen Vater. Letztendlich toleriert er es heute und schüttelt nur noch den Kopf. "

Im Zuge der Medienkrise wird das MAX-Büro geschlossen und während ihre Kollegen noch packen, sitzt Hatice Akyün im Flieger nach Kabul. Hat einfach alle Exposés, die noch in ihrer Schublade lagen, an andere Redaktionen geschickt: Zeit, Tagesspiegel, Emma. Brigitte kauft die Reportage über Frauen in Afghanistan. Für den Spiegel schreibt sie eine Titelgeschichte über Frauen im Islam. Und dann, weil sie immer so viele Fragen beantworten muss wie das ist als Türkin in Deutschland, als Muslimin, hat sie die Idee mit dem Buch. Schreibt ein Exposé, trifft sich mit einer Literaturagentin, drei Verlage reagieren, sie nimmt den, der am meisten zahlt. "Einmal Hans mit scharfer Soße - Leben in zwei Welten" erscheint im September 2005.

"Und dann ist es - tschhhh: abgegangen! Und dann hat es Dimensionen angenommen - ich verstehe es selber gar nicht. Ich bin ja gar nicht bekannt als Buchautorin und zu meinen Lesungen kommen mindestens hundert Leute. Und am Freitag hatte ich in Duisburg, meiner Heimatstadt, zweihundertfünfzig Leute. "

In der ersten Reihe an diesem Abend, achtzehn Jahre nachdem sie ihr Haus verlassen hat: der Vater, die Mutter, die Geschwister. Hat ihr Vater den Drang seiner Tochter nach Selbstständigkeit akzeptiert, ihr verziehen? Verzeihen würde ich es nicht nennen, antwortet sie. Er ist stolz. Und wäre überglücklich, wenn Hatice Loft und Singleleben aufgeben, heiraten und Mutter werden würde. Doch Hatice Akyün ist glücklich. Und würde es wieder tun.

An dieser Stelle ist die Geschichte - vorläufig - zu Ende. Liest sich stellenweise wie ein Märchen: Es war einmal ein Mädchen, das hatte keinen Businessplan, aber Talent, Ehrgeiz und eine Lehrerin als Vorbild. Dass es beruflich und privat manchmal hart war, dass sie schuften musste, um ihr unabhängiges Leben zu finanzieren, sagt Hatice Akyün auch, im Nebensatz. Es klingt, als müsse sie so etwas sagen, weil die Story sonst nicht rund ist.
Mit ihrer Lehrerin ist sie übrigens heute befreundet.


Leyla Alkyvylcym steht in ihrer Reinigung in der Hamburger City, zwischen Kleiderständern, Bügelapparaten und mannshohen Waschmaschinen mit ausgefeilten Computerprogrammen für noch das empfindlichste Leibchen. Im hinteren Teil ein kleines Büro, eine Küche. Denn die Chefin hat eine Philosophie und die geht durch den Magen:

"Wenn einer kocht, man sitzt zusammen - das verbindet. Da kommt ‘ne ganz andere Verbindung. "

Wegen dieses Führungsstils hat sie heute Mitarbeiter, die helfen, wenn Weihnachten ein Wasserrohr bricht, sogar ihre Freunde mitbringen und am Ende nicht einmal die Stunden aufschreiben. Dabei wäre Leyla Alkyvylcym anfangs fast an ihren Angestellten gescheitert. Sie arbeitete seit siebzehn Jahren bei Öger-Tours, leitete ein Reisebüro am Hamburger Flughafen, als sie auf einer Existenzgründermesse das Konzept einer 24-Stunden-Wäscherei entdeckte, in der Kunden mittels einer Chipkarte auch außerhalb der Öffnungszeiten ihre Wäsche abgeben oder abholen können. Das hatte sie gesucht - eine Geschäftsidee, in die sie investieren konnte, ein Unternehmen, das ohne sie lief und sie im Alter finanziell versorgen würde. Da es ein Franchise-Konzept war, gab es bereits einen Businessplan und die Bank bewilligte 2001 ein Darlehen über eine Million Mark.

"Ich bin bei Öger geblieben, habe es an einen Reiniger übergeben, dem ich 5000 DM Gehalt gezahlt habe, das war für damalige Verhältnisse ein sehr gutes Gehalt. Ich hab ‘ne Büglerin gehabt, die 3500, fast 4000 DM gekriegt hat, wo ich gesagt habe: Wenn ich gutes Geld bezahle, wird nicht um ‘ne Stunde gechincht, das ist ein Gehalt, was man woanders nicht kriegt. Aber das war ein Fehler. Es ist in die eigene Tasche gewirtschaftet worden. Das ging so weit, dass es nur noch zwei Möglichkeiten gab: Entweder musste ich in den Laden, Öger, verlassen, oder: Insolvenz. Was anderes gab es nicht. Viele, die mich kannten, haben gesagt: Du musst in den Laden. Eine Million kannst du niemals wieder zurückzahlen. Da machst du dich unglücklich. "

Bis Montag, tschüss Kamal! Es war eine schwere Zeit!

Alkyvylcym stellt sich hinter den Tresen, kennt bald 95 Prozent ihrer Kunden mit Namen, bei 90 Prozent auch den Beruf. Verkauft im Hinterzimmer Reisen, finanziert so die Reinigung mit. Sucht einen Teilhaber - einen Landsmann, aber kein Familienmitglied -, verschaffte sich das nötige Fachwissen.

Bis zu 800 Kleidungsstücke gehen täglich über den Ladentisch. Kamal, ein Iraker, bügelt 450 Hemden am Tag, an einer Hochleistungs-Hemdenbügelmaschine, die mehr kostet als ein Mittelklassewagen, 60.000 Euro. Auch mit ihren beiden deutschen Mitarbeiterinnen hat Alkyvylcym Verträge bis zu deren 60. Lebensjahr abgeschlossen. Sie will Bindung. Öger war ein Familienunternehmen, das hat sie geprägt. Und ihr Vater, der mit Haselnüssen handelte. Niemand in ihrer Familie hat sie je gebremst. Papa, sagt sie, ist zwar Türke, aber Papa ist ein Studierter.

"Das ist ‘ne ganz andere Familie. Meine ganzen Tanten, seine Schwestern sind alle viersprachig aufgewachsen. Ne ganz andere Schicht. "

Und warum hat sie es nicht vorgezogen, zu Hause die Töchter großzuziehen? Auf dem Sofa zu sitzen, sich die Fingernägel zu lackieren?

"Das ist nichts für mich. Ich wollte immer was machen. Schwierige Sachen haben mich immer interessiert. Oder Sachen, wo einer sagt, das ist nicht machbar, das ist schwer - da klemmen Sie sich mehr dahinter! "

Über dem Schreibtisch hängt ein Schwarz-Weiß-Foto ihres Vaters. Ein freundliches Gesicht. Ein Mann, der fleißig wirkt und ordentlich. Würde Leyla Alkyvylcym sich noch einmal selbstständig machen?

"Wenn man mich heute fragen würde nochmal, würde ich den Weg nicht nochmal gehen. Selbstständig - das Wort sagt das: selbst ständig arbeiten. (Telefon) Wenn ‘ne Störung ist, Sie müssen immer hier sie. Wir haben hier lauter Geschäftskunden, die fliegen rund um die Welt - wenn er diesen Anzug morgen in Paris braucht, dann braucht er ihn! Das interessiert in dem Moment nicht, ob Sie schlafen, dann müssen Sie aufstehen. Ist so. Wir sind sehr oft am Wochenende hier. "

Das, neben dem gemeinsamen Essen und Kochen, fällt auch auf an ihr: dieses undeutsche Verständnis von Dienstleistung.

"Ich weiß nicht, ob das... - in der Türkei ist das so. Aber in Amerika ist das ja auch so! Ist das amerikanisch? "


Sie ist die Einzige, die auch aussieht wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau: rotes Wildlederkostüm, schwarzer Rollkragenpulli, schwarze Strümpfe, Pumps. Hatice Sahin. Kompetente Finanzberatung steht auf ihrem Firmenschild.

"Finanzen, Gesetze - das reizt mich irgendwie. Die Selbstständigkeit sowieso. "

Langweilig war ihr, nachdem sie 15 Jahre als EDV-Sachbearbeiterin gearbeitet und Kinder großgezogen hatte. Sahin beschließt zu studieren, Marketing. Ihr Arbeitgeber gewährt ein Stipendium und weil sie kein Abitur hat, schreibt sie sich an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik ein, macht die Aufnahmeprüfung.

"Für die mündliche Prüfung hatte ich - was zu der Zeit ganz aktuell war - folgende drei Themen: Rentenreform, Gesundheitsreform und, weil ich in einem Konzern gearbeitet hatte, Betriebsrat mir erarbeitet. "

Hatice Sahins Mann war selbstständiger Außendienstmitarbeiter bei Wüstenrot. Sie selbst besaß ebenfalls einen Gewerbeschein, hatte jedoch nicht selbstständig gemakelt, sondern ihrem Mann geholfen.

"Ende 2001 hat sich herausgestellt, dass die Rentenreform und Gesundheitsreform in Kraft treten werden. "

Hatice Sahin ist die Frau der Stunde. Kündigt, bekommt eine Abfindung, gründet ihre eigene Firma, wird überschwemmt von Anfragen.

" Ich bin nichtmal dazu gekommen, mich nach der Prüfung anzumelden. "

Ihre Kunden: Deutsche. Und Türken in Deutschland. Anfangs aus dem Bekanntenkreis, schnell per Empfehlung auch von anderer Seite. Inzwischen versichert Sahin alle Beschäftigten des türkischen Staates, die im Ausland arbeiten, vom Generalkonsul bis zur Putzfrau. Sie arbeitet so viel, dass sie das Interview zweimal verschiebt, ein drittes Mal traut sie sich nicht, ist aber völlig übernächtigt.
Auch Hatice Sahin kommt aus einer gebildeten Mittelstandsfamilie.

"Solche Fragen habe ich mir gar nicht gestellt: ob ich Frau bin! Vom Elternhaus bin ich sehr frei, sehr selbstständig - also nicht: Du bist Mädchen, du musst zu Hause sitzen, um 19 Uhr musst du zu Hause sein, so was hab ich noch nie erlebt. "

Von ihrem Mann ist sie inzwischen geschieden. Die Firma gehört ihr, ihr allein. Sie will Chefin sein. Ob es einen Unterschied gibt zwischen türkischer und deutscher Unternehmerkultur? Weiß sie nicht. Sie lebt seit dreißig Jahren in Deutschland, kennt sich hier besser aus als in der Türkei, hat einen deutschen Pass. Und in ihrem Büro wartet schon der nächste Klient.

Hatice Akyün, Leyla Alkyvylcym, Hatice Sahin: drei Unternehmerinnen, Lebensläufe, individuell und exemplarisch, Selbstbewusst, eigenständig. Jede Zweite nicht verheiratet. Frauen, die sich in erster Linie als Unternehmerinnen, nicht als Türkinnen verstehen, ihre Klientel nicht nur unter Migranten, sondern auch im deutschen Mittelstand finden. Früh nach Deutschland gekommen, gute Schulbildung. Ihre Firmen sind Neugründungen, keine Übernahmen. Angehörige werden kaum beschäftigt, auch damit es keine hierarchischen Probleme mit männlichen Verwandten gibt.

Im Hamburger Literaturhaus packt Hatice Akyün ihre Sachen. Muss nach Kiel, zur nächsten Lesung. Sagt noch, dass ihre deutschen Freundinnen Karriere machen, während ihre türkischen arbeiten und Kinder bekommen.

"Eine türkische Frau kann alles sein - auf Türkisch heißt das güclü. Güclü ist ein wunderschönes Wort: Stärke. Die türkische Frau hat sehr viele Stärke - die türkische Frau ist sehr güclü. "

Ihren Vater wird es freuen, wenn es auch bei ihr so kommt.