"Ich will wissen, wie bestimmte politische Entscheidungen zustande kommen"
Mit dem Einzug der Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus bekommt mindestens ein Thema neuen Aufwind: Open Government. Sehr hohe Erwartungen an diese Entwicklung hat Anke Domscheit-Berg, Mitglied bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen und seit Langem auch Open-Government-Aktivistin.
Dieter Kassel: Heute Abend treffen sich die 15 Abgeordneten der Berliner Piratenpartei zu ihrer ersten Fraktionssitzung, und das ist eigentlich ein Moment, an dem jeder, den es interessiert, das Internet anwerfen sollte, um sich das Ganze anzugucken, denn ursprünglich gab es den Plan, diese Fraktionssitzung sowie auch alle anderen und vieles mehr live im Internet zu übertragen.
Man kann um diese Zeit jetzt noch nicht behaupten, dass das nicht geschieht, sicher ist es nicht, aber es sieht eigentlich gar nicht mehr so aus, weil mehrere Mitglieder der Fraktion schon angekündigt haben, dass sie damit nun doch nicht einverstanden wären. Ob eine Liveübertragung von Fraktionssitzungen sinnvoll ist, vor allen Dingen aber auch, was eigentlich Open Government - sicherlich einer der Gründe, weshalb die Piratenpartei von fast neun Prozent der Berliner Wähler gewählt wurden -, was Open Government eigentlich bedeutet und wo vielleicht wirklich Grenzen liegen können, sollen, müssen, darüber wollen wir jetzt sprechen. Wir wollen das tun mit Anke Domscheit-Berg. Sie ist Unternehmerin, ist Mitglied bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen und ist seit Langem auch Open-Government-Aktivistin. Schönen guten Tag erst mal an Sie!
Anke Domscheit-Berg: Guten Tag!
Kassel: Nehmen wir an, Sie hätten noch einen der Berufe, den Sie noch nie hatten, Sie wären Parteienberaterin: Würden Sie der Piratenpartei denn raten, diese Fraktionssitzung komplett live unzensiert zu streamen oder nicht?
Domscheit-Berg: Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, aber ich glaube, die Erwartungen, die die Piratenpartei in diesem Wahlkampf geweckt haben, sind schon ziemlich eindeutig. Und sie haben damit halt die Erwartung geschaffen, dass diese Sitzungen alle live gestreamt werden, und deswegen glaube ich, wird es schon einen gewissen Grad an Enttäuschung geben, wenn das gerade bei dieser besonders spannenden Sitzung, die eigentlich jeder sehen will, wenn es genau da nicht der Fall ist.
Kassel: Wenn nun aber die Piratenpartei sagt - und das hat sie ja immer gesagt, auch schon im Wahlkampf -, die Grenzen dieser Komplettöffentlichkeit sind da erreicht, wo Persönlichkeiten, wo Datenschutz, persönliche Rechte angegriffen werden. Das ist ja jetzt das Argument, dass manche sagen - ich sage es mal so platt, darüber reden wir ja - bei der allerersten Sitzung: Wir haben keine Erfahrung, wir könnten uns auch ein bisschen blamieren, wir könnten uns streiten, und das muss ja nicht gleich jeder sehen.
Domscheit-Berg: Das sind auch nachvollziehbare Argumente aus meiner Sicht. Also bei Open Government ist ja unter anderem das Offenlegen von vielen Dingen, unter anderem von Daten, ein ganz hochrangiges Thema, und da gibt es genau die gleiche Diskussion. Welche Daten soll man denn veröffentlichen? Und da zieht man die Linie ganz klar: Alle Daten, die irgendwie personenbezogen sind, werden eben nicht veröffentlicht, die sind nicht mit gemeint.
Nun ist es bei Fraktionssitzungen nicht so einfach zu sagen, weil die sind ja per se immer personengebunden, weil Personen Meinungen äußern, die direkt zuordenbar sind. Der Anspruch an Transparenz ist an Abgeordnete aber auch höher als an andere Personen. Das heißt, das Schutzbedürfnis einer Person und der Zuordnung zu einer bestimmten Meinung ist da de facto nicht vorhanden. Man möchte wissen, was Abgeordnete für eine Meinung haben, und auch, wenn sie sich darüber fetzen, möchte man das auch gerne wissen. Auch innerhalb einer Fraktion, wo es ja sehr unterschiedliche Meinungen auch zu einzelnen Themen geben kann, wo vielleicht im Parteiprogramm eine Meinung drin steht.
Und ich glaube, eine Situation, in der sich die Piraten ganz sicher wiederfinden werden, ist, dass sie feststellen, dass sie ein extrem vielfältiger Haufen ist, was ich als Vorteil sehe. Aber das macht natürlich auch solche Sitzungen sehr dynamisch und sehr unvorhersehbar, und - also, jetzt ganz persönlich und subjektiv kann ich die Bedenken für diese erste Sitzung absolut nachvollziehen.
Kassel: Was halten Sie denn von dem bereits innerhalb der Fraktion geäußerten Kompromissvorschlag, nicht live, sondern zeitversetzt, und nicht komplett, sondern - und so wurde das wörtlich auch gesagt - zensiert?
Domscheit-Berg: Ja, ich habe das gelesen. Also das Wort Zensur hat natürlich eine sehr starke emotionale Aufladung, gerade bei den Sympathisanten, Wählerinnen und Wählern der Piraten. Es ist ein sehr schwieriges Wort. Aber ich sehe darin den Versuch vonseiten der Piraten, zu versuchen, eine Art von Kompromiss zu finden zwischen dem, was sie versprochen haben, nämlich wir machen immer alles transparent und öffentlich, und alles wird gelivestreamt, und hier bei dieser ersten Sitzung ist das aber ganz, ganz, ganz schwierig, und da muss man sich eigentlich erst mal zusammenwürfeln in diesem neuen Team. Man ist ja vom eigenen Erfolg schon auch ein bisschen überrollt worden, das ist ja so. Es ist schwierig, da einen gangbaren Mittelweg zu finden.
Kassel: Aber wäre nicht vielleicht so eine Mitte schlimmer, als zu sagen, wir machen es einfach - zumindest bei dieser ersten Sitzung - mal nicht? Weil ich meine, das ist ja ein Argument, da kann auch die CDU mit leben, wenn man sagt: Eigentlich darf der Bürger alles wissen, der bezahlt uns, der hat uns gewählt, aber manchmal gibt es gute Gründe, ihm ein paar Dinge doch nicht zu zeigen.
Domscheit-Berg: Ich sehe mich gar nicht in der Lage, da eine eigene Entscheidung zu treffen. Ich finde die Entscheidung schwierig, und ich bin sehr gespannt, wie das heute ausgeht.
Kassel: Was erwarten Sie denn von der Piratenpartei - mal völlig unabhängig, ob die jetzt ihre Fraktionssitzungen zeigen oder nicht -, was Open-Government-Fortschritte im Abgeordnetenhaus angehen? Was ist denn notwendig und was ist realistisch in kurzer Zeit, auch gegen die anderen Parteien, oder mit ihnen?
Domscheit-Berg: Also da habe ich persönlich sehr hohe Erwartungen. Die Grünen setzen sich ja schon eine ganze Weile für Open Government ein, aber es fehlt im gesamten Abgeordnetenhaus aus meiner Sicht dann noch diese Dynamik, die jetzt die Piraten mit ihrer doch relativ starken Fraktion auch reinbringen können. Es ist nicht so, dass wir in Berlin bei null anfangen - da gibt es also erfreuliche kleine zarte Pflänzchen des Open Governments. Wir haben zum Beispiel das erste deutsche Open-Data-Portal am 14. September freigeschaltet, da sind jetzt noch keine Unmassen an Daten drin, aber der wichtigste Schritt war erst mal, dahin zu kommen, und der ist gegangen worden.
Kassel: Das heißt, um es mal zu erklären, dass konkret als Tabelle oder irgendwie als Datei die Daten, die es schon gibt, jeder haben kann? Also, die es im Portal schon gibt?
Domscheit-Berg: Ja, die es in dem Portal schon gibt. Also, das sind im Moment, glaube ich, so ungefähr 30 Datensätze mit Umweltdaten, mit anderen Daten. Man kann auf einem Portal darauf zugreifen, und das sind - wie die Vorgaben für echtes Open Data sind - Daten, die maschinenlesbar sind, die im Rohformat zur Verfügung gestellt werden, und viele davon - hoffentlich werden es mal alle - auch in einer freien Lizenz. Das heißt, man kann mit den Daten machen, was man will.
Kassel: Aber wie weit sollte es gehen darüber hinaus, ich meine, dass Daten, dass Verträge offengelegt werden sollen? Dann kommt immer der Einzelfall, wo einer dasteht und sagt, grundsätzlich ja, in dem Fall nicht, aber dem wird grundsätzlich jeder zustimmen, aber inwieweit bedeutet Open Government, auch den Politikern permanent zuschauen zu dürfen?
Domscheit-Berg: Genau das heißt es, und wer das nicht mag, muss sich nicht wählen lassen. Also Open Government heißt schon gläserner Staat, wenn man es ganz streng nimmt. Es heißt nie eine gläserne Person, außer diese Person ist ein Abgeordneter. Das bezieht sich nicht auf das Privatleben. Ich will nicht wissen, wie die wohnen und was sie so machen und was sie kochen und was die Hobbys sind, ich will aber wissen, was sie für Nebeneinnahmen haben, was sie für Kontakte zu Dritten haben, ich will auch wissen, wie bestimmte politische Entscheidungen zustande kommen. Und alles das sind Forderungen, die die Piraten in ihrem Parteiprogramm drin haben.
Das sind auch klassische Forderungen des Open Government - dazu gehört ja nicht nur Transparenz und Open Data, dazu gehören auch neue Kooperationsformen, wo man sich öffnet vonseiten der Verwaltung und auch Bürgern auf Augenhöhe begegnet und gemeinsam Dinge miteinander erarbeitet. Dazu gehört aber auch das ganze Thema Partizipation, und das ist im Parteiprogramm der Piraten sehr großzügig abgedeckt, und da habe ich eben auch sehr hohe Erwartungen, dass man da zum Beispiel mit den Grünen - aber auch die Linken machen sich da sehr stark - dass man da einem Strang ziehen kann, und dass man da viel mehr machen kann in Berlin, als bisher passiert ist.
Da sind wir wirklich, da sind wir noch ganz weit hinterher. Und wir haben sensible Themen wie die A100 oder Mediaspree, alles diese Dinger, da könnte man sehr viel mehr machen, indem man über die Möglichkeiten des Internets konsultorische Prozesse sehr frühzeitig anstößt. Die Piraten haben zum Beispiel vorgeschlagen, dass man eine Projektdatenbank macht online, wo jeder sehr früh - also nicht erst, wenn alles schon in Sack und trockenen Tüchern ist -, dass man sehr früh sehen kann, was ist denn überhaupt geplant, und dass man an der gleichen Stelle auch sehen kann, welche Beteiligungsformate für Bürgerinnen und Bürger gibt es denn dort?
Kassel: Aber wo liegen da die Grenzen? Wir haben vorgestern hier im Deutschlandradio Kultur mit Susanne Graf geredet, der einzigen Abgeordneten, also der einzigen Frau von diesen 15, die einziehen - darüber werden wir auch gleich noch sprechen, aber ganz kurz noch zu dieser anderen Richtung, dieses Partizipatorische - selbst sie hat zurecht darauf hingewiesen, dass allein schon aufgrund der deutschen Verfassung ja jeder Abgeordnete seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist. Das heißt, wo ist die Grenze? Und für mich hört sich das manchmal so an, als ob der Politiker in so einem System nur noch ausführendes Organ ist: Man guckt ins Internet, sagt, was wollt ihr, und wenn 70 Prozent A wollen, macht der A und hat keine Chance mehr auf B.
Domscheit-Berg: Bei Partizipation werden manche Dinge oft miteinander verwechselt. Also das meint nicht ausschließlich der elektronische Bürgerentscheid oder das E-Voting. Wenn man sich den ganzen Bereich Partizipation als Eisberg vorstellt, ist das die kleine Spitze. Das ist eine wichtige Spitze, aber trotzdem ist es nur ein kleiner Teil, vielleicht ein Prozent. Die anderen 99 Prozent sind konsultorische Prozesse, Meinungsbildungsprozesse.
Das sind Bürgerhaushalte, wo man Bürger nach ihren Prioritäten fragt, wo sie lieber mehr oder weniger Geld ausgeben wollen. Das sind Prozesse, wo man Bürger danach fragt, ob sie die A100 haben wollen oder nicht, ohne dass es möglicherweise gleich ein Bürgerentscheid ist. Darüber kann man reden in diesem Fall, aber es muss nicht so sein. Den Input, den man da bekommt von Bürgern, der hilft den Abgeordneten, bessere Entscheidungen zu treffen. Sie treffen sie aber immer noch selbst und in ihrer eigenen Verantwortung. Und das mit dem eigenen Gewissen ist ja leider in der Praxis nicht immer so der Fall, ne?
Kassel: Stichwort Fraktionszwang, ja.
Domscheit-Berg: Also Fraktionszwang ist eine ganz üble Sache, und da sagen die Piraten zum Beispiel, dass es den bei ihnen nicht geben soll, das finde ich sehr sympathisch, ja.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Anke Domscheit-Berg, Unternehmerin, Open-Government-Aktivistin und auch eine Frau, Frau Domscheit-Berg, der es immer wichtig gewesen ist, über Feminismus und über die Rolle der Frau in der Politik zu reden und zu denken. Das ist natürlich ein sehr unerfreuliches Thema für die Piratenpartei - ich habe es gesagt, 14 männliche Abgeordnete ziehen in Berlin ins Abgeordnetenhaus, und diese eine Frau, Susanne Graf. Der Frauenanteil ist insgesamt in der Partei gering - würden Sie sagen, die Piratenpartei ist eine frauenfeindliche Partei?
Domscheit-Berg: Ich würde es nicht so formulieren, aber ich würde sagen, sie hat ein deutliches Entwicklungspotenzial, und ich hoffe, dass sie das auch umsetzt. Ich beschäftige mich mit dem Thema Frauen in unterrepräsentierten Bereichen wie Informationstechnologie, wo ich 15 Jahre gearbeitet habe, oder auch in Führungspositionen - also in all diesen Bereichen kommen mir Frauen sehr unterrepräsentiert vor. Und ich habe mich sehr lange schon damit beschäftigt, über zehn Jahre, warum das eigentlich so ist.
Und wie immer gibt es nicht einen einzigen Grund, sondern es gibt viele verschiedene Gründe, und so ist das auch bei den Piraten. Zum einen haben die natürlich einen sehr starken IT-Hintergrund, und in der IT-Industrie gibt es in der Tat weniger Frauen. Dass das kein hinreichender Grund ist, zeigt die Führungsmannschaft von Microsoft, wo die Hälfte der Geschäftsleitung weiblichen Geschlechts ist, obwohl es eine Softwarefirma ist. Das heißt, wenn man die richtige Kultur hat, wenn man das will, wenn man sich öffnet, wenn man sich selbst attraktiv macht für Frauen, dann funktioniert das trotzdem - auch wenn eigentlich weniger Kandidatinnen da sind.
Kassel: Nun sagt aber ja die Piratenpartei zu diesem Thema, auch wenn es um konkrete Vorschläge wie eine Frauenquote geht: Wir sind postgender, wir sind eigentlich jenseits dieser Debatten, bei uns gibt es auch nicht mehr nur zwei Geschlechter. Einer der etwas vielleicht absurderen Vorschläge ist auch, nur noch Vornamen zu vergeben, die nicht mehr auf ein Geschlecht schließen lassen, also diese Partei sagt, das ist was von gestern, wir unterscheiden so gar nicht mehr.
Domscheit-Berg: Von der Vision her finde ich das ja nicht mal verkehrt. Es ist in der Tat eigentlich schlecht, dass wir uns immer so ganz schwarz-weiß auf zwei Geschlechter fokussieren, weil das die Realität der Biologie nicht abbildet, auch nicht beim Menschen. Insofern ist das ja durchaus visionär. Aber zu sagen, man ist postgender, und zu ignorieren, dass die ganze Gesellschaft nicht postgender ist, funktioniert halt nicht. Und das ist die Erfahrung, die die Piraten gerade machen. Und ich glaube, die werden jede Menge Lektionen lernen, gerade durch das - die haben ja nicht damit gerechnet, dass überhaupt 15 reinkommen, und wenn ...
Kassel: Überrascht vom Erfolg, ja.
Domscheit-Berg: ... und wenn fünf drin gewesen wären, wäre es ja gar nicht so aufgefallen. Noch nicht mal, wenn es fünf Männer gewesen wären. Dann hätte man auch gelästert, aber es ist immer noch was anderes als 14 zu eins. Da sieht das anders aus. Aber ich glaube - und ich habe ja auch mit etlichen Piraten und Piratinnen gesprochen -, da wird eine sehr lebendige Diskussion geführt. Und es ist nicht so, also man kann nicht sagen, die Partei insgesamt ist frauenfeindlich eingestellt - es gibt also sehr feministische Piraten sogar -, aber es gibt trotzdem kulturelle Elemente, die es vielen Frauen schwer machen, sich da wohlzufühlen.
Da gab es ja - das wissen ja viele - vor zwei Jahren den Versuch einer Piratin, eine Mailingliste für Piratinnen aufzumachen, der extrem abgeschmettert wurde, wo sie sehr viel Gegenwind bekamen, aber auch viel Unterstützung von männlichen Piraten. Also ich glaube, das wird sich zusammenrütteln, und die Piraten werden verstehen, dass es nicht ausreicht zu sagen, ach, die Frauen werden schon kommen, sondern dass man selbst aktiv was tun muss, um auch in der Zukunft erfolgreich in der nicht nur Berliner Politik, sondern in der Politik in ganz Deutschland zu sein.
Kassel: Warten wir es ab. Warten wir bis heute Abend auf die Fraktionssitzung, was da passiert, und warten wir ab, was sich langfristig entwickelt. Anke Domscheit-Berg, ich danke Ihnen fürs Kommen und fürs Gespräch!
Domscheit-Berg: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Bundesvorsitzender der Piratenpartei über das Ergebnis der Wahl in Berlin
Was bedeuten die Piraten für die Kultur?
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Man kann um diese Zeit jetzt noch nicht behaupten, dass das nicht geschieht, sicher ist es nicht, aber es sieht eigentlich gar nicht mehr so aus, weil mehrere Mitglieder der Fraktion schon angekündigt haben, dass sie damit nun doch nicht einverstanden wären. Ob eine Liveübertragung von Fraktionssitzungen sinnvoll ist, vor allen Dingen aber auch, was eigentlich Open Government - sicherlich einer der Gründe, weshalb die Piratenpartei von fast neun Prozent der Berliner Wähler gewählt wurden -, was Open Government eigentlich bedeutet und wo vielleicht wirklich Grenzen liegen können, sollen, müssen, darüber wollen wir jetzt sprechen. Wir wollen das tun mit Anke Domscheit-Berg. Sie ist Unternehmerin, ist Mitglied bei der Partei Bündnis 90/Die Grünen und ist seit Langem auch Open-Government-Aktivistin. Schönen guten Tag erst mal an Sie!
Anke Domscheit-Berg: Guten Tag!
Kassel: Nehmen wir an, Sie hätten noch einen der Berufe, den Sie noch nie hatten, Sie wären Parteienberaterin: Würden Sie der Piratenpartei denn raten, diese Fraktionssitzung komplett live unzensiert zu streamen oder nicht?
Domscheit-Berg: Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, aber ich glaube, die Erwartungen, die die Piratenpartei in diesem Wahlkampf geweckt haben, sind schon ziemlich eindeutig. Und sie haben damit halt die Erwartung geschaffen, dass diese Sitzungen alle live gestreamt werden, und deswegen glaube ich, wird es schon einen gewissen Grad an Enttäuschung geben, wenn das gerade bei dieser besonders spannenden Sitzung, die eigentlich jeder sehen will, wenn es genau da nicht der Fall ist.
Kassel: Wenn nun aber die Piratenpartei sagt - und das hat sie ja immer gesagt, auch schon im Wahlkampf -, die Grenzen dieser Komplettöffentlichkeit sind da erreicht, wo Persönlichkeiten, wo Datenschutz, persönliche Rechte angegriffen werden. Das ist ja jetzt das Argument, dass manche sagen - ich sage es mal so platt, darüber reden wir ja - bei der allerersten Sitzung: Wir haben keine Erfahrung, wir könnten uns auch ein bisschen blamieren, wir könnten uns streiten, und das muss ja nicht gleich jeder sehen.
Domscheit-Berg: Das sind auch nachvollziehbare Argumente aus meiner Sicht. Also bei Open Government ist ja unter anderem das Offenlegen von vielen Dingen, unter anderem von Daten, ein ganz hochrangiges Thema, und da gibt es genau die gleiche Diskussion. Welche Daten soll man denn veröffentlichen? Und da zieht man die Linie ganz klar: Alle Daten, die irgendwie personenbezogen sind, werden eben nicht veröffentlicht, die sind nicht mit gemeint.
Nun ist es bei Fraktionssitzungen nicht so einfach zu sagen, weil die sind ja per se immer personengebunden, weil Personen Meinungen äußern, die direkt zuordenbar sind. Der Anspruch an Transparenz ist an Abgeordnete aber auch höher als an andere Personen. Das heißt, das Schutzbedürfnis einer Person und der Zuordnung zu einer bestimmten Meinung ist da de facto nicht vorhanden. Man möchte wissen, was Abgeordnete für eine Meinung haben, und auch, wenn sie sich darüber fetzen, möchte man das auch gerne wissen. Auch innerhalb einer Fraktion, wo es ja sehr unterschiedliche Meinungen auch zu einzelnen Themen geben kann, wo vielleicht im Parteiprogramm eine Meinung drin steht.
Und ich glaube, eine Situation, in der sich die Piraten ganz sicher wiederfinden werden, ist, dass sie feststellen, dass sie ein extrem vielfältiger Haufen ist, was ich als Vorteil sehe. Aber das macht natürlich auch solche Sitzungen sehr dynamisch und sehr unvorhersehbar, und - also, jetzt ganz persönlich und subjektiv kann ich die Bedenken für diese erste Sitzung absolut nachvollziehen.
Kassel: Was halten Sie denn von dem bereits innerhalb der Fraktion geäußerten Kompromissvorschlag, nicht live, sondern zeitversetzt, und nicht komplett, sondern - und so wurde das wörtlich auch gesagt - zensiert?
Domscheit-Berg: Ja, ich habe das gelesen. Also das Wort Zensur hat natürlich eine sehr starke emotionale Aufladung, gerade bei den Sympathisanten, Wählerinnen und Wählern der Piraten. Es ist ein sehr schwieriges Wort. Aber ich sehe darin den Versuch vonseiten der Piraten, zu versuchen, eine Art von Kompromiss zu finden zwischen dem, was sie versprochen haben, nämlich wir machen immer alles transparent und öffentlich, und alles wird gelivestreamt, und hier bei dieser ersten Sitzung ist das aber ganz, ganz, ganz schwierig, und da muss man sich eigentlich erst mal zusammenwürfeln in diesem neuen Team. Man ist ja vom eigenen Erfolg schon auch ein bisschen überrollt worden, das ist ja so. Es ist schwierig, da einen gangbaren Mittelweg zu finden.
Kassel: Aber wäre nicht vielleicht so eine Mitte schlimmer, als zu sagen, wir machen es einfach - zumindest bei dieser ersten Sitzung - mal nicht? Weil ich meine, das ist ja ein Argument, da kann auch die CDU mit leben, wenn man sagt: Eigentlich darf der Bürger alles wissen, der bezahlt uns, der hat uns gewählt, aber manchmal gibt es gute Gründe, ihm ein paar Dinge doch nicht zu zeigen.
Domscheit-Berg: Ich sehe mich gar nicht in der Lage, da eine eigene Entscheidung zu treffen. Ich finde die Entscheidung schwierig, und ich bin sehr gespannt, wie das heute ausgeht.
Kassel: Was erwarten Sie denn von der Piratenpartei - mal völlig unabhängig, ob die jetzt ihre Fraktionssitzungen zeigen oder nicht -, was Open-Government-Fortschritte im Abgeordnetenhaus angehen? Was ist denn notwendig und was ist realistisch in kurzer Zeit, auch gegen die anderen Parteien, oder mit ihnen?
Domscheit-Berg: Also da habe ich persönlich sehr hohe Erwartungen. Die Grünen setzen sich ja schon eine ganze Weile für Open Government ein, aber es fehlt im gesamten Abgeordnetenhaus aus meiner Sicht dann noch diese Dynamik, die jetzt die Piraten mit ihrer doch relativ starken Fraktion auch reinbringen können. Es ist nicht so, dass wir in Berlin bei null anfangen - da gibt es also erfreuliche kleine zarte Pflänzchen des Open Governments. Wir haben zum Beispiel das erste deutsche Open-Data-Portal am 14. September freigeschaltet, da sind jetzt noch keine Unmassen an Daten drin, aber der wichtigste Schritt war erst mal, dahin zu kommen, und der ist gegangen worden.
Kassel: Das heißt, um es mal zu erklären, dass konkret als Tabelle oder irgendwie als Datei die Daten, die es schon gibt, jeder haben kann? Also, die es im Portal schon gibt?
Domscheit-Berg: Ja, die es in dem Portal schon gibt. Also, das sind im Moment, glaube ich, so ungefähr 30 Datensätze mit Umweltdaten, mit anderen Daten. Man kann auf einem Portal darauf zugreifen, und das sind - wie die Vorgaben für echtes Open Data sind - Daten, die maschinenlesbar sind, die im Rohformat zur Verfügung gestellt werden, und viele davon - hoffentlich werden es mal alle - auch in einer freien Lizenz. Das heißt, man kann mit den Daten machen, was man will.
Kassel: Aber wie weit sollte es gehen darüber hinaus, ich meine, dass Daten, dass Verträge offengelegt werden sollen? Dann kommt immer der Einzelfall, wo einer dasteht und sagt, grundsätzlich ja, in dem Fall nicht, aber dem wird grundsätzlich jeder zustimmen, aber inwieweit bedeutet Open Government, auch den Politikern permanent zuschauen zu dürfen?
Domscheit-Berg: Genau das heißt es, und wer das nicht mag, muss sich nicht wählen lassen. Also Open Government heißt schon gläserner Staat, wenn man es ganz streng nimmt. Es heißt nie eine gläserne Person, außer diese Person ist ein Abgeordneter. Das bezieht sich nicht auf das Privatleben. Ich will nicht wissen, wie die wohnen und was sie so machen und was sie kochen und was die Hobbys sind, ich will aber wissen, was sie für Nebeneinnahmen haben, was sie für Kontakte zu Dritten haben, ich will auch wissen, wie bestimmte politische Entscheidungen zustande kommen. Und alles das sind Forderungen, die die Piraten in ihrem Parteiprogramm drin haben.
Das sind auch klassische Forderungen des Open Government - dazu gehört ja nicht nur Transparenz und Open Data, dazu gehören auch neue Kooperationsformen, wo man sich öffnet vonseiten der Verwaltung und auch Bürgern auf Augenhöhe begegnet und gemeinsam Dinge miteinander erarbeitet. Dazu gehört aber auch das ganze Thema Partizipation, und das ist im Parteiprogramm der Piraten sehr großzügig abgedeckt, und da habe ich eben auch sehr hohe Erwartungen, dass man da zum Beispiel mit den Grünen - aber auch die Linken machen sich da sehr stark - dass man da einem Strang ziehen kann, und dass man da viel mehr machen kann in Berlin, als bisher passiert ist.
Da sind wir wirklich, da sind wir noch ganz weit hinterher. Und wir haben sensible Themen wie die A100 oder Mediaspree, alles diese Dinger, da könnte man sehr viel mehr machen, indem man über die Möglichkeiten des Internets konsultorische Prozesse sehr frühzeitig anstößt. Die Piraten haben zum Beispiel vorgeschlagen, dass man eine Projektdatenbank macht online, wo jeder sehr früh - also nicht erst, wenn alles schon in Sack und trockenen Tüchern ist -, dass man sehr früh sehen kann, was ist denn überhaupt geplant, und dass man an der gleichen Stelle auch sehen kann, welche Beteiligungsformate für Bürgerinnen und Bürger gibt es denn dort?
Kassel: Aber wo liegen da die Grenzen? Wir haben vorgestern hier im Deutschlandradio Kultur mit Susanne Graf geredet, der einzigen Abgeordneten, also der einzigen Frau von diesen 15, die einziehen - darüber werden wir auch gleich noch sprechen, aber ganz kurz noch zu dieser anderen Richtung, dieses Partizipatorische - selbst sie hat zurecht darauf hingewiesen, dass allein schon aufgrund der deutschen Verfassung ja jeder Abgeordnete seinem eigenen Gewissen verpflichtet ist. Das heißt, wo ist die Grenze? Und für mich hört sich das manchmal so an, als ob der Politiker in so einem System nur noch ausführendes Organ ist: Man guckt ins Internet, sagt, was wollt ihr, und wenn 70 Prozent A wollen, macht der A und hat keine Chance mehr auf B.
Domscheit-Berg: Bei Partizipation werden manche Dinge oft miteinander verwechselt. Also das meint nicht ausschließlich der elektronische Bürgerentscheid oder das E-Voting. Wenn man sich den ganzen Bereich Partizipation als Eisberg vorstellt, ist das die kleine Spitze. Das ist eine wichtige Spitze, aber trotzdem ist es nur ein kleiner Teil, vielleicht ein Prozent. Die anderen 99 Prozent sind konsultorische Prozesse, Meinungsbildungsprozesse.
Das sind Bürgerhaushalte, wo man Bürger nach ihren Prioritäten fragt, wo sie lieber mehr oder weniger Geld ausgeben wollen. Das sind Prozesse, wo man Bürger danach fragt, ob sie die A100 haben wollen oder nicht, ohne dass es möglicherweise gleich ein Bürgerentscheid ist. Darüber kann man reden in diesem Fall, aber es muss nicht so sein. Den Input, den man da bekommt von Bürgern, der hilft den Abgeordneten, bessere Entscheidungen zu treffen. Sie treffen sie aber immer noch selbst und in ihrer eigenen Verantwortung. Und das mit dem eigenen Gewissen ist ja leider in der Praxis nicht immer so der Fall, ne?
Kassel: Stichwort Fraktionszwang, ja.
Domscheit-Berg: Also Fraktionszwang ist eine ganz üble Sache, und da sagen die Piraten zum Beispiel, dass es den bei ihnen nicht geben soll, das finde ich sehr sympathisch, ja.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Anke Domscheit-Berg, Unternehmerin, Open-Government-Aktivistin und auch eine Frau, Frau Domscheit-Berg, der es immer wichtig gewesen ist, über Feminismus und über die Rolle der Frau in der Politik zu reden und zu denken. Das ist natürlich ein sehr unerfreuliches Thema für die Piratenpartei - ich habe es gesagt, 14 männliche Abgeordnete ziehen in Berlin ins Abgeordnetenhaus, und diese eine Frau, Susanne Graf. Der Frauenanteil ist insgesamt in der Partei gering - würden Sie sagen, die Piratenpartei ist eine frauenfeindliche Partei?
Domscheit-Berg: Ich würde es nicht so formulieren, aber ich würde sagen, sie hat ein deutliches Entwicklungspotenzial, und ich hoffe, dass sie das auch umsetzt. Ich beschäftige mich mit dem Thema Frauen in unterrepräsentierten Bereichen wie Informationstechnologie, wo ich 15 Jahre gearbeitet habe, oder auch in Führungspositionen - also in all diesen Bereichen kommen mir Frauen sehr unterrepräsentiert vor. Und ich habe mich sehr lange schon damit beschäftigt, über zehn Jahre, warum das eigentlich so ist.
Und wie immer gibt es nicht einen einzigen Grund, sondern es gibt viele verschiedene Gründe, und so ist das auch bei den Piraten. Zum einen haben die natürlich einen sehr starken IT-Hintergrund, und in der IT-Industrie gibt es in der Tat weniger Frauen. Dass das kein hinreichender Grund ist, zeigt die Führungsmannschaft von Microsoft, wo die Hälfte der Geschäftsleitung weiblichen Geschlechts ist, obwohl es eine Softwarefirma ist. Das heißt, wenn man die richtige Kultur hat, wenn man das will, wenn man sich öffnet, wenn man sich selbst attraktiv macht für Frauen, dann funktioniert das trotzdem - auch wenn eigentlich weniger Kandidatinnen da sind.
Kassel: Nun sagt aber ja die Piratenpartei zu diesem Thema, auch wenn es um konkrete Vorschläge wie eine Frauenquote geht: Wir sind postgender, wir sind eigentlich jenseits dieser Debatten, bei uns gibt es auch nicht mehr nur zwei Geschlechter. Einer der etwas vielleicht absurderen Vorschläge ist auch, nur noch Vornamen zu vergeben, die nicht mehr auf ein Geschlecht schließen lassen, also diese Partei sagt, das ist was von gestern, wir unterscheiden so gar nicht mehr.
Domscheit-Berg: Von der Vision her finde ich das ja nicht mal verkehrt. Es ist in der Tat eigentlich schlecht, dass wir uns immer so ganz schwarz-weiß auf zwei Geschlechter fokussieren, weil das die Realität der Biologie nicht abbildet, auch nicht beim Menschen. Insofern ist das ja durchaus visionär. Aber zu sagen, man ist postgender, und zu ignorieren, dass die ganze Gesellschaft nicht postgender ist, funktioniert halt nicht. Und das ist die Erfahrung, die die Piraten gerade machen. Und ich glaube, die werden jede Menge Lektionen lernen, gerade durch das - die haben ja nicht damit gerechnet, dass überhaupt 15 reinkommen, und wenn ...
Kassel: Überrascht vom Erfolg, ja.
Domscheit-Berg: ... und wenn fünf drin gewesen wären, wäre es ja gar nicht so aufgefallen. Noch nicht mal, wenn es fünf Männer gewesen wären. Dann hätte man auch gelästert, aber es ist immer noch was anderes als 14 zu eins. Da sieht das anders aus. Aber ich glaube - und ich habe ja auch mit etlichen Piraten und Piratinnen gesprochen -, da wird eine sehr lebendige Diskussion geführt. Und es ist nicht so, also man kann nicht sagen, die Partei insgesamt ist frauenfeindlich eingestellt - es gibt also sehr feministische Piraten sogar -, aber es gibt trotzdem kulturelle Elemente, die es vielen Frauen schwer machen, sich da wohlzufühlen.
Da gab es ja - das wissen ja viele - vor zwei Jahren den Versuch einer Piratin, eine Mailingliste für Piratinnen aufzumachen, der extrem abgeschmettert wurde, wo sie sehr viel Gegenwind bekamen, aber auch viel Unterstützung von männlichen Piraten. Also ich glaube, das wird sich zusammenrütteln, und die Piraten werden verstehen, dass es nicht ausreicht zu sagen, ach, die Frauen werden schon kommen, sondern dass man selbst aktiv was tun muss, um auch in der Zukunft erfolgreich in der nicht nur Berliner Politik, sondern in der Politik in ganz Deutschland zu sein.
Kassel: Warten wir es ab. Warten wir bis heute Abend auf die Fraktionssitzung, was da passiert, und warten wir ab, was sich langfristig entwickelt. Anke Domscheit-Berg, ich danke Ihnen fürs Kommen und fürs Gespräch!
Domscheit-Berg: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Was bedeuten die Piraten für die Kultur?
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