"Ich wusste, das ich schreiben muss"

Von Ludger Fittkau |
Orhan Parmuk, Martin Walser, Ignaz Bubis oder Herta Müller - die Liste der namhaften Träger des Ricarda-Huch-Preises ist lang. Die Stadt Darmstadt vergibt den Preis an Persönlichkeiten aus Kunst, Literatur, Wissenschaft und Politik, die sich durch "unabhängiges Denken" in europäischer Tradition auszeichnen. Heute wurde die polnische Schriftstellerin und Journalistin Hanna Krall mit dem Preis ausgezeichnet.
"Was in den Büchern von Hanna Krall so außerordentlich ist, ist die Sachlichkeit ihrer Darstellung. Das, was geschehen ist, ist zum großen Teil nicht glaubwürdig. Man kann es sich gar nicht vorstellen."

Laudator Marcel Reich-Ranicki verglich den sachlichen Prosastil, in dem Hanna Krall auch über die unvorstellbaren Verbrechen der Nationalsozialisten schreibt, mit dem Schreibstil von Egon Erwin Kisch. Die Dankesrede, die Hanna Krall in Darmstadt hielt, ist geradezu exemplarisch für die besondere Form der literarischen Reportage, die sie pflegt.

Die Rede dreht sich um den 3. Oktober 1990. Am Tag der deutschen Einheit vor 18 Jahren ist sie zufällig gerade in Deutschland, berichtet Hannah Krall. Sie trifft Ignaz Bubis in Frankfurt am Main. Bubis war als Kind mit seiner Familie vor Hitler nach Polen geflohen. Krall erzählt von einem Lager, das Ignaz Bubis als einer von fünf Juden überlebt:

"Eines Abends gelangte ins Lager Jost Tes, der vor dem Krieg Eis und Sodawasser verkauft hatte. Ich sage euch was, flüsterte Jost und erzählte die ganze Nacht seltsame, sehr seltsame Geschichten. Man habe sie in Güterzügen weggebracht. Sie seien an einem Ort namens Treblinka ausgestiegen, dort gebe es Gas, und die Leichen verbrenne man auf Scheiterhaufen. "Ihr müsst fliehen", flüsterte Jost. Am Morgen verschwand er, und die Leute begannen seine sonderbaren Worte zu kommentieren. Feuer? Leichen? Gas? Zum Glück erinnerte sich jemand daran, dass Jost sich schon vor dem Krieg schreckliche Geschichten ausgedacht und den Kindern erzählt hatte, die bei ihm Eis kauften. Da waren alle beruhigt -offenbar hatte Jost sich ein neues Schauermärchen ausgedacht, man musste sich also keine Sorgen machen."

Die heute 71 Jahre alte Warschauerin studierte nach dem Krieg Publizistik. Ab Mitte der 1960er Jahre schrieb sie für das Wochenmagazin "Polityka". Aus Protest gegen die Verhängung des Kriegsrechts Ende 1981 beendete Hanna Krall ihre Arbeit bei der Zeitung und erhielt Berufsverbot. Seitdem publiziert sie als freie Autorin und Schriftstellerin vor allem zur Geschichte der polnischen Juden im 20. Jahrhundert.

Während 1990 in Berlin die Einheit gefeiert wird, reist Hannah Krall in den Schwarzwald
Im Dorf Klosterreichenbach recherchiert sie für eine geplante Erzählung mit dem Titel "Der Hintergrund des Auges". In diesem Dorf machen keine Reichen sondern "die erschöpften Bewohner des Ruhrgebiets" Urlaub, vermerkt Krall. Dort lebt auch nach dem zweiten Weltkrieg der ehemalige polnische Zwangsarbeiter Stani mit seiner deutschen Frau Gisela:

"Stani wollte nicht nach Polen zurück. Seine Mutter lebte nicht mehr, und er vermutete, er würde die Kommunisten nicht mögen. Er wollte auch nicht in Deutschland bleiben. Sie hatten vor nach Australien zu gehen doch sie hatten kaum die Koffer gepackt, da mussten sie wieder auspacken, weil Gisela erneut schwanger war."

Stanis und Giselas Sohn ist Stefan Wisniewski, der ehemalige RAF-Terrorist.
Hanna Krall recherchiert im Oktober 1990 in Deutschland, weil sie Familiengeschichte der Wisniewskis erzählen will. Sie trifft Stefan Wisniewski im Kölner Hochsicherheitstrakt. Später geht sie auf dem Friedhof von Klosterreichenbach auf Spurensuche. Dort fragt sie Frauen nach dem Grab von Wisniewskis Vater Stanislaw. Der war schon mit 27 Jahren an den Folgen eines KZ-Aufenthaltes in Dachau gestorben:

"Die Frauen unterbrachen ihre Arbeit an den Gräbern. "Ein Pole? Ach ja, der Mann von Gisela. Die ist umgezogen, sie war anscheinend krank." Das Grab ist vernachlässigt worden, weil kein Gärtchen darauf war."

Im Schwarzwald-Hotel "Sonne Post" logiert Hanna Krall in den Tagen der deutschen Wiedervereinigung. Dort kommt sie mit dem Hotelier ins Gespräch, der vom näher gerückten Osten nichts wissen will:

"Das andere Deutschland, jenseits des Schwarzwaldes, das interessiert uns nicht, sagte er. Was uns interessiert , ist die Schweiz, Frankreich, Straßburg, kurzum Europa. Wie Sachsen? Leipzig? Die DDR? Aber das ist doch Osten, das kümmert uns nicht, damit haben wir nichts zu tun."

Zum Schluss ihrer Darmstädter Rede ruft Hanna Krall vor Augen, was sie selbst genau am Tag der deutschen Einheit vor 18 Jahren getan hat.

"Was ich immer getan habe. Ich wusste, das ich schreiben muss. Die einen leben, die anderen schreiben. Leben tun diejenigen, die aufbauen, zerstören, regieren, kämpfen, und die anderen schrieben über dieses wirkliche Leben. Früher dachte ich, mein Leben sei schlechter, sei nur ein Pseudoleben. In letzter Zeit tröste ich mich damit, dass jeder leben kann, besser oder schlechter, aber schreiben können nur wenige. Also steht es wohl gar nicht so übel um mich."