Ideal und Wirklichkeit

Von Jochen R. Klicker |
Die Bemühungen um die Gründung einer internationalen Gerichtsbarkeit reichen bis um 1900 zurück. Angeregt wurde sie damals vom russischen Zaren Nikolaus. Seit 60 Jahren besteht nun der Internationale Gerichtshof in Den Haag als Rechtsinstrument der Vereinten Nationen. In den 60 Jahren seines Bestehens hat er 88 Entscheidungen gefällt.
Nachrichtensprecher: " Den Haag am 1. März 2006. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat mit den Anhörungen in der Anklagesache Bosnien-Herzegowina gegen Serbien und Montenegro begonnen. Die Regierung in Sarajevo beschuldigt die Führung Belgrads des Völkermordes. Sollte die Anklage erfolgreich sein, müssten Reparationen an Bosnien-Herzegowina gezahlt werden. Das Gericht wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, um Streitigkeiten zwischen Staaten beizulegen. Es agiert separat zum Haager Kriegsverbrechertribunal. Die Erfolgsaussichten der Klage gelten als gering, da der Großteil der Menschenrechtsverletzungen in Bosnien-Herzegowina durch bosnische Serben begangen wurde. "

Seit 13 langen und quälenden Jahren ist das "Hauptrechtsprechungsorgan" der Vereinten Nationen nun mit dem Fall befasst. In der ersten Verhandlung warf Bosnien damals der serbischen Regierung vor, durch Mord, Folter, Vergewaltigung, Massenexekutionen, Bombenangriffe und die Taktik, Zivilisten dem Hungertod auszusetzen, den Tatbestand des Völkermordes zu erfüllen. Die Kläger beriefen sich dafür zum ersten Mal seit ihrer Unterzeichnung auf die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948. Sie versuchten auf dem Wege einstweiliger Anordnungen des IGH, Serbien die Fortsetzung seiner "ethnischen Säuberungen" in Bosnien zu untersagen. Der Gerichtshof ordnete tatsächlich entsprechend "vorsorgliche Maßnahmen" an. Das Massaker von Srebenica hatte er trotzdem nicht verhindern können.

Denn man mag es politisch wenden, wie man will: Anders als bei den beiden Internationalen Strafgerichtshöfen für Ruanda beziehungsweise für das ehemalige Jugoslawien hat der Internationale Gerichtshof keine Möglichkeiten, seine Rechts-Entscheidungen in Form von Anordnungen, Gutachten und Urteilen auch zu vollstrecken. Bisher ist das völkerrechtliche Schwert der Vereinten Nationen stumpf. Denn gemäß der einschlägigen Artikel der UNO-Charta gilt:

" Der IGH kann nur tätig werden, wenn beide Parteien mit der Behandlung des Streitfalls vor dem Gerichtshof einverstanden sind oder die Gerichtsbarkeit generell vorab anerkannt haben. Seine Entscheidungen sind verbindlich; er hat jedoch nicht dieselbe Möglichkeit, diese auch durchzusetzen. "

Christian Tams, Sie sind Völkerrechtler an der Universität Kiel; Sie sind im laufenden Verfahren Bosnien-Herzegowina gegen Serbien in Sachen Völkermord Partei; und Sie sind gerade zurück aus Den Haag. Wie es scheint, wird der IGH nach der halben Ewigkeit eines 13jährigen Verfahrens und der mündlichen Verhandlung des Frühjahrs 2006 vermutlich doch noch ein Urteil sprechen. Aber wem zugute? Wem nützt jetzt noch ein Urteil – gleichgültig ob Serbien nun verurteilt wird oder nicht?

Tams: "Das Urteil kann, wenn es gut läuft, einen Beitrag zur Rationalisierung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten leisten. Es kann umgekehrt dazu führen, dass diese noch weiter angeheizt werden. Diese Klage Bosnien gegen Jugoslawien ist von beiden Seiten so hochgekocht worden, dass dieses Verfahren ein großes Krisenpotenzial hat. Wenn es gut läuft und ein ausgewogenes Urteil gefällt wird, dann weist das den Weg für das Verhältnis der beiden Nachbarn in den nächsten Jahrzehnten. Die beiden Nachbarn, die sich ja zumindest in einem einig sind, nämlich dass ihr gemeinsamer Weg nach Europa führt. Und der Gerichtshof kann seinen Beitrag dazu leisten."

Das klingt zwar überaus nüchtern, aber optimistisch. Wird jedoch der IGH nicht überschätzt, was die bindende oder zumindest wegweisende Kraft seiner Urteile angeht? Ist der Internationale Gerichtshof – selbst wenn man ihm noch ein bisschen mehr Durchsetzungsmacht verliehe – denn eigentlich mehr als nur ein "UNO-Rechtsgutachterausschuss"?

Tams: "Ich will hier jetzt gar keine rosarote Brille aufsetzen und nur sagen ‚Toll wie das alles funktionierte’. Der Gerichtshof hat in den vergangenen 60 Jahren in knapp hundert Streitfällen Urteile gefällt. Er hat in einer Vielzahl von kleineren Konflikten Lösungen vorgeschlagen, die von den Parteien umgesetzt worden sind. Er hat eine Fülle von ‚kleinen Kriegen’, die wir vielleicht gar nicht so richtig mitbekommen hätten, verhindert, indem er Recht gesprochen hat. Und er hat in einer zumindest relevanten Zahl von großen Konflikten seinen Beitrag zur Lösung des Konfliktes geleistet."
Wäre dem Gerichtshof in der öffentlichen Meinung nicht schon dann zu mehr Wirkungsmacht verholfen, wenn zum Beispiel der Sicherheitsrat zu so etwas wie einem "Gerichtsvollzieher" würde, der Maßnahmen beschließen könnte, um den Urteilen Nachdruck zu verleihen?

Tams: "Die Arten von Konflikten, die diskutiert werden, sind welche, die typischerweise in die Zuständigkeit des Sicherheitsrates fallen; nämlich die Art von Konflikten, die den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gefährden drohen. Für diese Fälle bestimmt die UN-Charta – die Charta der Vereinten Nationen – die Hauptverantwortlichkeit des Sicherheitsrates für derartige Konfliktlagen. Das ist also eine besondere Zuständigkeitsbegründung für den Sicherheitsrat. ... Der Sicherheitsrat ist – anders als der Internationale Gerichtshof – mit scharfen Schwertern ausgerüstet. Er kann bindende Sanktionen verhängen. Er kann das übrigens auch zur Durchsetzung von Urteilen des Internationalen Gerichtshofes. Aber er kann es auch unabhängig davon zur Lösung internationaler Konflikte. Er hat also dieses Arsenal – wenn Sie so wollen den ‚Gerichtsvollzieher’, die Truppen - zur Verfügung, um Konflikte mit scharfem Schwert zu lösen."

Alle diese Ideen sind gar nicht neu. Im Gegenteil: Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben imperialistische Nationalisten wie internationale Pazifisten immer mal wieder darüber nachgedacht, wie man der Zwangsläufigkeit von Kriegen zum Austragen von außenpolitischen Konflikten entgehen und Schiedsinstanzen schaffen könne. Nehmen wir uns also jetzt kurz Zeit für eine kleine historische Rückblende!

Am Anfang der Idee eines ständigen internationalen Schiedsgerichtes steht – um die Wende vom 19ten zum 20ten Jahrhunderts - eine Persönlichkeit, die gewiss nicht zu den führenden politischen Köpfen in Europa zählt: der russische Zar Nikolaus II.

In seiner fatalistischen Willensschwäche hatte er es nicht vermocht, den Ersten Weltkrieg und den Untergang des Russischen Reiches abzuwenden. ... Der Revolution von 1905 sah er sich ebenso hilflos gegenüber wie dem unglückseligen Krieg gegen Japan. Auch in der Außenpolitik, in der er 1898 die Welt mit einem Abrüstungsvorschlag überraschte, spielte Nikolaus niemals eine persönliche Rolle. Und selbst seine Freundschaft zu Kaiser Wilhelm II., von der ein umfangreicher Briefwechsel Zeugnis ablegt, ist politisch unwirksam geblieben.

Dass eine derart schwache Persönlichkeit umso nachdrücklicher für die große Idee der Abrüstung und für einen universellen Frieden eintritt, kann kaum überraschen. Zumal der Zar schon von Natur aus ein friedliebender Mensch gewesen sein soll – zumindest im Umgang mit den europäischen Fürstenhöfen und Großmächten -, wie jedenfalls viele Zeitgenossen unterstreichen.

Durch die diplomatischen Kanäle aller in Sankt Petersburg akkreditierten Gesandten verbreitet er seinen Vorschlag, eine Abrüstungskonferenz einzuberufen. Zar Nikolaus formuliert persönlich den Text. Er überwacht die Übergabe der Note an die Adressaten. Er begrüßt zu Tränen gerührt die Vertreter von mehr als 30 Mächten, die sich vom 18. Mai bis 29. Juli 1899 in der niederländischen Residenzstadt zur Ersten Haager Friedenskonferenz versammeln.

Was der Zar wohl nicht weiß: Dass die Konferenz trotz aller erheblichen Widerstände stattfindet, liegt am Takt vor allem der Großmächte, die den noch jungen Monarchen nicht vor den Kopf stoßen wollen. Was seine Träume schnell beendet: Dass die russischen Vorschläge zur Kontrolle und Verminderung der Rüstungsproduktion den Delegierten nur der Form halber vorgelegt, aber nicht einmal diskutiert werden. Nikolaus "große Idee" platzt endgültig, als die Konferenz lediglich eine Resolution verabschiedet, in der man sich für einen kommenden Krieg, den alle für unvermeidlich halten, auf eine ‚Landkriegsordnung’, auf eine Milderung der Kriegführung einigt. Im übrigen geben die Regierungen feierliche Versprechen ab ...

" ... Keine Anwendung von chemischen Kampfmitteln. Keine Verwendung von Gasgranaten. Kein Abfeuern von Explosivgeschossen, den sogenannten Dum-Dums. Und last but not least Bereitschaft zur friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten. "

Die schnell zum Hauptproblem der Konferenz wurde, da nicht weniger als drei Mächte – die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Russland -
vorschlugen, hierfür einen Ständigen Schiedshof zu schaffen, und für ihn auch gleich fertige Entwürfe aus dem Diplomatengepäck holten. Die Deutschen waren zunächst überrascht, widersprachen erst dem Vorhaben nachdrücklich, lenkten schließlich ein. Hofften ihrerseits dann auf die Einrichtung einer völkerrechtlich agierenden Konfliktsinstanz.

Christian Tams: "Der Ständige Schiedshof war in der Tat ein Vorläufer zum Vorläufer des jetzigen IGH. Der war ein Produkt der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. ... Unabhängig von dem inhaltlichen Recht ging es darum: Wie löst man Konflikte über das Recht? Und der Haager Schiedshof war eine der Antworten. ... Und 1907 ist man dann auch dazu übergegangen, Verfahren zu schaffen wie Schlichtung, Mediation, Untersuchungen, also alles Aspekte, die zu einer Lösung von Streitfällen beitragen könnten. Der Schiedshof ist die Institution, die das alles zusammenfasst, aber er ist kein Gerichtshof im Sinne eines dauerhaft existierenden, arbeitenden Gerichts. Das kam erst mit dem Ständigen Internationalen Gerichtshof."

Übrigens: Der damals geschaffene Ständige Schiedshof in Den Haag besteht immer noch ... und hat was zu tun, Christian Tams?

"Den Schiedshof gibt’s immer noch. ... Der Schiedshof hat sogar in jüngerer Zeit erstaunliche Erfolge zu verzeichnen. ... Der äthiopisch-eritreische Krieg, der einer der schlimmsten Kriege der letzten Jahre ist, wird im Wesentlichen – was die schiedsrichterliche Beilegung angeht – vom Schiedshof betreut. Die Verhandlungen laufen unter diesem Dach. Also er besteht fort."

Schon seit dem späten Mittelalter stand die Forderung, übergreifende friedensstiftende und friedenserhaltende Institutionen zu schaffen, immer mal wieder auf der politischen Agenda der europäischen Staaten. Denn trotz der Zersplitterung in zahlreiche Teilreiche und -staaten nach dem Untergang des Imperium Romanum lebte die Idee der christlichen Einheit Europas mit der Kirche als Zentrum in der römischen Rechtsphilosophie weiter. Praktisch jedoch konnte solche Einheit nur unter dem Papst in der Rolle des höchsten Schlichters beziehungsweise unter dem Kaiser während der Kreuzzüge – und dies auch nur für kurze Zeit – erreicht werden. Das berichten übereinstimmend politische Theorie und internationales Völkerrecht. Nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass es gelehrte, progressive und pragmatische Internationalisten in Mittelalter und früher Neuzeit durchaus gegeben habe. Allen voran der französische Publizist und Staatstheoretiker Pierre Dubois um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Dazu der Rechtshistoriker Michael Baer:

"Mit dem vordergründigen Ziel einer Rückeroberung des Heiligen Landes hatte Dubois den Plan einer europäischen Prinzenversammlung mit zugeordnetem permanentem Schlichtungshof entworfen, der sogar militärische und wirtschaftliche Sanktionen zur Beschlussdurchsetzung veranlassen konnte. Ihm ging es dabei vor allem um die Schaffung dauerhaften Friedens für alle Nationen. ... In diesem Zusammenhang besonders hervorzuheben ist Dubois’ Wertung, dass der Krieg an sich schlecht und unrecht sei: Krieg nur um des Krieges willen brandmarkte er als das größte aller Übel. Bei der Lösung von Konflikten innerhalb des christlichen Abendlandes müsste striktes Kriegsverbot herrschen. Streitfälle sollten vor einem übergeordneten Schlichtungshof mit dem Papst als letzter Instanz verhandelt werden."

Doch bedurfte es noch diverser Stationen eines geistesgeschichtlichen Lernprozesses, bis die internationale Staatengemeinschaft bereit war zur Gründung einer völkerrechtlichen Institution, die über den "dauerhaften, weil gerechten Frieden" wacht.

Am 30. Januar 1922 ...

... trat der Ständige Internationale Gerichtshof, als dessen Sitz der Friedenspalast in Den Haag bestimmt war, zum ersten Mal zusammen. Und da dieser Gerichtshof sich als Rechtsmittel des Völkerbundes bewährt hatte, so bestand schon kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kein Zweifel daran, dass auch eine neue Staatenorganisation einen solchen Gerichtshof vorsehen müsse. Bereits ab April 1944 und parallel zu den Debatten um die Schaffung der Vereinten Nationen wurde in zahlreichen Gesprächen über "die Zukunft des Völkerrechts" geklärt, dass es einen Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen geben solle. Wobei lange Zeit offen blieb, ob es sich um die Fortsetzung des alten Völkerbund-Gerichtshofes oder um ein neues Gericht handeln solle. Anfang April 1946 trat der Internationale Gerichtshof in Den Haag erstmals zusammen, wählte seinen Präsidenten und seinen Generalsekretär und lud zur feierlichen Eröffnungssitzung ein. Die fand statt...

... am 18. April 1946.

Dass es mit nur geringen politischen und institutionellen Korrekturen weiterging, lag auch und nicht zuletzt am Votum der kleinen und mittleren Mächte. Auch sie waren direkt oder indirekt von Hitlers Angriffkriegen und den Gewaltmassnahmen der Achsenmächte Italien, Japan und des Deutschen Reiches überrollt und in den Zweiten Weltkrieg gezerrt worden – da war das Völkerbundsystem dramatisch gescheitert. Aber im Übrigen erinnerten sich gerade diese Staaten daran, dass in Fragen von geringerem politischen Gewicht der Völkerbund mit Hilfe des Gerichtshofes im Haager Friedenspalast durchaus nicht ohne Erfolg agiert hatte. Aber das Misstrauen und allzu stark divergierende Interessen seiner tonangebenden Mitglieder lähmten ihn als Instrument der Kriegsverhinderung. ... So zeigte sich schon damals, was sich in der Geschichte der Vereinten Nationen nach 1945 bestätigte: Ein kollektives Sicherheitssystem hängt in seiner Wirksamkeit ab vom politischen Willen und vom Interesse seiner mächtigsten Mitglieder.

Christian Tams, sind die im Friedenspalast von Den Haag angesiedelten Institutionen der internationalen Rechtspflege – und ist insbesondere der Internationale Gerichtshof IGH - die Wiederbelebung eines alten oder die Verwirklichung eines neuen Gedankens?

Tams: "Formell ist die Antwort ‚neu’, denn es wurde bewusst ein neuer Gerichtshof gegründet; es wurde nicht der alte fortgeführt. Das spiegelt sich im Namen wider. Früher hieß er in der Völkerbundzeit ‚Ständiger Internationaler Gerichtshof’, heute heißt er ‚Internationaler Gerichtshof’'."
Und er wurde im Gegensatz zur Völkerbundszeit, wo er etwas neben den politischen Gremien stand, nach dem Zweiten Weltkrieg eng in das System der Vereinten Nationen und ihrer Organe eingebunden. Liegt da nicht die Vermutung nahe, der IGH sei jetzt abhängiger vom jeweiligen politischen Klima in Vollversammlung, Sicherheitsrat und Generalsekretariat?

Tams: "Also er ist Organ der Vereinten Nationen, aber bewusst unabhängiges Organ. So wie das Bundesverfassungsgericht ein Organ unter der deutschen Verfassung ist, aber niemand hat den Eindruck, es würde nun deswegen in Geiselhaft genommen. ... Der Gerichtshof hat die Attribute eines Gerichts, nämlich unabhängig zu sein vom UNO-System."

Was von den an der Gründung der UN-Institutionen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligten Völkerrechtlern und Politikwissenschaftlern durchaus kritisch gesehen wurde. Damals hieß es nämlich bei Hans Wehberg und Hans-Waldemar Goldschmidt:

"Die Unabhängigkeit des Gerichtshofes braucht unter der Tatsache, dass der Gerichtshof das richterliche Hauptorgan der Vereinten Nationen ist, nicht unbedingt zu leiden. Eine andere Frage ist freilich, ob nicht die enge Verbundenheit des Statuts des Gerichtshofes mit der Organisation der Vereinten Nationen ihm im Falle einer schweren Krise der Vereinten Nationen schaden kann. Es ist zu bedauern, dass der Internationale Gerichtshof nicht genau ebenso wie der Haager Ständige Schiedshof gänzlich unabhängig von dem Bestande einer politischen Organisation ist. Freilich würden sich dann Schwierigkeiten anderer Natur ergeben. So wie die Dinge liegen, muss man zufrieden sein, dass wir überhaupt in dieser zerrissenen Welt einen Internationalen Gerichtshof von hohem moralischen Ansehen besitzen."

Ein Ansehen, dass sich auch und vor allem – nach anfänglichen Verdächtigungen möglicher Parteilichkeit – die von Vollversammlung und Sicherheitsrat für jeweils neun Amtsjahre gewählten 15 Richter des IGH erworben haben.

Tams: "Für die Mehrzahl der Richter sind derartige Vorwürfe noch nicht mal laut geworden. Und sind auch mit Grund nicht laut geworden. Gerade das Verfahren, das Sie angesprochen haben, spricht eigentlich dafür, das die Richter, je mehr sie am Gerichtshof sind, sich von ihrem eigenen Land loslösen und tatsächlich zu dem werden, was sie sein sollen – nämlich überparteiliche, unparteiische Richter über einen Sachverhalt. Das wird sichergestellt dadurch, dass mittlerweile das Wahlverfahren hoch umstritten ist. Deutschland zum Beispiel, das sich seiner Völkerrechtstradition bewusst ist, hat es drei Mal vermocht, Richter am Internationalen Gerichtshof zu platzieren. Aber schon um erstens das zu erreichen und schon um zweitens sich da nicht zu blamieren, hat es jeweils Kandidaten ausgewählt, die das Land nach außen hin sowohl völkerrechtlich als auch von ihrem internationalen diplomatischen Status her sehr gut vertreten konnten. Und das ging und geht in den drei Fällen auch sehr gut auf. Es gibt also einen Wettbewerb um diese Plätze, und es ist keine Garantie – gerade weil es nur 15 Plätze gibt, aber 200 Staaten Interesse haben, ihre Staatsangehörigen dort zu platzieren – da gibt es also tatsächlich einen Wettbewerb."

Nach seiner Errichtung hatte der Internationale Gerichtshof zunächst ein ähnliches Schicksal, wie es dereinst der Haager Ständige Internationale Gerichtshof ganz zu Anfang seiner Wirksamkeit gehabt hatte: Es wurde ihm weder von der UN-Vollversammlung noch vom Sicherheitsrat eine Völkerrechtsangelegenheit zur Entscheidung oder gutachtlichen Äußerung überwiesen. Auch die Einzelstaaten warteten ab. Erst Ende Mai 1947 verklagte Großbritannien Albanien wegen der Verminung der Zufahrtswege zum Kanal von Korfu. Damit war das erste Verfahren anhängig.

Mittlerweile kann sich der IGH über Arbeitsmangel nicht mehr beklagen. Die 15 unabhängigen Richter, die von der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat für eine Amtsdauer von neun Jahren gewählt werden, haben in den 60 Jahren des Bestehens des IGH 88 Entscheidungen gefällt. Diese betreffen unter anderem Grenzstreitigkeiten, die territoriale Souveränität von Staaten, den Nicht-Einsatz von Gewalt, die Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten, Geiselnahme zur internationalen Erpressung, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht.
In seiner zweiten, beratenden Funktion hat das Gericht 26 Gutachten erstellt. Deren inhaltliche Bandbreite reicht von der Aufnahme in die Vereinten Nationen bis zum Status des Menschenrechtsbeauftragten der UNO.

Doch gleichgültig, ob Urteil oder gutachten, es gilt immer: Das Gericht entscheidet gemäß geltenden internationalen Verträgen und Konventionen, entsprechend Völkergewohnheitsrecht und nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Bei der Feststellung der Rechtsnormen nutzt es die einschlägigen richterlichen Entscheidungen und die Lehren der anerkannten Autoren der verschiedenen Staaten als Hilfsmittel. Die Entscheidungen des Gerichts sind endgültig, ein Berufungsverfahren ist nicht möglich. Leistet eine der Streitparteien einer Gerichtsentscheidung nicht Folge, hat die andere Partei die Möglichkeit, sich an den Sicherheitsrat zu wenden.

Zumal das Kapitel Vierzehn der Charta der Vereinten Nationen nach wie unmissverständlich festgeschrieben hat, dass der Internationale Gerichtshof, wie in Zeiten des Völkerbundes, keine verpflichtende, sondern eine freiwillige internationale Gerichtsbarkeit anbietet. Kommt das nicht einer Selbstamputation gleich, Christian Tams?

Tams: "Der Gerichtshof ist nicht automatisch zuständig. ... Wenn wir in Deutschland oder auch in sonstigen Staaten der Ansicht sind, uns wird Unrecht getan, dann steht uns immer der Weg zum Gericht offen. (In 99 Prozent der Fälle.) Das ist im Völkerrecht anders und das ist auch der wesentliche Unterschied und auch die Quelle, warum man so viele übersteigerte Erwartungen an den Gerichtshof ... heranträgt. Im Völkerrecht ist es so, dass Gerichte nur zuständig sind, wenn ihre Zuständigkeit ausdrücklich begründet wird. ... Daran wird sich nichts ändern. Dieses strukturelle Problem bleibt bestehen. Alle wünschen sich, dass es anders wär’, dass es auch im Völkerrecht eine zwingende Gerichtsbarkeit gäbe. ... Aber das ist beim derzeitigen Stand des Völkerrechts nicht realistisch."

Immer wieder fällt – quasi wie ein Gebot des internationalen Rechts - das Stichwort "Konflikte im Konsens lösen". Aber geht das überhaupt?

Tams: "Wenn man ‚Konsens’ nicht als Wir-fassen-uns-an-den Händen-tanzen-Ringelreigen-und-sind-beste-Freunde versteht, dann schon! Konsens muss erarbeitet werden. Der Internationale Gerichtshof und sein Verfahren ist eine Möglichkeit, sich diesen Konsens zu erarbeiten. Indem man Streitigkeiten rationalisiert, verrechtlicht; indem man sich die zu Grunde liegenden Rechtsprinzipien vor Augen führt; und indem man sich unterwirft der bindenden Entscheidung durch ein Gericht, das man im Grunde akzeptiert. ... Das Problem ist das sanktionierende Durchsetzen von Urteilen. Es gibt keinen internationalen Gerichtsvollzieher. Aber auch da profitiert der internationale Gerichtshof davon, dass er in das UN-System eingebunden ist. Denn zumindest gibt es etwas, was der Ständige Internationale Gerichtshof nicht hatte: Es gibt die Möglichkeit der Durchsetzung von Gerichtsurteilen durch den Sicherheitsrat. Das heißt hier gibt es die Kombination – in der UN-Charta vorgesehen - des gerichtsförmigen Verfahrens mit verpflichtender Entscheidung, das durch das Sanktionsorgan der UNO – nämlich den Sicherheitsrat – durchgesetzt werden kann."

Aber genau dieser Sicherheitsrat ist es, der die anderen Organe der UN in Abhängigkeit halten kann. Denn er hat fünf Mächten – China, Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA – ein Vetorecht gegeben, das zumindest die Sanktionen gegen genau diese Fünf so gut wie unmöglich macht, also zwei "Sorten" von Mächten geschaffen hat

Tams: "Das ist nun die Achillesferse ... das ist die Stärke und Schwäche der UNO, dass sie machtpolitisch realistisch ist und manche Mächte, die mehr ‚können’, mit Vetomacht ausstattet. Das ist für Völkerrechtler und gerade für idealistische Völkerrechtler immer wieder frustrierend zu sehen, dass damit vielleicht der Machtpolitik zu weit die Tür geöffnet wird. Sie haben Recht! Die Tatsache, dass der Sicherheitsrat Sanktionen zur Durchsetzung von IGH-Urteilen ergreifen kann, dass er aber dabei dem Veto der Ständigen Mitglieder ausgesetzt ist, ist ein großes Problem."

O-Ton OrtsZeit vom 23. Februar 2004 zum Mauerbau in Israel
(Justizminister Tommy Lapid äußert sich – hebr. mit dtsch. Übersetzung - zur Nichtteilnahme Israels an den Haager Anhörungen zum "Sperrzaun")

Das sagte Israels Justizminister Tommy Lapid im Februar 2004. Und ein paar Monate später bezeichnete Ministerpräsident Ariel Sharon – nach der Veröffentlichung des für Israel nachteiligen Haager Gutachtens – die Haltung des IGH als Ohrfeige für den Kampf gegen den Terror.

In der Tat hatte Israel von Anfang an den Bau seiner rund 150 Kilometer langen Sperrmauer auf dem Territorium des Westjordanlandes damit begründet, dass es sich schützen müsse vor dem Einsickern palästinensischer Selbstmord-Attentäter. Außerdem hatte sich der Juden-Staat gegen internationale Vorwürfe gewehrt, die von Israels "Sicherheitszaun" als einer Apartheid-Mauer sprechen wollten.

Schließlich verwahrte sich Tel Aviv gegen den Antrag der UN-Vollversammlung, den Internationalen Gerichtshof um ein völkerrechtliches Gutachten zu bitten, weil der Antrag auf Initiative der arabischen Welt zustande gekommen war und bei der Abstimmung zwar 90 Stimmen bekommen hatte, aber die acht Nein-Stimmen und die 74 Stimmenthaltungen von den politisch mächtigen und einflussreichen Staaten stammten. Aber weder Nichtmitwirkung bei den Anhörungen noch die Ablehnung des Vorgehens selbst konnte etwas daran ändern, dass der IGH das Sperrwerk für völkerrechtlich illegal erklärte, da es zum größten Teil auf palästinensischem Gebiet verliefe. Und der Gerichtshof denunzierte Israel moralisch, indem er die Mauer auch als Verstoß gegen die 4. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten wertete. Die Konvention – so hieß es – gelte nämlich nicht nur bei erklärten Kriegen, sondern auch bei bewaffneten Konflikten. Außerdem schränke die Mauer die Bewegungsfreiheit von mindestens 15.000 Palästinensern ein und behindere sie bei der Arbeit sowie beim Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Schulen und Universitäten. Vor allem aber die Aufforderung aus Den Haag, mehrere Teile der Sperranlagen abzureißen und die betroffenen Palästinenser zu entschädigen, ließ die israelische Regierung das Gutachten ablehnen. Aber die hatte nicht mit dem eigenen Obersten Gericht gerechnet, das den Haager Tenor übernahm.

Tams: "Das Gutachterverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gibt eigentlich wieder mal die Möglichkeit, Grenzen und Möglichkeiten der internationalen Gerichtsbarkeit aufzuzeigen. Das Erste ist: Das war ein Gutachtenverfahren. Das unterscheidet sich von den Fällen, über die wir bisher gesprochen haben, darin, dass es kein bindendes Urteil gibt, sondern ein Gutachten zur Rechtmäßigkeit. Also es ist nicht bindend. Das gibt’s auch in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat das früher auch gekonnt, Gutachten vorzulegen. Beim Internationalen Gerichtshof gibt’s das immer noch, beim Bundesverfassungsgericht nicht mehr. Nicht bindend! Das ist das Wichtige! Trotzdem nicht einflusslos. ... Im Fall Israel ist es so: Was der Gerichtshof festgestellt hat, war, dass die Mauer, wie sie konkret verlief, nämlich jenseits der Grünen Linie durchs Westjordanland, gegen Völkerrecht verstieß. Es ging nicht darum, ob eine Mauer gebaut werden durfte als solche. ... Wichtig ist jetzt, dass im Nachhinein Israel durchaus Korrekturen, am Grenzverlauf, am Mauerverlauf vorgenommen hat. ... Der israelische Supreme Court – das höchste Gericht Israels – hat selber im Verfahren nach dem Gutachtenverfahren sich geäußert zur Rolle von Gutachten des Internationalen Gerichtshofes. Und das ist interessant. Der Supreme Court Israels hat ausdrücklich gesagt, der Internationale Gerichtshof habe die Völkerrechtswidrigkeit des konkreten Mauerverlaufs festgestellt. Der Supreme Court hat gesagt, das sei nicht bindend, aber ‚es ist Ausgangspunkt unserer Beurteilung’."

Wir sind inhaltlich am Ende mit unserer Zeitreise zum 60. Geburtstag des Internationalen Gerichtshofs im Friedenspalast von Den Haag. Aber Christian Tams, unser sach- und fachkundiger Gesprächspartner aus dem Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht an der Kieler Universität ist ein bisschen besorgt. Er vermutet, dass mancher, der jetzt zugehört hat, der Faszination der Schlagzeilen erlegen ist. Die sprechen nämlich in den letzten Monaten häufig – und nicht erst seit dem überraschenden Herztod des ehemaligen jugoslawischen und serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic – viel von internationalen Strafprozessen, die in Den Haag gerade verhandelt werden. Dem Völkerrechtler Tams liegt am Herzen, durch eine kleine, präzisierende Zusammenfassung zum Ende, möglichen Missverständnissen über die diversen Institutionen, die in Den Haag als der Hauptstadt des Völkerrechts angesiedelt sind, zu begegnen.

Tams: "Der Internationale Gerichtshof, über den wir hier sprechen, ist ein Gericht, das Streitigkeiten zwischen Staaten verhandelt. Es klagt ein Staat gegen einen anderen Staat. Und es gibt darüber hinaus die Möglichkeit von Gutachtenverfahren. Das ist der erste. Es gibt zwei Strafgerichtshöfe, die sich mit bestimmten Ländern befassen: Jugoslawien und Ruanda. Nach den Verwirrungen oder Völkermorden der 90er Jahre und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, dass es einer gerichtlichen Aufarbeitung bedürfe, und er hat zwei sogenannte Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda eingerichtet. Auch diese sind in Den Haag angesiedelt. Drittens: Es gibt den Internationalen Strafgerichtshof. Das ist nun die Fortsetzung dieser speziellen Strafgerichtshöfe. In der Zukunft soll es ein Internationales Strafgericht geben, vor dem einzelne Personen angeklagt werden – wegen Völkermord, wegen Kriegsverbrechen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch der ist in Den Haag angesiedelt. Da geht es aber um Strafverfahren gegen einzelne Personen. Und diese drei Gerichte werden immer durcheinander geworfen; was dann für ‚Sorge’ bei Völkerrechtlern sorgt. Also: Internationaler Gerichtshof für Staaten. Jugoslawien- und Ruanda-Tribunale als Strafgerichte mit begrenzter Zuständigkeit. Und der Internationale Strafgerichtshof als allgemeines Strafgericht für die Zukunft."
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