Gelebte Utopie im Wald von Tennessee
Eine Kolonie als Gegenmodell zur britischen Klassengesellschaft, mitten im Wald: Es war ein wagemutiges Experiment, das 1880 im US-Bundesstaat Tennessee verwirklicht wurde. Auch ein deutscher Philosoph war unter den Gründern. Lange hielten die Siedler aber nicht durch.
Zweieinhalb Stunden lang bin ich durch den Bundesstaat Tennessee im Südosten der USA gefahren. Von Nashville aus über den US-Highway 40, vorbei an trostlosen Siedlungen voller Fast-Food-Restaurants, Shopping-Malls und Tankstellen. Es ist ein frischer Frühlingstag, die Wolken hängen tief über der Landschaft. Vor lauter Eintönigkeit habe ich schon jedes Zeitgefühl verloren, als ich die Brücke am Clear Fork River erreiche, einem schmalen, von Eichen und amerikanischen Hemlocktannen umgebenen Fluss. Sie ist die Grenze zu einer anderen Welt.
Ich biege scharf links in einen Waldweg ein und erreiche nach wenigen Minuten die Siedlung Historic Rugby. Der Ort, gelegen inmitten einer saftig-grün bewachsenen Hügellandschaft nahe der Grenze zwischen Tennessee und Kentucky scheint aus der Zeit gefallen – als wäre ich mit dem Auto zurück ins 19. Jahrhundert gereist.
Historic Rugby ist ein Relikt der US-Geschichte. Die Ortschaft gilt als eine der architektonisch besterhaltenen ehemaligen Utopisten-Siedlungen im Osten der USA. Zweit- und drittgeborene junge Adelige aus Großbritannien, die in der Erbfolge leer ausgingen, träumten hier in den Jahren nach 1880 von einem besseren und gerechteren Leben. Einem freien Leben ohne Standesklassen – weit weg von zu Hause, auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans.
Geblieben von diesem Traum sind einige im viktorianischen Stil erbaute Holzhäuser, versteckt zwischen Wäldern und Tümpeln jenseits der Hauptstraße. Die meisten Gebäude sind renoviert und in sommerlichen Pastellfarben gestrichen, von lindgrün und hellblau bis zartocker und rosarot. Eine Kulisse, die Touristen anzieht: Viele Besucher bleiben für ein paar Tage im Gästehaus, wenige Meter hinter dem einzigen Restaurant des Ortes, um sich in der abgeschiedenen Idylle zu erholen.
Eines der bedeutendsten erhaltenen Gebäude aus der Zeit der Siedler ist die Bibliothek, gleich gegenüber der Dorfkirche. Hier treffe ich George Zepp. Der 64-Jährige, ein Mann mit der Nickelbrille und akkurat gestutztem Schnauzbart, ist ein Urenkel von Robert Walton, einem der Gründungsväter der Siedlung. Ursprünglich arbeitete Zepp als Redakteur bei einer Zeitung in Nashville. Nach seiner Pensionierung aber zog er gemeinsam mit seinem Lebensgefährten in die Siedlung, in der er schon seine Kindheit verbrachte.
"Vor allen vier Wänden im Raum stehen hölzerne Regale. Selbst über der Eingangstür wurden Regalbretter angebracht, die mit Büchern vollgestellt sind! Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert, ihre Bindungen sind sehr farbenfroh – damals erlebte die Buchdruckkunst eine wahre Blüte. Man sieht hier goldene Verzierungen auf manchem Cover. Obwohl es hier nichts als Bücher und Regale gibt, ist das ein recht bunter Ort!"
Gründerväter hatten ein elitäres Bildungsideal
Der Begriff Utopie kommt aus dem Griechischen und geht auf den englischen Schriftsteller Thomas Morus zurück, der im 16. Jahrhundert lebte. Wörtlich bezeichnet er einen fernen, nicht vorhandenen Ort, an dem eine ideale Gesellschaftsordnung existiert. In der Bibliothek von Historic Rugby aber wird dieser fiktive Ort ganz real: Die Gründerväter der Siedlung hegten ein elitäres Bildungsideal. Rund 7.000 Bücher stehen in dem 1882 errichteten Gebäude – mitten im Wald. Durch das günstige Klima haben sie die Zeit gut überstanden. Viele Bücher wurden von Verlegern von der Ostküste gespendet, die mit den Utopisten sympathisierten. Andere wurden von den Siedlern selbst mitgebracht.
Gleich links neben dem Eingang, in einem Regal über dem Schreibpult des Bibliothekars, stehen sogar mehr als 50 deutschsprachige Exemplare: darunter ein Handbuch der deutschen Literatur und gesammelte Werke von Goethe. Hinterlassen wurden sie von dem ersten Bibliothekar der Siedlung: dem Potsdamer Schriftsteller Eduard Bertz.
"Die Bibliothek von Historic Rugby ist die größte Leistung von Eduard Bertz in Rugby. Als Farmer war er nicht geeignet, die Stelle des Bibliothekars aber passte zu ihm. Er arbeitete sehr akribisch, war geistig wach und gut sortiert. Noch heute erzählt man sich Witze über ihn. Er nahm seinen Job als Bibliothekar sehr ernst – und verbot den wenigen Einwohnern in der Siedlung, Bücher auszuleihen, bevor sie in den Katalogen vollständig erfasst wurden. Darüber wurde sogar in der Zeitung berichtet: Solange die Bibliothek nicht betriebsbereit ist, dürfen keine Bücher ausgeliehen werden!"
Die Geschichte des Eduard Bertz
In der Bibliothek von Historic Rugby stehen zwei Schwarzweißfotos des Schriftstellers Eduard Bertz auf einem schmalen Stehtisch aus Nussbaumholz vor den Regalen. Eines zeigt ihn als jungen Mann Anfang 30, den Blick in die Ferne gerichtet. Das andere als Greis, mit verhärmtem Gesicht und weißem Rauschebart. Wer war dieser Mann?
Die Geschichte des Eduard Bertz beginnt auf der anderen Seite des Atlantiks, in der preußischen Residenzstadt Potsdam. Hier wird Bertz am 8. März 1853 geboren – wenige Jahre nach der gescheiterten 1848er Revolution. Bertz wächst in wohlhabenden Verhältnissen auf. Wulfhard Stahl, Bibliothekar in Bern und einer der wenigen Bertz-Kenner im deutschsprachigen Raum:
"Sein Vater war Papierwarenhändler in Potsdam, die Mutter hat dann offenbar Häuser gehabt, wie es in einem Brief heißt – sie muss die Mieten eintreiben! – und war nachher mit einem Optikus und Mechaniker in Potsdam wiederverheiratet."
"Sein Vater war Papierwarenhändler in Potsdam, die Mutter hat dann offenbar Häuser gehabt, wie es in einem Brief heißt – sie muss die Mieten eintreiben! – und war nachher mit einem Optikus und Mechaniker in Potsdam wiederverheiratet."
Mit 18 Jahren veröffentlicht Bertz erste Gedichte in einer Literaturzeitschrift und zieht 1875 nach Leipzig, um dort Kameralistik zu studieren. Die Jahre danach tritt er auch politisch in Erscheinung. Bertz engagiert sich für die emanzipatorischen Bewegungen seiner Zeit, schreibt Artikel für den sozialdemokratischen "Vorwärts" und die linke "Berliner Freie Presse". Einer seiner Texte wird ihm zum Verhängnis: Wegen angeblicher Beleidigung des preußischen Militärs wird er im Herbst 1878 nach Bismarcks Sozialistengesetz zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt – in Abwesenheit. Denn Preußen hat er längst den Rücken gekehrt, auch von der Politik wendet er sich ab, erzählt Stahl:
"Bertz hat sich im Frühjahr 1878 offiziell aus Potsdam abgemeldet, sogar vom Militär wurde er befreit, ging dann nach Paris und entsagt dann aber der Sozialdemokratie, weil sie nämlich ‚korrupt’ sei und ‚verdorben bis in Herz’. Es gibt da einige Briefstellen, die er schon ganz früh einem Freund nach Frankfurt/Oder schreibt: ‚Eine ethische, moralische Wende – oder gar nichts!’ Und Bertz wendet sich dann in der Tat eher moralisch-philosophischen- und Erziehungsfragen zu."
Von Paris nach London
Von Paris aus zieht Bertz Ende 1878 weiter nach London, wo er Aufsätze über englische Poesie, Märchen, Rezensionen und Kindergeschichten verfasst. Leben kann er davon ebenso wenig wie vom kurzzeitigen Unterricht an einer Mädchenschule. Über Wasser hält er sich durch eine Erbschaft, die ihm immerhin für zehn bis zwölf Jahre eine sorglose Existenz in Europa sichern könnte, wie er in einem Brief schreibt. Doch Bertz ist die Heimat fremd geworden: Private Studien mit dem Ziel einer Promotion am philosophischen Institut in Zürich versanden. Wie andere junge Intellektuelle dieser Zeit hat ihn die Europamüdigkeit gepackt.
"Das eine ist eine gewisse Müdigkeit mit der nationalen Politik und für viele auch sozusagen der Progressivität innerhalb nationaler Politik."
Erklärt Jessica Gienow-Hecht, Geschichtsprofessorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin:
"Für andere ist es die Müdigkeit der Grenzen, die das Klassensystem dem Einzelnen auferlegt. Damit verbunden ist aber vor allen Dingen eine gewisse Dekadenz oder eine dekadente Haltung, die Europa vorgeworfen wird in Bezug auf seine eigene kulturelle Entwicklung. Es fehlt an Dynamik, es passiert eigentlich nichts mehr. Die Moderne wird sich dann damit auseinandersetzen, mit der Avantgarde und einer stark expressionistischen Kultur, die viele Dinge wieder hinterfragt und über den Haufen wirft. Die Europamüdigkeit geht dieser Entwicklung sehr stark voraus."
Europa: die alte Welt, eng und stickig. Die Welt der großen Ideen und der gescheiterten Revolutionen – eine Welt, die weder geografisch noch politisch Raum bietet, neue Lebensformen zu entwickeln. Bertz erfährt in London von dem britischen Kinderbuchautor und Parlamentarier Thomas Hughes, der im Oktober 1880 die Agrarkolonie Rugby gegründet hat – benannt nach dem renommierten englischen Internat in der Grafschaft Warwickshire, das er einst selbst besuchte. Gemeinsam mit Investoren auf beiden Seiten des Atlantiks hatte Hughes Geschäftsleuten aus Boston knapp 30 Hektar Land im US-Bundesstaat Tennessee abgekauft. Der Südstaat gilt zu dieser Zeit als unerschlossenes Gebiet – und eignet sich bestens als soziales und kulturelles Laboratorium. Hier sollen junge mittellose Briten gemeinsam mit Amerikanern leben und arbeiten, sich selbst versorgen und bilden, frei von den Zwängen der Klassengesellschaft, beschreibt Zepp die Gründungsidee:
Hughes wusste, dass die junge Generation in England große Probleme hatte, Arbeit und Lohn zu finden. Das betraf alle gesellschaftlichen Schichten, selbst die Oberschicht. Hier erbte der älteste Sohn alles, die Jüngeren gingen leer aus. Sie konnten zum Beispiel den Beruf eines Pfarrers, Offiziers oder Arztes ergreifen – doch die Stellen in diesen Branchen waren rar. Als Adliger im Handwerk oder Handel zu arbeiten, war dagegen gesellschaftlich nicht akzeptiert.
Englands verlorene Söhne
Hughes nannte die Generation die "Will Wimbles" – Englands verlorene Söhne, die sich ohne Sinn durchs Leben treiben ließen. Da es in den USA keine Klassen gab wie in Großbritannien, dachte er, dass dies sein Platz für sie werden könnte, ein neues Leben zu beginnen. Hier konnten die "Will Wimbles" dem Handel und der Landwirtschaft nachgehen – ehrliche Arbeit, die in Großbritannien aber ihrem Stand nicht gerecht wurde. Stahl über die Ideale:
"Es ging, glaube ich, darum, dass man bestimmten Auswüchsen gerade auch des US-Kapitalismus, dass man dem begegnet sozusagen durch aufrichtige, ehrliche Arbeit und da versucht,– also nicht den neuen Menschen zu machen, das ist dann 30 Jahre später in der jungen Sowjetunion gewesen – da so etwas wie ein Erziehungsideal: also man hilft sich und das ist eine Art von Subsistenzwirtschaft möglicherweise."
Zepp beschreibt die Bewegung des christlichen Sozialismus:
"Hughes unterstützte eine Bewegung, die als christlicher Sozialismus bezeichnet wurde. Das hat nichts mit dem Staatssozialismus oder Kommunismus zu tun, für den Hughes auch nicht besonders viel übrig hatte. Es war vielmehr eine Bewegung, die nach christlichen Prinzipien für mehr soziale Gleichheit eintrat. Hughes galt daher als großer Befürworter der Genossenschaftsbewegung: Die Siedler sollten Rugby gemeinsam bewirtschaften und auch die Erträge teilen – jeder war Teilhaber des Projekts."
"Hughes unterstützte eine Bewegung, die als christlicher Sozialismus bezeichnet wurde. Das hat nichts mit dem Staatssozialismus oder Kommunismus zu tun, für den Hughes auch nicht besonders viel übrig hatte. Es war vielmehr eine Bewegung, die nach christlichen Prinzipien für mehr soziale Gleichheit eintrat. Hughes galt daher als großer Befürworter der Genossenschaftsbewegung: Die Siedler sollten Rugby gemeinsam bewirtschaften und auch die Erträge teilen – jeder war Teilhaber des Projekts."
Der Potsdamer Eduard Bertz ist begeistert von der Idealkolonie des Thomas Hughes – in einem abgeschiedenen Ort fernab jeder Zivilisation, den Hughes sein "neues Jerusalem" nennt. Ende Juli 1881 verkauft Bertz 400 Bücher und löst ein Ticket für die Schiffspassage in die USA. In seinem autobiografisch geprägten Roman "Das Sabinergut" lässt Bertz später sein Alter Ego Karl Steffen dieselbe Reise antreten. Bei ihm ist es eine Mischung aus Kulturpessimismus und der Sehnsucht nach dem freien Leben in der Natur, die ihn auf die andere Seite des Atlantiks treibt, so ist darin zu lesen:
"Wahrlich, die stille, geordnete Tätigkeit in seinem heimischen Gymnasialamt war hundertfach reicher gewesen an jeder Art von Befriedigung. Und doch hätte er nicht zurückkehren mögen. Wohl sehnte er sich, frei zu werden von dem Druck, der auf ihm lastete. (...) Die Welt von neuem beginnen, mit dem Spaten in der Hand! Es war ja sein eigener stillgehegter Traum. Rückkehr zur Natur, zu der frommen Erde, seinem mütterlichen Grund, um zu genesen von den Sünden der Kultur, um wieder zum Menschen zu werden!" (S. 64 ff.)
Sehnsucht nach Unabhängigkeit
Bertz’ autobiografischer Roman steckt voller Sehnsucht nach Unabhängigkeit, gepaart mit einer romantischen, fast naiven Naturvorstellung. Es war die scheinbar unendliche Weite, die viele Auswanderer nach Amerika zog – aber nicht nur. Amerika war eine Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte, aber auch Ressentiments, sagt Gienow-Hecht:
"Die Meinung in Europa über die USA – und hier müssen wir wirklich unterscheiden, die USA und Nordamerika – sind wirklich sehr divers. Auf der einen Seite haben Sie eine starke US-Kritik, die auch von Sozialisten in Europa durchaus kommt. Aber auf der anderen Seite haben Sie die Überzeugung, Darüber hinaus kommt dazu noch so eine Vorstellung davon, die uns später so als Tellerwäscher bekannt geworden ist: Die Vorstellung davon, dass Klassengrenzen überwindbar seien und dass es womöglich Klassen, so wie sie in der europäischen Vorstellung existieren, in den USA überhaupt nicht gibt, dass also Aufstiegsmöglichkeiten sehr viel dezidierter und sehr viel schneller dem Individuum zur Verfügung stehen. Und Sie haben es weiterhin mit einem Staat zu tun, der in Belange der Religion und des Zusammenlebens und auch der individuellen Freiheit deutlich weniger eingreift, weil weniger eingreifen darf, als dies in Europa der Fall ist."
Die Jahre zwischen 1880 und 1924 sind die Zeit der Massenauswanderung aus Europa, über 26 Millionen Menschen immigrieren in die USA. Viele Einwanderer kommen aus England, Irland, Deutschland und Skandinavien, aber auch aus Italien, Russland und Österreich-Ungarn. Sie fliehen vor bitterer Armut und religiöser Verfolgung, nicht zuletzt vor dem zunehmenden Antisemitismus in Europa. Zur Attraktivität der USA als Zufluchtsort dürfte in dieser Zeit auch die weniger beschwerliche Überfahrt beigetragen haben: Segelschiffe werden bis in die 1870er-Jahre überwiegend durch Dampfschiffe ersetzt, die Reisezeiten auf acht Tage verkürzt. Tödliche Cholera-Epidemien an Bord und Schiffsbrände sind selten geworden.
Auch Eduard Bertz erreicht die Ostküste der USA unbeschadet. Mit dem Zug reist er weiter Richtung Tennessee, auf dem Weg in sein "Sabinergut" – so nennt er im gleichnamigen Roman seine zukünftige Wirkungsstätte. Nach Vorbild des römischen Dichter Horaz will er in der Utopisten-Siedlung zurückgezogen auf einer Farm von den Früchten der Natur leben, sich als schreibender Erzieher ganz der Literatur widmen. Sind seine Erwartungen realistisch?
Rasantes Wachsen der Siedlung
Im Sommer 1881 leben bereits 300 Einwohner in Rugby. Die Siedlung wächst zunächst rasant: Mehr als ein Dutzend Gebäude werden gebaut, darunter Hotels, ein Café, eine Druckerei, in der die Zeitung "The Rugbeian" erscheint, und der genossenschaftlich betriebene Commissary Store.
Gleiche Rechte, gleiche Pflichten für alle – das ist das Motto der Idealisten. Aber auch der Luxus soll nicht zu kurz kommen: Noch bevor die Straßen und Gebäude in Rugby fertig und die ersten Äcker bestellt sind, stehen bereits Tennisplätze und Bowling Greens für den Boulesport. Britische Lebensart und Sozialismus – eine eigenartige Kombination, über die man sich in der amerikanischen Presse lustig macht.
Auch einen eigenen von Felsen umgebenen Naturswimmingpool haben sich die Siedler hergerichtet: das Gentleman’s Swimming Hole. Seit Gründung von Rugby 1880 ist der Pool unter Anwohnern ein beliebter Ort, um sich im Sommer zu entspannen. Ein schmaler, leicht abschüssiger Waldweg führt noch heute dorthin – vorbei an Rhododendronsträuchern und breitblättrigen, zartrosafarbenen Lorbeerrosen. Die Luft ist tropisch-schwül, der Abstieg treibt einem den Schweiß auf die Stirn. Zepp erzählt davon:
Die Siedler kamen besonders gerne im Sommer hierher, wenn es richtig heiß war – im Wasser konnten sie sich erfrischen. Heute badet man nicht mehr nackt, so wie früher. Da war das aber üblich! Die Frauen hatten ihre eigene Badestelle, die lag am Fluss ein ganzes Stück weiter unten.
Die Neue Welt jenseits des Atlantik zog seit dem 17. Jahrhundert utopistische Siedler mit sehr verschiedenen, zuweilen exzentrisch wirkenden Motiven an. Das 1683 von deutschen Quäker- und Mennoitenfamilien errichtete Germantown im Bundesstaat Pennsylvania zum Beispiel war sehr religiös geprägt. Gründervater Franz Daniel Pastorius wollte auf amerikanischem Boden einen Staat aufbauen, in dem verfolgte Reformer Zuflucht finden – und gemeinsam eine urchristliche Gemeinschaft bilden. Politischere Überzeugungen hegte der Zittauer Anwalt und Sozialutopist Johann Gottlieb Prieber. Er wanderte 1735 in die amerikanischen Appalachen aus, um dort eine kommunistische Gemeinde zu gründen. Prieber verschwor sich mit den Cherokee-Indianern gegen die britischen Kolonialherren – und landete schließlich im Gefängnis. Dort verstarb er, ohne dass seine Siedlung "Königreich Paradies" je existierte.
Utopische Gemeinschaften hatten unterschiedliche Ziele
Auch im 19. Jahrhundert gehen die Vorstellungen der Siedler sehr weit auseinander, sagt Gienow-Hecht:
"Die utopischen Gemeinschaften, die wir aus dem 19. Jahrhundert insbesondere kennen, haben sehr unterschiedliche Ziele. Sie haben aber auch einige Gemeinsamkeiten. Aber das kann reichen von Feminismus bis hin zu bestimmten Auffassungen von Bildung und Religion. Gemeinsam ist immer – das ist eigentlich eher zeitlos – es ist immer diese Idee, dass es womöglich in der Vergangenheit eine Lebensform gegeben hat, die erstrebenswert sei, die man in der Zukunft wieder verwirklichen kann."
"Die utopischen Gemeinschaften, die wir aus dem 19. Jahrhundert insbesondere kennen, haben sehr unterschiedliche Ziele. Sie haben aber auch einige Gemeinsamkeiten. Aber das kann reichen von Feminismus bis hin zu bestimmten Auffassungen von Bildung und Religion. Gemeinsam ist immer – das ist eigentlich eher zeitlos – es ist immer diese Idee, dass es womöglich in der Vergangenheit eine Lebensform gegeben hat, die erstrebenswert sei, die man in der Zukunft wieder verwirklichen kann."
Eine der einflussreichsten sozialutopistischen Siedlungen in dieser Epoche war die Oneida Community im Bundesstaat New York. Sie wurde 1848 vom Frühsozialisten John Humphrey Noyes gegründet – zu dessen Anhängern auch der Schriftsteller Aldous Huxley gehörte, der mit seinem dystopischen Roman "Brave New World" weltbekannt wurde.
Viele Prinzipien der Oneida Community finden sich auch in anderen Siedlungen: Es gab eine strikte Auffassung von kommunitaristischem Zusammenleben, Entscheidungen wurden gemeinschaftlich getroffen, Kinder nicht von ihren Eltern, sondern in einer Krippe erzogen. Darüber hinaus hatten die Einwohner der Oneida Community eine sehr offene Auffassung der Sexualität: In der Siedlung wurde freie Liebe praktiziert. Wegen der Gefahr einer Überpopulation musste sich ein Paar mit Kinderwunsch vor einem Rat bewerben. Der entschied, ob Mann und Frau zusammenpassen – um ein ideales Kind zu zeugen. Oneida griff damit der Eugenik zuvor, der zweifelhaften Lehre von der Zeugung des perfekten Menschen.
Die Oneida Community bestand mehr als 30 Jahre. Viele Gemeinschaften brachen schon früher auseinander. Die Gründe des Scheiterns sind vielfältig: Die Einwohner hatten unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft, das Zusammenleben gestaltete sich konfliktreich – oder die Ideale waren zu sehr von den realen Lebensbedingungen entfernt. Nicht selten trafen Auswanderer in den USA auf eine Wirklichkeit, die sich mit ihren Utopien nicht vertrug, schildert Gienow-Hecht:
"Das böse Erwachen ist für viele Siedler gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die USA ja Europa sehr ähnlich werden im Rahmen von Massengesellschaft, Industrialisierung, rapider expansiver Organisierung – da ist das böse Erwachen dann häufig vorgezeichnet."
1881 steht Rugby kurz vor dem Kollaps
Als der Potsdamer Eduard Bertz 1881 in Rugby ankommt, bricht im August dort eine Typhus-Epidemie aus. Etliche Bewohner sterben, viele verlassen den Ort. Ende 1881 steht Rugby kurz vor dem Kollaps. Von den 300 Einwohnern sind im Dezember 60 übrig geblieben. Die Siedlung verwandelt sich in eine Geisterstadt. Zwar ist die Epidemie bald überwunden und die Bevölkerungszahlen steigen 1882 wieder. Das größte Problem der Siedlung aber bleibt: Der Ackerboden ist unfruchtbar. Zepp beschreibt diese Schwierigkeiten:
"Die Gegend war für die Landwirtschaft nicht wirklich geeignet. Dabei hatten die Siedler viele Ideen, das Land nutzbar zu machen: Sie errichteten eine Konservenfabrik für Tomaten – konnten aber nicht genügend Tomaten züchten. Dann versuchten Sie über mehrere Jahre, Trauben anzupflanzen, um Wein herzustellen. Doch das Cumberland Plateau, auf dem sich die Siedlung befindet, ist anfällig für Frost. Das klappte also auch nicht! Zuletzt probierten sie, Erdbeermarmelade zu kochen – die aber niemand kaufen wollte außer einem Kaufmann in Chattanooga. Es wurde ein Verlustgeschäft. Die Siedler probierten also wirklich, mit ihrem Land etwas anzustellen. Doch alle Versuche scheiterten."
Doch es ist nicht nur der unfruchtbare Boden, der in der britischen Idealkolonie Rugby in Tennessee für Unmut sorgt. Die Siedler selbst sind auf ihr neues Leben nicht ausreichend vorbereitet. Die US-Amerikaner spotten über die Latin Farmers, die "Lateinfarmer" aus Europa. Ein Begriff für Intellektuelle, die es mit der Landwirtschaft versuchen – deren klassische Bildung für diese Zwecke jedoch wenig hilft. Stahl schildert dieses Scheitern:
"Das Ganze ist gescheitert, weil die Leute schlicht nicht die Ausbildung hatten, ein Land wie dieses Cumberland-Plateau zu bewirtschaften. Es war auch ein Geldmangel da – wo sollte es herkommen? Man war acht Meilen von der nächsten Eisenbahn entfernt, die Cincinnati und Chattanooga verbunden hat. Straßen – kann man’s wohl nicht nennen, es waren bessere Feldwege. Wovon sollten also die Leute leben?"
Die harte Realität des Landlebens
Eine Frage, die auch den Potsdamer Schriftsteller Eduard Bertz umtreibt. In dem Roman "Das Sabinergut" kauft sein Alter Ego Karl Steffen eine Farm und ein Stück Ackerland – zu überteuerten Preisen. Auf dem felsigen Untergrund gedeihen weder ausreichend Obst noch Gemüse. Ein entbehrungsreicher Winter lehrt ihn die harte Realität des Landlebens, die für romantische Naturschwärmerei keinen Raum lässt. Bertz schreibt über Karl Steffen:
"Eins freilich konnte er sich nicht mehr verhehlen: Sein Farmexperiment war gänzlich gescheitert, nicht nur an den Verhältnissen, denen die ganze Idealkolonie unterliegen musste, nicht nur an der Kleinheit seines Kapitals, sondern am meisten an seiner eigenen Thorheit, an seiner Unbrauchbarkeit für das praktische Leben. Ein Sabinergut war etwas Schönes und Wünschenswertes, wenn es als Erholungsstätte des übermüdeten Städters diente und wie das Horazische von einem Meier mit ausreichendem Betriebskapital verwaltet wurde: und das hatte er ja im Grunde nur ersehnt. Zum Bauer aber, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot isst, war weder Horaz veranlagt, noch war Karl es selbst, und das war sein verhängnisvoller Irrtum gewesen." (S. 375)
Der britische Schriftsteller und Gründervater Thomas Hughes hält jedoch allen Misserfolgen zum Trotz an seiner Idealkolonie Rugby fest. Er lässt eine Schule eröffnen, stellt eine Lehrerin ein und errichtet schließlich in der Mitte des Dorfes die Bibliothek. Eduard Bertz akzeptiert, dass seine Utopie von einem neuen gemeinschaftlichen Leben auf dem Lande gescheitert ist und widmet sich seiner eigentlichen Profession: der Literatur. 1882 wird er der erste Bibliothekar von Rugby. Der Bestand von etwa 7.000 Büchern, die noch heute erhalten sind, geht auf ihn zurück.
Lange hält es Bertz aber nicht mehr in der Siedlung: Im Mai 1883 verlässt er Rugby und kehrt über London zurück nach Deutschland – in die märkische Heimat. Auch wenn seine Reise dort endet, wo sie begonnen hat: Die Suche nach einem Zuhause und einer einträglichen schriftstellerischen Tätigkeit wird Bertz noch lange begleiten. Er zieht zwischen Potsdam, Berlin und Frankfurt/Oder umher, verfasst Jugenderzählungen, Romane und Essays, darunter eine "Philosophie des Fahrrads" und die "Geschichte der Potsdamer Havelfischerei". In seinem Roman "Das Sabinergut" verarbeitet er die Erfahrungen aus Tennessee – und entdeckt zugleich sein Interesse für die märkische Geschichte, die ihn "von Jahr zu Jahr mehr fesselt", wie er in einem Brief schreibt. Stahl über diese Zeit:
"Er ist so ein bisschen zwischen Baum und Borke. ‚Ich lebe hier in Frankfurt/Oder als stillvergnügter Bücherwurm’, das heißt, es geht ihm nicht schlecht. ‚Gleichzeitig versuche ich Fühlung aufzunehmen’ – Zitat – ‚zu historischen Vereinen’. Also der Brandenburgia, dann dem Verein Berliner Presse. Also, er ist so mittenmang und nimmt teil – aber eben nicht so richtig."
Bertz stirbt 1931, die Siedlung überdauert
Im Dezember 1931 stirbt Bertz in Potsdam – ohne Familie, ohne Nachrufe. Die Siedlung in Rugby aber hat ihn überdauert, auch wenn Thomas Hughes’ Utopie einer kooperativen britisch-amerikanischen Landgemeinschaft in Tennessee früh gescheitert ist.
1887 schließen die Schule und die Tageszeitung "The Rugbeian", der schleichende Verfall von Rugby setzt sich fort. Nach dem Tod von Thomas Hughes 1896 kaufen US-amerikanische Investoren große Teile des Landes. Viele Siedler der ersten Stunde ziehen in andere Teile der USA oder kehren nach England zurück. Die Familie Walton aber, von der George Zepp abstammt, bleibt in Rugby. Sie verwaltet bis in die 1950er-Jahre die viktorianischen Gebäude, vor allem die Kirche und die Bibliothek – um das Andenken an die Geschichte der Siedlung zu bewahren. Zepps Resümee lautet:
"Nicht die Siedler sind gescheitert, sondern die Kolonie! Aber auch die ist nicht komplett gescheitert, denn wir sind noch immer hier. Wir haben neue Häuser gebaut, nach Originalplänen von Thomas Hughes, über die wir vorher abgestimmt haben. Ein wenig Idealismus ist noch immer übrig geblieben in Rugby. Es ist großartig, dass einige von uns hier in dieser wunderbaren Umgebung leben und die Geschichte der Siedlung den nächsten Generationen erzählen können."
Seit den 70er-Jahren restaurieren die verbleibenden Aktionäre von Historic Rugby die Siedlung. Als lebendiges Museum ist es heute ein Touristenziel für Besucher aus Tennessee und angrenzenden Staaten. Viele Gäste interessieren sich vor allem für die viktorianische Architektur, die eine Rarität in der Region ist. Der utopistische Geist hinter den Fassaden aber ist in Vergessenheit geraten – wenngleich er der Historikerin Jessica Gienow-Hecht zufolge noch immer lebendig ist.
"Ich glaube, die Utopien sind nicht gescheitert, sondern es sind die jeweiligen Bewegungen gescheitert, die diese Utopien zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt repräsentiert haben. Aber diese Idee, dass es eine Lebensform einmal gab, zu der es Wert wäre in der Zukunft zurückzukehren – die hat meines Erachtens ganz stark überlebt! Die sehen Sie in jedem Eco-Village heute oder in vielen der Neugründungen, die es seit den 60er-Jahren, den 70er-Jahren und auch in den 90er-Jahren in den USA – und auch nicht nur in den USA, auch in Europa – wieder gegeben hat."
Als Eduard Bertz 1883 Historic Rugby den Rücken kehrte, war die Fahrt beschwerlicher und sein Traum war ausgeträumt. Amerika war unendlich viel größer als Europa, aber die Welt, in der er gelebt hatte, war mindestens so eng wie die in Brandenburg. Was von dem Siedlungsexperiment blieb, ist die Architektur – und die Hoffnung, die in der Erinnerung an ein solches Utopia steckt: dass man von den Erfahrungen lernen und aus gewohnten Bahnen ausbrechen kann.
Recherchen für diesen Beitrag wurden unter anderem durch eine Reisekostenbeteiligung von Tennessee Tourism ermöglicht.