Komplexität intelligent steuern?
In Zeiten zunehmender Komplexität wird die politische Steuerung immer schwieriger. Brauchen wir in einer globalisierten Welt also einen neuen Begriff von Politik? Darüber sprechen der Soziologe Armin Nassehi und der Philosoph Dieter Thomä.
Dieter Thomä plädiert dafür, den Subjektbegriff auch im politischen Zusammenhang nicht aufzugeben. Politiker haben "viel zu entscheiden", stattdessen werde die "Fassade gewahrt". In allen möglichen Bereichen, so Thomä, werde ein "Kult" ums Subjekt betrieben, anders im Feld des Politischen. Angesichts dieses Ungleichgewichts sei er nachgerade "genervt" - immerhin stünden wir inmitten der schwersten Krise der Demokratie seit 1945.
Armin Nassehi betont, dass er als Soziologe die "Bedingungen" betrachte, unter denen Personen Entscheidungen ermöglicht werden. Genervt sei er auch vom gegenwärtigen politischen Geschehen, aber man rechne den Subjekten mehr Wirkmacht zu, als sie faktisch hätten, nach dem Motto "Wenn Sei wollten, dann könnten sie auch". Das hält Nassehi für falsch.
Die Rache des Verdrängten
Thomä wendet ein, dass auch Philosophen das Subjekt keineswegs auf den Sockel heben. Natürlich handeln Subjekte in Kontexten, das bedeute aber nicht, dass sie unter diesen Bedingungen keine Wahl haben. Merkel habe aus der Politik ein Geschäft der Verwaltung gemacht, das räche sich nun. Mit Blick auf die Proteste in Bitterfeld und anderen Orten Ostdeutschlands sagt Thomä: "Jetzt kommt die Rache des Verdrängten hoch." Die Trennung in "die da oben" und die da unten" lehnt Thomä grundsätzlich ab, das entlaste beide Seiten von der Verantwortung, man schiebe sich gegenseitig den schwarzen Peter zu.
Für Nassehi enthält Thomäs Kritik eindeutig zu viel "Thymos", zu viel Emotion und Wut. Es sei offensichtlich sehr schwierig, Intentionen oder Programme in der heutigen Komplexität durchzusetzen. Ob A oder B besser sei, in komplexen Systemen ebenfalls nicht leicht zu beantworten, das Richtige liege ja nicht einfach auf der Hand. Am Beispiel der Finanzkrise erläutert Nassehi, dass innerhalb eines Systems ein bestimmtes Verhalten durchaus als ökonomisch vernünftig gelte; trotzdem "kommt ein falsches Ergebnis raus".
Es gebe in bestimmten Kontexten einen Druck, sich auf eine ganz bestimmte Weise zu verhalten, was aber fatale Folgen habe. Es müsse insofern dringend über Möglichkeiten einerinternationalen Regulierung von Finanzmärkten gesprochen werden, das werde aber nicht getan, und das sei in der Tat einlullend. Nassehi plädiert ferner für neue Kommunikationsformen, die es ermöglichen, die jeweiligen Limitationen, die jeweiligen Begrenzungen in verschiedenen Kontexten miteinander ins Gespräch zu bringen, um so zu einer Politik zu gelangen, die mehr sei als business as usual.
Die Alternative zur Alternativlosigkeit
Auch Thomä sieht das Scheuklappendenken, das nicht im Sinne des Gemeinwohls sei. Die "Filterblase" sei insofern ein allgemeines Problem, weil jede Blase systemimmanent funktionert, aber nicht unbedingt gesamtgesellschaftlich. Umso mehr brauchen wir, fordert Thomä, die Lebendigkeit der Auseinandersetzung, die Überwindung der Blasen. Thomä unterscheidet zwischen "Auftragsverantwortung" und "Adressatenverantwortung". Ein Unternehmen habe vielleicht einen Auftrag, aber sehr viele Adressaten, und da könne immer von außen "reingegrätscht" werden. Im Politischen sei die Situation noch komplexer, denn hier sei der Adressat das Volk; insofern gebe es sehr viele Adressaten zu beachten. Wenn die Verbindung zum Volk nicht mehr aufrechterhalten werden könne, dann gehe ein entscheidender Faktor verloren, es werde kein "Störfeuer" mehr gehört und auch keines mehr ausgesendet.
Nassehi stimmt der Komplexität der Verantwortung zu und weist darauf hin, dass es auch innerhalb von komplexen Systemen immer Alternativen gebe. Komplex sei nicht gleichbedeutend mit alternativlos, genau in diesem Missverständnis liege das Problem der gegenwärtigen Politik. Dass nun die Alternative in Form der AfD von außen komme, sei eine Vorlage von Angela Merkel gewesen. Die AfD sei ein Zeichen dafür, dass offenbar zu wenig Komplexität entfaltet wird. Wenn sich die wichtigsten Akteure in den entscheidenden Fragen zu einig sind, dann fühlen die Menschen nicht, dass entschieden wird. Handeln heißt, dass man A, aber auch B sagen könnte. Man kann immer anders handeln, diese Annahme sei die Grundlage der Komplexitätstheorie.
Nach welcher Maßgabe beide Gesprächspartner am Tag der Bundestagswahl ihr Kreuz setzen? Nassehi wählt das kleinere Übel, Thomä wählt aus innerer Überzeugung.