Seelenwanderung als Metapher
Die Idee der Seelenwanderung beschäftigte schon Johann Gottfried Herder und später Jean Paul. Als literarisches Motiv lässt sich an ihr der Debattenstand zu Autorschafts- und Urheberrechtsfragen ablesen − bis ins digitale Zeitalter.
"Einige neuere Verfasser, die mehr Alchymisten als Physiker gewesen sind, haben behauptet, wenn die Asche einer Pflanze oder eines Thiers nach gewissen Regeln ein wenig heiß gemacht würde, so müßte diese Asche im Rauch aufsteigen, und so die Figur und Farbe der Pflanze oder des Thiers vorstellen. Diese Art von Auferstehung, neuerer Geburt, ist es, welcher man den Namen Palingenesie gegeben hat."
(Charles Bonnet, Schweizer Naturwissenschaftler und Aufklärer.)
(Charles Bonnet, Schweizer Naturwissenschaftler und Aufklärer.)
Palingenesie, zu deutsch "Seelenwanderung": Eine Gruppe Literaturwissenschaftler der Freien Universität zu Berlin widmet sich seit einigen Jahren unter der Leitung der Germanistikprofessorin Jutta Müller-Tamm dem Thema Seelenwanderung. Nicht im theologischen, auch nicht im philosophischen Sinne sollte der Begriff der Seelenwanderung von den Philologen erforscht werden, sondern als literarisches Motiv.
Jutta Müller-Tamm: "Die Ausgangsbeobachtung dabei war, dass es eine überraschende Konjunktur dieser Idee gibt im 18. Jahrhundert. Überraschend eben gerade deswegen, weil es in der Aufklärungszeit so prominent wird, also zu einer Zeit, wo man jetzt davon ausgeht, dass religiöses Denken eher in den Hintergrund tritt und so etwas Irrationales wie Seelenwanderung, so etwas sozusagen Alternativreligiöses, da erst recht zurück tritt oder in den Hintergrund tritt."
Der Begriff der Seelenwanderung ist uns auch heute hauptsächlich aus spirituellen Zusammenhängen bekannt – zum Beispiel als Bestandteil buddhistischer oder hinduistischer Weltbilder. Aber die Idee von der Seele, die sich nach dem Tod von ihrem physischen Träger trennt, hat durchaus Wurzeln in der abendländischen Kultur. Auch im Christentum gibt es die Vorstellung von der Seele, die nach dem Tod und bis zur Auferstehung den Körper verlässt. Martin Hense hat eine Dissertation zum Thema geschrieben:
"Man kennt den Begriff im 18. Jahrhundert. Aus der Geschichtsforschung im Prinzip, aus der Philosophiegeschichte ist er bekannt, wird auf Platon und auf Pythagoras zurückgeführt, also auf die Antike als Vorstellung davon, dass die Seele den Körper verlässt nach dem Tode und dann vielleicht in anderen Körpern wiederkommt. Daher ist der Begriff zwar bekannt, aber ist im Prinzip nicht mehr gebräuchlich, weil er sich überhaupt nicht mit den christlichen Vorstellungen vom Jenseits deckt. Um 1800 herum ist dann der Begriff schon so weit aus einer echten, theologischen Diskussion herausgetreten, das man ihn metaphorisch verwenden kann."
Beispielsweise in Georg Christoph Lichtenbergs "Sudelbüchern" aus den 1760er-Jahren. Da wird die Seelenwanderungsmetapher zur Beschreibung der menschlichen Gattung herangezogen:
"Man kann sich das menschliche Geschlecht als einen Polypen denken, so kommt man schon auf mein System von Seelenwanderung."
Der Polyp als quallenartiger Bewohner der Meere erschütterte bei seiner Entdeckung in den 1740er-Jahren das naturgeschichtliche Wissen der Epoche. Weshalb? Er verfügte über eine einzigartige Regenerationsfähigkeit, die mit dem naturgeschichtlichen Wissen der damaligen Epoche nicht zu erklären war. Wie die mythologische Hydra, das schlangenartige Ungeheuer, dem mit jedem abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen, ist auch der Polyp in der Lage, sich gewissermaßen selbst zu klonen. Wird er einmal in der Mitte zerteilt, vervollständigt er sich ohne fremdes Zutun zu einem lebensfähigen Wesen. Der Polyp dient Lichtenberg nun also als Modell und Metapher für die Menschheit als einem sich selbst erhaltenden, einem be-seelten Organismus. Man kann festhalten: Obwohl niemand unter den großen Aufklärern mehr so recht an wandernde Seelen glaubt, werden die Begriffe Seelenwanderung, Palingenesie oder Metempsychose, wie ein weiterer griechischer Begriff lautet, um 1800 inflationär verwendet.
Jutta Müller-Tamm: "Und das betrifft eben also die Frage: Wie ist das zu denken, wenn der Mensch stirbt? Ist die Seele tatsächlich unsterblich? Wenn sie unsterblich ist, ist sie unkörperlich, gibt es eine Möglichkeit, den Tod zu denken als Übergang in einen eigentlich allgemeineren Zustand von Leben als Eingehen in einen großen organischen Naturzusammenhang, aus dem heraus dann auch das Individuum wieder entstehen könnte, aber eben auch im Hinblick auf kulturelle Formen der Tradierung."
So fragt sich zum Beispiel Gotthold Ephraim Lessing 1780 in seiner "Erziehung des Menschengeschlechts", wie kulturelle Eigenheiten der menschlichen Gattung eigentlich über die Generationen hinweg übertragen und erhalten werden können:
"Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. − „In einem und eben demselben Leben durchlaufen haben?"
In den späteren Weimarer Literatenzirkeln dann, wo vor allem Goethe die Idee einer weltliterarischen Verknüpfung verschiedener Wissensgebiete kultivierte, werden aktuelle Wissenschaftsdebatten zur Sache der Schriftsteller erklärt. Nicht nur die Biologie, sondern auch die menschliche Kultur wird dort als sich reproduzierende Kraft entworfen. Die Seelenwanderung entwickelt sich also mit dem Zeitalter der Klassik weiter zu einer Metapher für kulturelle Übertragungsprozesse.
Jutta Müller-Tamm: "Wenn Herder davon spricht, dass sozusagen Gedanken palingenesieren oder wenn Goethe in einer der Maximen und Reflexionen sagt, dass die schönste Metempsychose doch die sei, sich in anderen wiederzufinden oder eben Jean Paul als jemand, der das sehr breit ausgeschöpft hat – und es gibt bei Lichtenberg dann eben mit dem satirischen Einschlag einen Aphorismus, in dem er sagt, also wenn jemand einen alten Schriftsteller ausplündert, könnte er ja sagen, das sei Metempsychose gewesen, und er also früher mal diese Person gewesen. Könnte man nie was dagegen sagen (lacht)."
"Jemand der einen Gedanken eines alten Schriftstellers plünderte könnte sich mit Metempsychose entschuldigen, und sagen, beweist mir einmal, daß ich das nicht auch war ..." (Lichtenberg: Sudelbuch J, 511)
Jutta Müller-Tamm: "Gut, Lichtenberg bezieht's natürlich auf die Alten, das heißt auf die antiken Schriftsteller, bei denen man wirklich, ohne dass einem jemand das Gegenteil beweisen kann, natürlich behaupten könnte, man sei diese Person gewesen."
"Wir denken in einer Sprache, die unsre Vorfahren erfunden [...] und uns damit den edelsten Teil ihres Daseins, ihr innerstes Gemüt, ihre erworbnen Gedankenschätze huldreich vermachten. [...] also daß wir in diesem bindenden Medium auf die Unsern, auf andre, auf die Nachkommenschaft fortwirken müssen, und wirken werden. [...] Dies ist das unsichtbare, magische Band [...]; eine ewige Mitteilung der Eigenschaften, eine Palingenesie und Metempsychose ehemals eigner, jetzt fremder, ehemals fremder, jetzt eigner Gedanken, Gemütsneigungen und Triebe. Wir glauben allein zu sein und sind's nie: wir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer [...] wirken in uns." (Johann Gottfried Herder: Über die menschliche Unsterblichkeit. 1791)
Urheberschaft ist seit der Antike ein Thema
Auch Johann Gottfried Herder stellt um die Wende zum 18. Jahrhundert Überlegungen zum Fortleben der großen Geister und ihrer Gedanken in den Werken seiner Zeitgenossen an. Die Vorstellung, dass sich Ideen inkarnieren lassen, dass es also so etwas wie ein vererbbares geistiges Eigentum geben könnte, ist in der Kulturgeschichte zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ganz neu. Die Frage, wem die Ideen eigentlich gehören, wenn ihr Urheber gestorben ist, hatte man sich bereits in der Antike gestellt – mediengeschichtlich gesehen um 800 vor Christus mit dem Aufkommen der Alphabetschrift.
Monika Schmitz-Emans ist Professorin am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum:
"Es gibt bei Platon diese Passage, wo es drum geht, dass die Schriftzeichen, wenn man sie befragt, stumm bleiben, weil ja der Vater, also der Autor nicht dabei ist. Also 'ne gewisse Beunruhigung, dass Texte, die sich von ihrem Urheber lösen, ein Eigenleben führen könnten, die ist in der Antike schon aus solchen Bemerkungen zu registrieren.
Das ist etwas, das mit dem Aufkommen des Buchdrucks noch mal massiv an Dringlichkeit gewinnt, weil der Buchdruck nicht nur bedeutet, dass man das, was von einem selbst kommt, in das man sich selber investiert hat, einer schriftlichen Form anvertraut wird, die andere dann übernehmen und gebrauchen können, sondern eben auch: Es wird zum Multipel, man hat dann viele davon."
Es gibt frühe literarische Beispiele, etwa bei dem Renaissance-Schriftsteller Tommaso Garzoni, in denen das Fortleben der Texte beschrieben wird als eine Art Fortleben der Seele des Autors. In Garzonis La piazza universale heißt es:
"... dass die Gelehrten nach dem Tod leben und bei jedermann bekannt werden, da sie sonst in einer geringen Zeit mit einem ewigen Vergessmöchten begraben worden sein."
Monika Schmitz-Emans: "Also die Leute leben in ihren Texten weiter, die Texte sind gewissermaßen die Verkörperung dieser Leute, nachdem ihr Tod also den Leib zerstört hat. Der Text ist wiederauferstandene und gleichzeitig multiplizierte Person. Und das ist gleichzeitig ne Wunschvorstellung, weil man dann in einem anderen, einem Textleib seinen physischen Tod übersteht. Und es ist ne Angstvorstellung, weil man nicht mehr kontrolliert, was dieser andere Leib dann mit dem eigenen Geist macht und was andere damit machen."
Die Frage nach der Textseele stellt sich also immer dann verstärkt, wenn neue Medien aufkommen: Die Alphabetschrift etwa löst den Text in der Antike von seinem Sprecher ab; der Buchdruck im 15. Jahrhundert wiederum popularisiert das Wissen aus den Büchern; schließlich führt die Erfindung der Rotationspresse im 18. Jahrhundert, wo auf einmal Raubdrucke in Umlauf kommen, dazu, dass Autoren und ihre Verleger sich erneut die Frage stellen müssen: Wem gehören die Ideen, wem gehört die Textseele eigentlich?
Justus Fetscher, Literaturwissenschaftler von der Universität Mannheim:
"Ein Aspekt, der glaube ich ganz bedeutend ist an dieser Stelle ist die Explosion des geschriebenen, vor allem des gedruckten Wortes. In Deutschland spezifisch nach dem Ende des siebenjährigen Krieges, aber das ist im Grunde ein Crescendo, das durch das 18. Jahrhundert hindurchgeht. Das ist das Jahrhundert der Publizität, das hat viel mit der Aufklärung zu tun, mit dem Bevölkerungswachstum, mit dem Anwachsen der Alphabetisierung, dem Steigen des Alphabetisierungsgrades. Das heißt, Autoren befinden sich in einem engen Gedränge, sich bemerkbar zu machen, eine eigene Stimme zu haben, die herausragt, aus der Stimme aller anderen."
Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch kein Urheberrecht in Deutschland. Die Verleger drucken Dinge nach, die andere bereits vor ihnen verlegt haben. Raubdrucke werden zum Problem. In Frankreich entsteht in der Frühphase der französischen Revolution aus einer ähnlichen Problematik heraus das erste Urheberrecht. In Deutschland reagiert man verzögert. Erst im Badischen Landrecht von 1810 heißt es:
"Jede niedergeschriebene Abhandlung ist ursprüngliches Eigentum dessen, der sie verfasst hat, wenn er nicht allein aus fremdem Auftrag und für fremden Vorteil sie entwarf, in welchem Falle sie Eigentum des Bestellers wäre."
Justus Fetscher sieht in diesen frühen Debatten um Texteigentum den Beginn einer Entwicklung zur künstlerischen Selbstvermarktung:
"Was wir heute nennen, dass man sich neu erfinden müsse, also im Grunde der Imperativ einer Marktgesellschaft, einer Innovationsgesellschaft, in der nur der Aufmerksamkeit erheischt, der sich wandelt und dadurch immer wieder das Moment der Überraschung, des Neuen auf seine Seite bringt. Das ist natürlich etwas, das für den literarischen Markt und für die literarische Diskussion um 1800 bereits absolut auf der Tagesordnung steht. Und insofern ist der Schriftsteller Palingenetiker seiner selbst, als er das, was er bis jetzt gemacht hat und womit er bisher publizierend in die Öffentlichkeit getreten ist, neu aufmischt und neu durcheinanderwirbelt und dadurch eine nicht basal neue, aber doch überraschend variative Rekonstellation seiner selbst in die Öffentlichkeit trägt."
Der Schriftsteller als Palingenetiker seiner selbst! Als jemand also, der sich nicht nur thematisch mit der Seelenwanderung beschäftigt, sondern der, um die Überlieferung seines eigenen Schaffens einzuleiten, selbst so etwas wie Seelenwanderung betreibt.
Martin Hense: "Tatsächlich ist es wirklich so, dass der Begriff der Seelenwanderung kurz vor 1800 noch euphorischer verwendet wird, im Sinne von: Wir können wirklich was dazu beitragen, dass unsere Ideen am Leben bleiben, reproduziert werden usw. Und dann, nach 1800, wird der Begriff vermehrt ironisch verwendet, zum Beispiel bei Hegel."
"Was die eigene Philosophie Reinholds betrifft, so gibt er eine öffentliche Geschichte davon, daß er im Verlauf seiner philosophischen Metempsychose zuerst in die Kantische gewandert, nach Ablegung derselben in die Fichtesche, von dieser in die Jacobische und, seit er auch sie verlassen habe, in Bardilis Logik eingezogen sei."
Hense: "Da macht sich Hegel lustig über einen Kollegen, von dem er meint, der hat überhaupt keine eigenen Ideen produziert, sondern er ist immer nur per Seelenwanderung in die philosophischen Gebäude seiner Kollegen eingedrungen und hat die immer nur wiedergegeben."
Fetscher: "Man könnte sogar sagen, dass so was wie der deutsche Klassizismus, also die Weimarer Klassik, ein Produkt des sich neu Erfindens ist auch auf der werkbiografischen Ebene. Goethe geht nach Italien in den letzten Jahren des Ancien Régime kurz bevor die Französische Revolution ausbricht, also 1786 bis 88, und dort verjüngt er sich – das ist ja seine Hauptmetapher für diese Italien-Erfahrung. Das ist im Grunde auch schon die Erfahrung der Wiedergeburt, nicht so sehr in einem deutsch-pietistischen Sinne, sondern im Sinne von sich neu verjüngen an der Erfahrung der Antike."
In seinen Maximen und Reflexionen schwärmt Goethe entsprechend:
"Die schönste Metempsychose ist die, wenn wir uns im andern wieder auftreten sehn."
Hense: "Das waren im Prinzip damals auch schon große Debatten natürlich. Dass man versucht hat einerseits antike Autoren als Vorbilder zu benutzten, andererseits aber auch immer irgendwie 'ne Eigenleistung erbringen musste. Einfach reproduzieren, abschreiben war genauso schon tabu. Aber Leute wie Jean Paul, die erstmals wirklich darauf angewiesen waren, ihre Werke zu verkaufen, um überhaupt überleben zu können, merken dann: So einfach ist das nicht mehr, es ist im Prinzip schon alles gesagt und geschrieben. Herder sagt es genauso. Deswegen, was bleibt uns noch übrig? Wir müssen versuchen, auch unsere eigenen Ideen und die Fremder immer wieder neu zu durchdenken, immer neu zu variieren."
Schreiben als Maskenspiel bei Jean Paul
"Neu variieren", das tut als einer der ersten autonomen Schriftsteller in einer noch heute herausfordernden Konsequenz: Johannes Paul Friedrich Richter. Bereits sein Künstlername, Jean Paul, ist ein ziemlich unverhohlener Verweis auf einen anderen großen Schriftsteller: auf Jean-Jacques Rousseau, den Jean Paul bewundert hat, dessen Ideen er sich anverwandelt und als dessen geistiger Nachfolger er sich selbst sieht.
Monika Schmitz-Emans: "Bei Jean Paul hängt das damit zusammen, dass er seit seinen Anfängen als Romanautor, eventuell auch schon vorher, das Schreiben als ein Rollenspiel begreift, als 'ne Art von Maskenspiel, das bedeutet, sich in diesen Text, den man verfasst, für diesen Text als Jemand zu investieren – ich sag' jetzt nicht gleich „zu inkarnieren", aber jedenfalls als Autor in einem bestimmten Text, in einer bestimmten Form präsent zu sein, die sich aber dann mit einem neuen Projekt wieder wandelt."
Im Jahr 1797 hatte ein Buchhändler angeregt, Jean Pauls frühe Satirensammlung mit dem Titel Auswahl aus den Teufels Papieren neu herauszugeben. Jean Paul überarbeitete diese Satiren daraufhin, die er wiederum in seinem berühmten Siebenkäs-Roman Jahre zuvor als Werke seines gleichnamigen Titelhelden ausgegeben hatte. Das hier nun neu arrangierte Werk nennt er also nicht zufällig Palingenesien – Seelenwanderungen. Die Autorseelenfrage wird noch verworrener in einem späteren Werk Jean Pauls: Mehr als zehn Jahre später nämlich erfindet er in seinem Roman Leben Fibels den Autor eines ABC-Grundlagen-Buchs. Und dieser Autor beansprucht für sich das Recht, auch Bücher, die gar nicht aus seiner Feder stammen, als seine auszugeben. Jean Pauls Fibel ist ein Plagiarius der frechsten Sorte, denn er ist der Meinung: Wer das ABC-Buch geschrieben hat, der lebt auch in allen Büchern fort!
Monika Schmitz-Emans: "Dass das natürlich nicht ein Statement ist im Sinne von „alle Texte gehören allen", liegt auf der Hand. Aber die Frage, was bedeutet eigentlich Autorschaft wird durch diese Erfindung in den Raum gestellt. Und der Biograf, der natürlich dahinter kommt, dass der Fibel seinen Namen da nur nachträglich reingesetzt hat, der kritisiert ihn nicht, der lobt ihn ironisch und würdigt ihn als den Autor der Autoren, denn der hat ja das ABC-Buch geschrieben, und wer das ABC-Buch macht, der erfindet ja die Schrift, was auch schon wieder 'ne Art von Unterschub ist, der hochironisch ist! Und wer die Schrift erfunden hat, der ist ja sozusagen der Vater aller Texte, weil alle Texte aus Schrift bestehen. Und folglich gehören dem doch alle Texte. So kann er seinen Namen also reinsetzen. So viel zum Thema Seelenwanderung! (lacht)"
O-Ton Arno Schmidt: "Ich halte es außerdem nicht nur für gut, sondern für meine Schuldigkeit, dem Leser mitzuteilen, die und die Farbe hat das Glas, durch das sie jetzt für längere Zeit hindurchzusehen haben werden. Also habe ich – und es ist ja immer ein Akt der Selbstverleugnung – in dem Herrn Pagenstecher einen geziemenden Anteil meiner Persönlichkeit deponieren müssen. Zu einem Drittel werde ich mich wohl zu bekennen haben. Man absolviert ja allmählich, schon von Berufs wegen mehr Inkarnationen als Wischnu."
Ein großer Jean-Paul-Verehrer war Arno Schmidt, der Verfasser des irrwitzigen Roman-Großwerks Zettel's Traum, das 1970 erschien. Er selbst hatte nach der Erstveröffentlichung des dreispaltig gesetzten Typoskripts einen Plagiatsstreit angestrengt. Jemand hatte eine kleine, handliche Version von Zettel's Traum in Umlauf gebracht und Schmidt sah sich in seiner Existenz als Schriftsteller bedroht. Andererseits verarbeitete er auf der ästhetischen Ebene viele Literaturdiskurse der Epoche und verleibte seinen eigenen Texten das Wissen der Epoche ein. So setze er sich beispielsweise intensiv mit Edgar Allen Poe auseinander oder mit den Methoden und Erkenntnissen der Psychoanalyse. Die Grenzen zwischen Eigenleistung und Fremdeinwirkung zerfließen.
Monika Schmitz-Emans: "Das ist ein strukturelles Problem, das mit dem Konzept von Autorschaft per se verbunden ist. Entweder ist das, was ein Autor schreibt so, dass es tatsächlich einen Leser in dem Sinn erreicht, dass dieser es produktiv aufnimmt und sich anverwandelt und dann geht es zum Teil in den Leser über. Das ist einerseits ein Idealfall von Kommunikation, von literarischer Kommunikation: Dass man nicht nur einem Buch was anvertraut, sondern dass die Leser das dann aufnehmen so wie bei 'ner Predigt das Gotteswort gestreut wird und dann 'nem alten metaphorischen Konzept zufolge in den Seelen der Zuhörer aufgeht und reiche Frucht trägt: Der Prediger, der sät. In Seminaren wird gesät. Eigentlich will jeder, der kommunizieren will, etwas in die Seelen der anderen pflanzen, damit's da weiter wächst. Das Dumme ist nur, dass er sich damit enteignet."
Diese Enteignung erhält ein Jahrhundert, nachdem die Debatte um Urheberrechte zum ersten Mal aufkam, noch einmal neue Brisanz. Das Zeitalter der Klassik ist vorbei und damit eine der stärksten und produktivsten Epochen überhaupt in der Literaturgeschichte. Ein neues Phänomen bricht sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts Bahn: das der "Epigonalität".
Justus Fetscher: "Immer wieder tauchen Autoren auf, die explizit oder implizit den Anspruch signalisieren, dass sie so etwas wie der reinkarnierte, der neue, der legitime Nachfolger Goethes sind. Die berühmte Szene, wie Heine nach Weimar kommt und Goethe ihn fragt 'Woran arbeiten Sie denn, Herr Heine?', eine rein höfliche, konversationelle Frage, und Heine sagt so ganz kess: 'Am Faust.'"
Hauptmanns unheimliche Wende ins Nationalistische
Später dann, im 20. Jahrhundert, hat Gerhard Hauptmann eine letzte berühmte Volte in der selbst behaupteten Goethe-Nachfolge geschlagen.
Justus Fetscher: "Bei Hauptmann eben sagt die Anekdote, dass immer dann, wenn er einen Fototermin hatte, er vorher einen Handspiegel herauszog und sich so lange frisierte, bis seine Lockenpracht in gewisser Weise ein Goethisches Ausssehen hatte, sich dann also entsprechend sozusagen in Pose warf."
Doch seine behauptete Seelenverwandtschaft mit Goethe hat noch eine weitere Dimension: Hauptmanns im Februar 1922 zur Eröffnung der Frankfurter Goethe-Woche gehaltene Ansprache betont die Bedeutung des Goethehauses als Kulturdenkmal der Deutschen mit folgenden "beseelten" Worten:
"Es ist einer jener zentralen Punkte, um welchen sich die deutschen Seelen sammeln, und dieses Sammeln, dieses Zusammenfinden der einzelnen Seelen um ähnliche Punkte wie diesen ist unerläßlich, wenn aus Seelen eine Seele, aus deutschen Seelen eine deutsche Volksseele werden soll. / Darum scheint es mir, daß es eine Pflicht, und zwar eine der heiligsten Pflichten des neuen Deutschland ist, diese Art Seelenwanderung auf jede nur mögliche Weise zu unterstützen, indem man verkörperten Seelen, besonders jungen Seelen, den Weg zu solchen Lichtquellen eröffnet."
Mit Gerhard Hauptmann nimmt die Metapher von der wandernden Seele, die auf einmal mit einer deutschen Volksseele gleichgesetzt wird, eine unheimliche Wende ins Nationalistische.
Was bleibt nun von der Seelenwanderung im 21. Jahrhundert? Das Internet hat ähnlich wie der industrielle Buchdruck im 18. Jahrhundert die Lage der Autoren und Verleger dramatisch verändert. Noch nie war so viel Text in Umlauf wie heute. Noch nie in der Geschichte der Literatur war es leichter, fremde Texte für eigene Veröffentlichungen zu plündern. Und zahllose Seelen – tote und lebendige – gleiten durch die unendlichen Sphären der digitalen Welt. Die Aufregung um die junge Autorin Helene Hegemann, die 2011 Passagen aus einem bis dato unbekannten Blog in ihren Roman "Axolotl Roadkill" aufgenommen hatte, zeigt die Verunsicherung einer ganzen Branche. Hegemann selbst sprach von einem "Urheberrechtsexzess", dem sie sich durch den Plagiatsvorwurf ausgesetzt sah. Zitieren und kompilieren sei Teil der heutigen Netzkultur und nicht grundsätzlich als Diebstahl zu bewerten.
Justus Fetscher: "Deswegen hat unsere heutige Text- und Kulturgesellschaft diese obsessive Aufmerksamkeit auf das Plagiat. Vermutlich, weil dahinter sozusagen ein lauerndes Bewusstsein steht, dass es gar keinen Anlass des Plagiats mehr gibt, dass alles plagiiert ist, dass alles zitiert ist – nicht nur studentische Hausarbeiten, bei denen mich das jetzt professionell besonders beschäftigt."
Es ist sicher kein Zufall, dass zeitgenössische Autoren derzeit wieder vermehrt in ihren Büchern die Identitäts-, also die Seelenfrage stellen. Daniel Kehlmann, Clemens J. Setz, Thomas Glavinic oder Felicitas Hoppe, die bezeichnenderweise einen Roman namens "Hoppe" geschrieben hat, versuchen in ihren Büchern neue Antworten auf alte Fragen zu finden: Was ist ein Autor? Wer schreibt, wenn der Autor schreibt? Und: Gibt es so etwas wie den Anspruch auf Originalität? Die Seelenwanderung taucht dabei auch im 21. Jahrhundert wieder als Begriff auf. Beispielsweise bei Fritz Rudolf Fries, der einen Roman über einen Roman geschrieben habt – über das Riesenwerk namens 2666 des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño.
Und auch in einem anderen Erzählgenre, dem Film, gibt es Anknüpfungen an die einst religiöse, dann naturphilosophische und schließlich kommunikationstheoretische Idee der Seelenwanderung.
Jutta Müller-Tamm: "Also es gibt tatsächlich diese Vorstellung, dass nicht nur das Herz, sondern auch das Hirn verpflanzt werden könnte, vielfach natürlich ausgebeutet in trashigen Filmen und dass das eine Form von realisierter Seelenwanderung wäre."
Die Seelenwanderung ist eine alte Metapher für literarische Kommunikation und ein noch viel älteres theologisches Konzept. Trotz ihrer augenscheinlichen Antiquiertheit behauptet sie sich im aktiven Sprachschatz der deutschen Literatur. Denn soviel ist sicher: Die Seelen der verstorbenen Schriftsteller werden weiterhin heftig mit denen der Lebenden streiten. Das Resultat dieser Dialoge wird sich auch in den literarischen Werken der Zukunft niederschlagen. Und wessen Seele dann jeweils spricht, das wird auch weiterhin nicht immer klar zu entscheiden sein. Denn schon der unsterbliche Schiller wusste es:
"Spricht die Seele, so spricht ach! Schon die Seele nicht mehr!"