Identität und Gedenken

Sinti und Roma gehören zu Deutschland

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Romainitiativen protestieren unter dem Motto Hände weg vom Mahnmal für den Erhalt der Gedenkstätte für die in der Nazizeit ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten
Kultur und Geschichte der deutschen Sinti und Roma in den öffentlichen Diskurs über unser Selbstbild mit einzubeziehen, fordert Matthias Buth. © imago images/IPON/Stefan Boness
Ein Kommentar von Matthias Buth |
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Sinti und Roma spielen in der Identitätsdebatte kaum eine Rolle. Dabei gehören die Sinti seit rund 600 und die Roma seit 200 Jahren zu Deutschland. Auch die Gedenkpolitik nehme sie zu wenig in den Blick, kritisiert der Lyriker und Jurist Matthias Buth.
Unsere Sprache ist Spiegel unserer Empfindungen. Sie definiert und begrenzt unsere Welt gleichermaßen. Der Bundestagswahlkampf führt uns derzeit vor Augen, um was es beim Streiten um Begriffe im Kern geht: um Identität, um Selbstbehauptung von sozialen Gruppen und Ansprüche auf politische Wahrnehmung.
Beobachten wir die Debatte zur gruppenspezifischen und nationalen Identität, fällt auf, dass unsere Mitbürger von Sinti und Roma politisch durchs Sprachgitter fallen. Kulturell und staatsrechtlich gehören sie aber seit Jahrhunderten zu uns, als Bürger der Bundesrepublik ohnehin.
Ihr Rechtsstatus als "nationale Minderheit" mag ihnen ein wenig helfen, aber er setzt zugleich das kulturelle Stigma als "Zigeuner" fort. "Zigeunerschnitzel", die "Zigeunerweisen" – ein Bravourstück für Geige - oder der "Zigeunerbaron" von Johann Strauß: alles kontaminiert.

Sinti und Roma bleiben Fremde

1938 ordnete der "Reichsführer SS" Heinrich Himmler die "endgültige Lösung der Zigeunerfrage" an und ließ die "Rassenhygienische Forschungsstelle" Rassegutachten anfertigen, welche die Minderwertigkeit dieser Bürger des Deutschen Reiches belegen sollten. Das wirkt nach in den Mentalitäten, die sich weitertragen von Generation zu Generation. Die Sinti und Roma bleiben Fremde, bestenfalls Operetten-Figuren. Das tut weh.
Ob im "Zigeunerlager" des KZ Auschwitz-Birkenau bis zu 500.000 Sinti und Roma ermordet wurden, wird in der Geschichtswissenschaft unterschiedlich beantwortet, aber entscheidend ist, dass die bundesstaatliche Gedenkpolitik sie zu wenig in den Blick nimmt. Zudem werden die Kultur und Geschichte der deutschen Sinti und Roma nicht in den öffentlichen Diskurs über das einbezogen, was uns doch alle erfassen müsste: die Frage, wie sich unser Selbstbild zusammensetzt aus Geschichte und Gegenwart.
Nur noch ganz wenige, die Auschwitz überlebt haben, können noch Auskunft geben. So auch eine wunderbare Frau aus Bergisch Gladbach, die Sintiza Philomena Franz, die heute am 21. Juli 99 Jahre alt geworden ist. Sie überlebte das Morden, nicht jedoch ihre vielköpfige Familie. Und sie schrieb "Zwischen Liebe und Hass", ein Buch, das versöhnt und mit dem sie seit Jahrzehnten in Schulen und Universitäten für ihr Lebensmotto eintritt, das lautet: "Wenn wir hassen verlieren wir, wenn wir lieben gewinnen wir."

Nur noch ganz wenige Zeitzeugen

Philomena Franz sagt stets: "Ich bin eine Zigeunerin und zugleich eine Deutsche und Christin." Und sie sagt es mit Stolz, auch das Wort Zigeunerin kommt ihr selbstbewusst über die Lippen. Philomena Franz ist eine der ganz wenigen noch lebenden Zeitzeugen und Überlebenden von Auschwitz. Sie hat überlebt durch zwei Geschenke: sie singt - immer noch wie 1944 im KZ zur Ermutigung der Todgeweihten - und sie hat gegen alle Vernunft an ihrem Glauben an Gott festgehalten. Auschwitz ist ein dunkles Lied. Aber Philomena Franz hat mit ihrer Stimme dem Abgrund von uns Deutschen ein Licht gegeben.
An ihrem heutigen 99. Geburtstag feiern wir eigentlich uns selbst, nämlich, dass sie in unserer Mitte ist, dass sie zu uns gehalten hat und hält, zu uns, den Deutschen, die sie vergasen wollten.
Sinti und Roma sind deutsche Staatsbürger, unsere Nachbarn und Freunde. Wer das nicht wahrhaben will, versteht nichts vom Kulturstaat Deutschland und auch nicht unser Lied von Einigkeit und Recht und Freiheit. Das aber gilt, nicht nur im Fußball.
Deutschland bleibt ein schmerzendes Vaterland.
Philomena Franz singt es uns zu.

Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal geboren und veröffentlicht seit 1973 Lyrik und Prosa, 2020 die Bücher "Die weiße Pest: Gedichte in Zeiten der Corona" und "Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer: Poetische Annäherungen an Rumänien und andere Welten" sowie im Frühjahr 2021 den Essay-Band "Der Himmel über Rösrath". Bis Ende 2016 war er als Justiziar bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Kanzleramt tätig.

© Quelle: privat
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