Büchertipps zum Thema - eine Auswahl:
Fatma Aydemir: „Dschinns“
Hanser, 2022
368 Seiten, 24 Euro
Laura Cwiertnia: „Auf der Straße heißen wir anders“
Klett-Cotta, 2022
240 Seiten, 22 Euro
Yannic Han Biao Federer: „Tao“
Suhrkamp, 2022
190 Seiten, 23 Euro
Lin Hierse: „Wovon wir träumen“
Piper, 2022
240 Seiten, 18 Euro
Yade Yasemin Önder: „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“
Kiepenheuer & Witsch, 2022
256 Seiten, 20 Euro
Anna Yeliz Schentke: „Kengal“
Fischer, 2022
208 Seiten, 21 Euro
Identitätsromane
Boote in der Stadt Shaoxing: Hier lebt und stirbt die Oma der Hauptfigur in Lin Hierses Roman „Wovon wir träumen“. © picture alliance / imageBROKER / Jeff Tzu-chao Lin
Von Spurensuche und "Migrationserbe"
12:10 Minuten
Identitätsromane, die um die Suche nach der eigenen Herkunft kreisen, liegen im Trend. Unsere Literaturredakteurin Miriam Zeh stellt neue Bücher vor, die von familiären Wurzeln in China, der Türkei und Armenien und deren Einflüssen handeln.
Miriam Zeh hat sich in der letzten Zeit durch viele Romane gelesen, die um ein großes Thema kreisen: Identität. Im Sinne von Wurzeln und Familienherkunft, von Auseinandersetzung mit Traditionen und Akzeptanz in der Gesellschaft.
Romane über Herkunft – und sei es über die Kindheit in einem Dorf oder in prekären Verhältnissen – gebe es natürlich viele in der Gegenwartsliteratur, sagt die Literaturredakteurin. Doch die Autorinnen und Autoren, um die es in diesem Fall gehe, führten alle ein „Migrationserbe“ mit sich: Sie sind alle in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihre Eltern aber nicht.
Im Trend: autofiktionale Romane
"Alle Autor:innen machen in ihren Figuren deutlich, dass die Migrationserfahrung in der vorangegangenen Generation auch das Leben der nachkommenden Generation und ihr Selbstbild prägt, ihre Haltung zur Welt", betont Zeh.
Großen Raum beim Schreiben über Herkunft nähmen immer noch die autofiktionalen Romane ein, also die Romane mit einer Hauptfigur, die ziemlich viele Ähnlichkeiten mit dem Autor oder der Autorin selbst hat. Diese Figur erzählt dann aus der Ich-Perspektive, "sodass man leicht immer wieder geneigt ist, Autor:in und Erzählinstanz gleichzusetzen".
"Wovon wir träumen": Chinesisches Erbe
Dieser eigentlich nicht neue literarische Trend finde sich vor allem auch bei den Roman schreibenden Journalistinnen und Journalisten. Etwa bei Lin Hierse, Redakteurin und Kolumnistin bei der taz. „Wovon wir träumen“ handelt von einer jungen Frau, die auch Lin heißt und Ende 20 ist. Deren Mutter ist als junge Frau aus China nach Deutschland gekommen und hat einen Deutschen geheiratet.
Als Lins chinesische Großmutter stirbt und in ihrem Heimatdorf, aus dem heute die Millionenstadt Shaoxing geworden ist, beerdigt wird, beginnt Lin nachzudenken: Was bedeutet es eigentlich für mich, noch diese Familie in Schanghai zu haben, die ich nur aus dem Urlaub kenne? Was bedeutet es für meine Mutter, ihre Familie in China zurückgelassen zu haben? Und wie wirkt sich das auch auf die Beziehung zwischen Mutter und Tochter aus?
"Auf der Straße heißen wir anders": Armenische Wurzeln
Auch die "Zeit"-Redakteurin Laura Cwiertnia wählte für ihren Debütroman "Auf der Straße heißen wir anders" die Form des autofiktionalen Nachdenkens und Schreibens über Herkunft. Das funktioniere bei ihr ähnlich wie bei Lin Hierse, findet Zeh. Auch bei Cwiertnia gibt es ein Begräbnis, in diesem Fall das der armenischen Großmutter. Das findet zwar in Bremen statt, doch auf Wunsch der Oma wird das Begräbnis als traditionelles armenisches Ritual gefeiert.
"Und dieses Begräbnis bringt dann die Icherzählerin dieses Buches, ähnlich wie bei Lin Hierse, dann zum Nachdenken, so sehr, dass die Erzählerin ihren armenischen Vater überredet, mit ihr eine Reise nach Istanbul zu machen, von wo aus er nach Deutschland gekommen ist. Und dort spüren sie dann gemeinsam ihrer Herkunft nach."
Reportageartiger Stil
"Gerade diese Reise-Elemente, also an einen Ort zu fahren und dort nach Indizien oder Bildern zu suchen, die sich interpretieren, die sich lesen lassen, das erinnert natürlich an die journalistische Reportage", sagt Zeh.
So sitze Lin Hierse zum Beispiel bei ihrer deutschen Oma am Tisch, der mit einer gebügelten Baumwolltischdecke bedeckt ist. Bei ihrer chinesischen Oma, ihrer A’bu, gab es dagegen immer Tischdecken aus raschelndem Plastik, auf denen sich dann während des Essens kleine Türmchen aus Gräten oder zerkauten Bohnen türmen. So beschreibt es die Autorin in ihrem Buch.
Es habe sie jedoch überrascht, sagt Zeh, "wie wenig Kontakt Hierse und Cwiertnia zu anderen Texten suchen, wenn man bedenkt, dass sie mit der autofiktionalen Form und auch mit vielen Herkunftsnarrativen, die sie bedienen, eigentlich viele Vorläufer in der Literatur haben".
"Tao": Widerwillige Spurensuche
Ebenfalls autofiktional, jedoch mit einem stärkeren Formwillen und einem zusätzlichen Meta-Dreh, hat Yannic Han Biao Federer geschrieben. In „Tao“, so der Titel des Romans, recherchiert wieder ein Icherzähler die Migrationserfahrung seines chinesisch-indonesischen Vaters – allerdings mit großem Unwillen.
Denn Tao will sich eigentlich unauffällig einfügen, nennt sich deshalb auch Tobi, hat einen unspektakulären Verwaltungsjob an der Universität, schreibt nebenbei und will sich eigentlich lieber mit seinem Trennungsschmerz nach einer gescheiterten Beziehung beschäftigen als mit seinem Migrationserbe, mit dem ihn andere immer wieder konfrontieren.
Etwa sein Freund Micha, der anfängt, über eine Figur, die Tao sehr ähnlich ist, Hörspiele zu verfassen und sich dafür einfach Taos Geschichte aneignet. "Yannic Han Biao Federer schreibt das alles in sehr fein geschliffenen Sentenzen, kleinen Szenen, die immer wieder sehr kunstvoll in Zeit und Raum springen", findet Zeh.
"Kangal": Türkische Familiengeschichte als Politroman
Ihr Highlight unter den Herkunftsromanen in diesem Frühjahr sei „Kangal“ von Anna Yeliz Schentke, sagt die Kulturjournalistin. Der Roman erzählt von Dilek aus Istanbul. Sie hat mit Freundinnen und Freunden aktiv an den Protesten im Gezi-Park 2013 teilgenommen und dort für Meinungsfreiheit und gleichgeschlechtliche Liebe demonstriert.
Als aber 2016 der Militärputsch gegen Erdogan scheitert, wird es für Dilek gefährlich in der Türkei. Sie flieht nach Deutschland. Für ihre in Deutschland geborene und aufgewachsene Cousine Ayla dagegen ist die Türkei ein Sehnsuchtsland, das sie nur von beschaulichen Urlauben kennt. Ayla lebt in einem Milieu türkischer Migrantinnen und Migranten, für die Erdogan ein unterstützenswerter Präsident ist.
Gefälle zwischen liberal und national-konservativ
"Das Gefälle zwischen jungen, demokratischen Stimmen in der Türkei und konservativ-nationalen Tendenzen bei den Landsleuten in Deutschland ist hier kondensiert in einem intensiven Austausch zwischen diesen beiden jungen Frauen", beschreibt Zeh.
Schentke habe aus dieser Geschichte, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, "einen super-spannenden Politroman gemacht".