Identitätstragödie

Wajdi Mouwads „Vögel“ ist das Stück der Stunde

05:26 Minuten
Szene aus dem Stück "Vögel": Die jüdische Familie von Eitan ist in heller Aufregung, weil er sich in eine arabischstämmige Frau verliebt hat.
Das Wiener Burgtheater: Szene aus dem Stück "Vögel". Die jüdische Familie im Streit über die Liebe des Sohnes zu einer arabischstämmigen Frau. © Matthias Horn / Wiener Burgtheater
Von Thilo Sauer |
Audio herunterladen
14 Bühnen gleichzeitig spielen derzeit Wajdi Mouawads Stück "Vögel". Die Theater setzen die Identitätsgeschichte um ein jüdisch-arabisches Liebespaar und seine Familien ganz unterschiedlich um. Mehrsprachig oder nicht, das ist hier die Frage.
"Seit ich in diese riesige Bibliothek, in diese riesigen Bibliothek, in dieser riesigen Stadt komme, habe ich ständig dieses Buch auf genau den Tischen vorgefunden, an die ich mich zufällig gesetzt habe." (Wajdi Mouawad, Vögel)
Es ist der Beginn einer Liebesgeschichte: Der Genetiker Eitan trifft in einer New Yorker Bibliothek die Geisteswissenschaftlerin Wahida. Doch diese Beziehung wird von Eitans Eltern nicht akzeptiert. Denn als Juden sehen sie in der arabischen Herkunft von Wahida eine natürliche Feindschaft.
Für den Schauspieler und Regisseur Itay Tiran ist dieser Konflikt zentral.
"Es ist ein sehr mutiges Stück, vor allem wenn man bedenkt, dass Wajdi Mouawad mit seinem Hintergrund eine andere Sichtweise in diesem Stück einnimmt, das als Basis von einem Konflikt zwischen zwei Religionen, zwei Identitäten handelt. Seine Bemühungen, in die Tiefen dieses Konflikts vorzudringen, so wie er es macht - mit dieser poetischen und epischen Erzählung, ist sehr reizvoll und edel."

Alle Wahrheiten auf den Kopf gestellt

Itay Tiran ist Israeli und hat deswegen einen sehr persönlichen Zugang zum Nahost-Konflikt. Das hat bei der Regiearbeit am Wiener Burgtheater geholfen. Doch für die meisten Häuser ist ein übergeordneter Aspekt des Stückes wesentlich wichtiger: Identitäten. Eitans Vater David definiert sich über seine Herkunft. Er glaubt, dass er das Leiden seiner jüdischen Ahnen weitertragen muss. Der Naturwissenschaftler Eitan ist sich sicher, dass nur er selbst über seine Identität bestimmt. Am Staatstheater Wiesbaden wird er von Christoph Kohlbacher gespielt.
Kohlbacher erklärt: "Als ich es das erste Mal gelesen habe, hat es dazu geführt, dass ich da schon viel nachgedacht habe. Und dass er es schafft, verschiedene Sichten auf eine gleiche Höhe zu stellen, dass es nicht so wirkt, als wäre einer im Unrecht. Aber ich finde es auch sehr konstruiert."
Das junge Paar reist nach Jerusalem zu Eitans Großmutter, um einem Familiengeheimnis nachzugehen. Die Lösung stellt schließlich alle Wahrheiten auf den Kopf.

Stück auf Englisch, Hebräisch und Arabisch

Mouawad hat das Stück zwar auf Französisch geschrieben, aber für seine Produktion am Pariser "La Colline" Teile in Englisch, Hebräisch und Arabisch übersetzt. Eigentlich wollte er keine andere Version dieses Stückes. In Stuttgart wurde die Inszenierung deswegen mit Muttersprachlern erarbeitet. Auch Itay Tiran war damals dabei. Für ihn ist die Vielsprachigkeit zentral, wie er erklärt:
"Sprache hat viel mit Identität zu tun. Es ist die erste Grenze, die definiert, wohin man gehört. Außerdem hat jede Sprache eine eigene Psychologie. Ich denke, um das Identitätsproblem in dem Stück ganz zu verstehen, ist es sehr wichtig, diese Sprachen zu hören."
Auch in Halle sollen die Darsteller neue Wörter lernen. Für die Hallenser Dramaturgin Henriette Hörnigk ist das eine zentrale Erfahrung der Gegenwart.
"Das spiegelt auch eine Realität wider, die in Halle in den letzten Jahren auch neu ist. Also, es ist normal, dass Arabisch gesprochen wird. Es ist normal, dass Englisch gesprochen wird. Das bilden wir auf der Bühne ab."

Wiesbaden: Vielsprachigkeit keine so große Relevanz

Für Daniel Kunze hingegen, der das Stück in Wiesbaden inszeniert, ist die Mehrsprachigkeit nicht zentral.
"Ich finde, eine Vielsprachigkeit ist erstmal noch keine Legitimation, weswegen ein Stück aufgeführt werden sollte. Man sollte schon auch gucken, dass es so scharf wie möglich und so klar wie möglich und diskursiv wie möglich stattfindet. Das glaube ich und hoffe ich, dass es mit unserem Zugang, es mit dem deutschen Text zu versuchen, es unsere Arbeit und die des Zuschauers erleichtert."
Viele – vor allem kleinere – Häuser meinen, eine solche Vielsprachigkeit nicht gut herstellen zu können. Sie sind sich sicher, dass das Stück auch ohne diesen Effekt stark genug ist.
Matthias Brenner, Intendant am Neuen Theater Halle, begründet die Auswahl des Stücks:
"Das Thema spielt eine Rolle, was diese ganze Flüchtlingsfrage betrifft, was hier passiert, wie das schmerzhaft manipulativ verwechselbar gemacht wird mit völlig anderen Dingen – nämlich mit Kriminalität. Ich finde, dieses Stück entkriminalisiert uns, und es macht uns einiges klar."

Stück hat alles, was sich Intendanten wünschen

Dennoch sind die meisten Häuser von der Masse der Produktionen überrascht. Sie sehen es aber auch als Bestätigung der eigenen Entscheidung und als Chance. Denn so können Zuschauer im gesamten deutschsprachigen Raum Wajdi Mouawads Werk erleben. Ein Stück, das alles hat, was sich Intendanten wünschen. Doch die Theater sind sich sicher, dass es nicht nur ein kurzer Hype ist, sondern "Vögel" noch einige Jahre auf den Spielplänen stehen wird – wenn auch nicht unbedingt auf 14 in einer Spielzeit.
Mehr zum Thema