Russische Literatur kennen alle – aber Philosophie? Vom Marxismus-Leninismus einmal abgesehen ist russische Philosophie für viele im Westen Terra incognita. Warum das so ist und was russische Philosophie so besonders macht, erklärt Sylvia Sasse in unserem Gespräch.
Russland verstehen
Sylvia Sasse sieht etwa bei Alexander Dugin starke Bezüge zur Konservativen Revolution der Weimarer Republik. © imago / ITAR-TASS
Philosophie und Ideologie in Putins Reich
34:49 Minuten
"Panslawismus" oder "Eurasismus": Ideologen wie Alexander Dugin fordern einen russischen Sonderweg, aber liebäugeln mit der globalen Neuen Rechten. Sylvia Sasse erklärt das russische Denken - und unterscheidet zwischen Philosophie und Ideologie.
Russische Panzer stehen an der Grenze zur Ukraine und sind – so die Einschätzung westlicher Geheimdienste – bereit, dort einzumarschieren. Bei vielen Beobachtern hierzulande löst die Lage nicht nur Entsetzen aus, sondern auch Unverständnis. So richtig verstehen wir nicht, was Putin dazu bringt, dieses Wagnis einzugehen, bei dem es vermutlich für Russland nicht viel zu gewinnen, aber viel zu verlieren gibt.
Wie viel Ideologie steckt im System Putin?
Gibt es Denktraditionen, die helfen zu begreifen, was gerade in Russland passiert – vielleicht sogar einen philosophischen Überbau? Die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse sieht keinen genuin philosophischen roten Faden. Sie spricht in diesem Zusammenhang lieber von Ideologie statt von Philosophie.
Denn, so zitiert sie den russischen Gegenwartsphilosophen Michail Ryklin, man habe es derzeit in Russland mit einer „Herrschaft in Reinkultur“ zu tun, die sich auf keine beständige Ideologie stütze, die sich aber sehr wohl ideologischer Versatzstücke bediene. So würden Ideen des Panslawismus oder eines großrussischen Reiches instrumentalisiert. Etwa durch Alexander Dugin, Politikwissenschaftler, Politiker und Publizist:
„Er ist kein Philosoph, er ist eigentlich ein rechtsextremer, ultranationalistischer Demagoge, der in Verbindung mit der extremen Neuen Rechten weltweit steht, nicht nur in Russland“, sagt Sasse. „Er nimmt sich Versatzstücke für etwas, was er selbst Eurasismus nennt.“
Kritik wird als Russophobie gedeutet
Dugins Theorien zufolge seien die Russen ethnisch weder Europäer noch Asiaten und als solche dazu prädestiniert, ein neues großrussisches Reich aufzubauen. „Das ist eine Ideologie, die stellenweise benutzt wird, auch und gerade jetzt, wenn es darum geht, gewissermaßen gegen die Ukraine oder gegen die Kritik im eigenen Land mobilzumachen“, sagt die Slawistin.
Schon vor einigen Jahren habe Dugin ideologische Versatzstücke geliefert, als es darum gegangen sei, die Proteste in der Ukraine als etwas vom Westen Gesteuertes zu lesen. „Auch die ganze Idee einer Russophobie ist sehr stark mit ihm verbunden. Alles, was an Kritik kommt, wird gewissermaßen nationalistisch interpretiert als Russophobie, ist vom Westen aus finanziert.“
Carl Schmitt als Bezugspunkt
Bereits 1994 habe Dugin ein Buch mit dem Titel „Die konservative Revolution“ geschrieben, unterstreicht Sasse. Und in den klassischen deutschen Theoretikern der Konservativen Revolution der Weimarer Republik sieht sie auch seine ideologischen Anknüpfungspunkte: „Dugin bezieht sich sehr stark auf Carl Schmitt, gerade auf dessen Freund-Feind-Schema, auf den Ausnahmezustand, auf die Konzepte von Souveränität.“
Ein weiterer für das System relevanter Ideologe ist Sasse zufolge der Schriftsteller und Publizist Nikolai Starikow, der 2011 das Buch „Die Nationalisierung des Rubels. Russlands Weg in die Freiheit“ veröffentlicht hat. „Das ist ein Buch, das Putin gern mal liegen lässt, wenn er interviewt wird. Zum Beispiel in den Interviews mit Oliver Stone lag dieses Buch dann auf dem Tisch“, sagt Sasse.
„Da geht es um das Ideal einer totalen staatlichen Souveränität, und zwar kulturell, ökonomisch, militärisch, völlig frei vom Westen, den man als kolonialisierend empfindet. Man ist gegen die Idee eines Humanismus, der universal ist und auch zum Beispiel gegen eine rechtsstaatlich fundierte Gesellschaft.“
Die Slawistin sieht hier einen Ideologietransfer von und zur Neuen Rechten in Westeuropa und der Alt-Right-Bewegung in den USA: „Das ist nichts spezifisch Russisches“, unterstreicht sie. „Sondern das ist im Grunde eine globale Bewegung, die versucht, liberale oder linke Konzepte zu diskreditieren.“
Die akademische Philosophie ist divers
Die akademische Philosophie in Russland stehe mit diesen Ideologien aber nicht in Zusammenhang, sondern sei wie überall äußerst heterogen und divers, betont Sasse. „An den Universitäten gibt es jüngere und ältere Philosophen, die in ganz unterschiedlichen Traditionen stehen.“
Etwa solche, die die russische Phänomenologie der 1920er-Jahre wiederentdeckten. Auch habe es einen großen Trend zur Rezeption der französischen Poststrukturalisten gegeben. Und dann immer wieder Walter Benjamin: Der sei „einer der konstanten Protagonisten der russischen Philosophie“.
(uko)