"Kritik - das ist nicht immer angenehm"
Hoch geschätzt und angefeindet: Der Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, ist bekannt wegen seiner steilen Thesen zur Eurokrise: Sein Plädoyer für den Grexit, seine Kommentare zu Mindestlohn, Energiewende und Flüchtlingen.
Der scheidende Präsident des Ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, hält den Absturz der chinesischen Aktienbörsen für die größte aktuelle Herausforderung in der Weltwirtschaft und bekräftigt im Rückblick noch einmal seine Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB).
"Wir haben im Moment eine erhebliche Irritation an den Börsen (...) Die Weltmärkte sind erschüttert", sagte der Ökonom im Deutschlandradio Kultur über die aus seiner Sicht aktuell größte Herausforderung für die Weltwirtschaft. Als Volkswirtschaftler könne er Probleme aber immer lediglich analysieren, kommentieren und Empfehlungen aussprechen, erläuterte der Präsident des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V. (ifo).
Rückblick auf Eurokrise
Im Rückblick bekräftigte der Ökonom, der Ende März nach 17 Jahren als Ifo-Chef in den Ruhestand geht, noch einmal seine Kritik an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Nach der Bankenkrise 2008/2009 sei die EZB zu einer Rettungsinstitution "mutiert". Dabei sei es um Milliardensummen gegangen, versteckt in den Bilanzen der Notenbanken, entgegen der No-Bailout-Klausel der Maastrichter Verträge: "Und das in einem riesigen Umfang, das hat mich dann doch sehr irritiert", erläuterte Sinn. Die EZB-Geldpolitik habe damit indirekt und dann über die Politik der Rettungsschirme auch direkt den privaten Steuerzahler in Haftung genommen: Die großen Rettungsentscheidungen seien von technokratischen Gremien in der EZB getroffen worden, "und den Parlamenten blieb gar nichts anderes übrig, als als Erfüllungsgehilfen dieser technokratischen Gremien zu agieren. (... ) Der ganze Streit zwischen Gläubigern und Schuldnern in der Endphase (...) der übertrug sich jetzt auf Staaten. (...) Die Gläubiger haben sich alle aus dem Staub gemacht und wir Deutschen, vertreten durch unsere Regierung wurden zum großen Buhmann."
"Es muss schon alles stimmen, was man da sagt"
Sein Engagement, wirtschaftspolitische Themen verstärkt in den öffentlichen Diskurs einzubringen, begründete der Ökonom damit, auf Problem hinweisen zu wollen: Dabei gehe es ihm nicht um Polemik, sondern um Fakten: "Es muss schon alles stimmen, was man da sagt." Manche, die eine "schöne heile Welt" wünschten, entwickelten dann aber "Störgefühle." Seine Rolle als Volkswirtschaftler definierte er als "ähnlich wie ein Arzt, der über Krankheiten spricht, das ist nicht immer angenehm. (...) Viele Leute empfinden die Wahrheit als polemisch, das ist aber ihr Problem," erklärte der 67-Jährige, der im Ruhestand weitere Buchprojekte plant und Vorträge halten will: "Da bleibt genug zu tun."
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Er hat der Eurokrise ein Gesicht gegeben, oder besser gesagt einen Bart: Hans-Werner Sinn gehört fraglos zu den bekanntesten Ökonomen Deutschlands. Das liegt zum einen an seinem markanten Aussehen, was jetzt im Radio zugegebenermaßen nicht so sehr zum Tragen kommt, und es liegt zum anderen an seinen kräftigen Thesen: Griechenland muss raus aus dem Euro, die vielen Flüchtlinge sind eine wirtschaftliche Belastung, und die Energiewende, die ist kaum zu schaffen. Nach 17 Jahren an der Spitze des Leibniz-Institutes für Wirtschaftsforschung an der Universität in München geht Hans-Werner Sinn in wenigen Wochen in den Ruhestand, und auch wir hier in Deutschlandradio Kultur nutzen die Zeit bis dahin für eine Bilanz. Guten Morgen, Herr Sinn!
Hans-Werner Sinn: Ja, schönen guten Morgen!
Welty: In der öffentlichen Wahrnehmung gehören Sie eher zu denjenigen, die sagen, was nicht geht, als das zu beschreiben, was geht. Ist das der leichtere Weg?
Sinn: Ja, ich weiß nicht, ob die Wahrnehmung ganz richtig ist. Ich sag schon, was geht, aber ich weise immer auf Probleme hin, das ist schon richtig, und da entwickeln manche Störgefühle, die eine schöne, heile Welt wünschen. Aber ich bin so was Ähnliches wie ein Arzt, der über Krankheiten spricht, das ist halt nicht immer angenehm.
Welty: Wo schlägt denn der Puls besonders schwach im Moment, um im Bild zu bleiben?
Sinn: In China. Wir haben ja jetzt im Moment eine erhebliche Irritation an den Börsen, einen Einbruch der Kurse. Das hat dazu geführt, dass man den Handel ausgesetzt hat, aber die Weltmärkte sind im Moment gerade erschüttert. Das ist erst seit ein paar Tagen.
Welty: Wie oft haben Sie sich in der Vergangenheit gewünscht, tatsächlich am Ruder zu sitzen und den Kurs zu bestimmen, also womöglich in die Politik zu wechseln?
"Analysieren, kommentieren, Empfehlungen geben"
Sinn: Nie. Nein. Also vielleicht einmal als ganz junger Mensch, da hatte ich vielleicht Ambitionen als Minderjähriger, aber das ist nun ein halbes Jahrhundert her. Nein, ich bin lieber Forscher, und jeder soll das Seine machen. Ich kann die Dinge analysieren, kommentieren, Empfehlungen geben, aber die Entscheidungen müssen natürlich die Politiker selber treffen.
Welty: Was reizt Sie am Forschen?
Sinn: Was reizt mich am Forschen? Die Neugier. Es ist ja spannend, wie ein Kriminalroman ist das. Man sieht im Nebel schemenhaft sich irgendwas bewegen und versteht es noch nicht. Man versucht die ersten Daten zu sammeln, den Blick zu klären, und dann allmählich entwickelt sich der Gegenstand. Dann merkt man, was da gerade los ist und kann das beschreiben. Das finde ich außerordentlich spannend, das ist ein tolles Fach, die Volkswirtschaftslehre kann ich jedem nur empfehlen.
Welty: Wie war das zum Beispiel im Zusammenhang mit der Euro-, mit der Griechenlandkrise, wo haben Sie da dann irgendwann, ich will nicht sagen, Licht am Ende des Tunnels oder den Lichtstreifen am Horizont entdeckt, also wann wussten Sie, in welche Richtung es für Sie geht?
"Die EZB hatte sich mutiert zu einer Rettungsinstitution"
Sinn: Wir waren natürlich 2008 alle überrascht, als dann diese Lehman-Krise kam. Gut, es hatte sich im Sommer 2007 schon ein bisschen angekündigt, wir hatten über den Winter dann Bear Stearns und die Probleme mit der sächsischen Landesbank und anderes, und das kulminierte dann. Dann dachte man, ja, hoffentlich schaffen wir's – man muss entgegenhalten, die Märkte waren total verunsichert, die EZB war aktiv –, aber dann hab ich gemerkt, als die Weltwirtschaft schon wieder anzog, 2009/2010, dass hier in Europa eigenartige Dinge passierten: Nämlich die EZB hatte sich mutiert zu einer Rettungsinstitution, die überschuldeten Staaten und Bankensystemen mit frischem Geld aus der Druckerpresse half, Geld, welches zu Konditionen zur Verfügung gestellt wurde, die die Kapitalmärkte gar nicht brachten. Und das waren enorme Summen, versteckt in den Bilanzen der Notenbanken, da konnte man das dann erkennen – in der Spitze bis 2012 über Tausend Milliarden Euro. Und das, obwohl die Maastrichter Verträge ja eigentlich den No-Bail-out vorsahen, also vorsahen, dass Staaten, die in Schwierigkeiten kommen, eben dann pleite gehen, und dass die Gläubiger dieser Staaten ihr Geld nicht wiederkriegen. Stattdessen wurde über die EZB der Steuerzahler in die Haftung genommen, und das in einem riesigen Umfang. Das hat mich dann doch sehr irritiert.
Welty: Das hat Sie ja nicht nur irritiert, Sie haben ja auch lautstark protestiert. Trotzdem ist es ja so gekommen, wie Sie das gerade beschrieben haben: Sie sind gehört worden, aber es wurde nicht auf Sie gehört. Ist das auch manchmal frustrierend gewesen in der Vergangenheit?
"Den Parlamenten blieb nachher gar nichts anderes übrig"
Sinn: Ja, natürlich ist das frustrierend, aber es ist halt so, dass die Länder in Europa, die jetzt angewiesen waren auf das Geld aus der Druckerpresse, weil auf dem Kapitalmarkt sie zu hohe Zinsen zahlen mussten, die politische Macht hatten und das dann über die Gremien der Europäischen Zentralbank durchgesetzt haben. Und die privaten Gläubiger, das waren die Banken Frankreichs, aber auch unsere eigenen Banken oder auch englische Banken, die haben sich natürlich gefreut, dass ihre Schuldner mit dem Geld aus der Druckerpresse zurückzahlen konnten. Dadurch wurde aber indirekt der Steuerzahler, der hinter der EZB als Eigentümer steht, zum Gläubiger, und direkt wurde er zum Gläubiger, als dann die Rettungsschirme kamen, um die EZB wieder aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Also hier sind die großen Rettungsentscheidungen praktisch von technokratischen Gremien getroffen worden in der EZB, die Geldpolitik machen sollten, und den Parlamenten blieb nachher gar nichts anderes übrig, als Erfüllungsgehilfen dieser technokratischen Gremien zu agieren und Ersatzkredite zu geben. Und dadurch wurde Frau Merkel zum Gläubiger Griechenlands. Und der ganze Streit, der üblich ist zwischen Gläubigern und Schuldnern in der Endphase, bevor der Schuldner in Konkurs geht, der übertrug sich jetzt in einen Streit zwischen Staaten, was sonst ein Streit zwischen dem griechischen Staat und irgendwelchen privaten Gläubigern verteilt auf der Welt gewesen wäre. Die Gläubiger haben sich alle aus dem Staub gemacht, und wir Deutschen, vertreten durch unsere Regierung, wurden zum großen Buhmann.
Welty: Wenn man so eine Debatte anschaut über Griechenland oder jetzt auch über China, wie viel Polemik verträgt eine solche Debatte?
Sinn: Ja, gut, wenn es eine reine Polemik ist, ist es nicht in Ordnung. Es muss schon alles genau stimmen, was man da sagt, und man darf nicht aus dem luftleeren Raum heraus das tun. Viele Leute empfinden auch die Wahrheit als polemisch, das ist ihr Problem.
Welty: Wo möchten Sie denn jetzt noch Akzente setzen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie sich ab sofort oder dann ab März nur noch um den heimischen Garten kümmern.
Sinn: Ja, das läuft ja langsam aus. Ich hab allerlei Zusagen für Vorträge, ich hab mein Buchprojekte, die ich im Auge habe, was ich in den nächsten Jahren so schreiben möchte, ich kann wieder stärker mich der Wissenschaft widmen, also der Diskussion innerhalb des Faches, da bleibt hoffentlich genug zu tun. Aber ich bin kein Hellseher, ich weiß ja auch nicht, wie groß die Kraft ist, die man so hat für all diese Dinge. Sie dürfen nicht vergessen, so ein Buch zu schreiben, ist eine unglaubliche Kraftanstrengung, die bis an die Grenzen des physisch Möglichen geht. Ob man das noch mal hinkriegt und wie häufig man das hinkriegt, das ist noch eine Frage, die die Zukunft beantworten wird. Es macht auch irgendwie Spaß, es ist erfüllend, wenn man dem Ende sich nähert und sieht, wie sich das Buch entwickelt, aber der Zeitaufwand, der ist für Menschen, die nicht selber schon mal ein Buch geschrieben haben, kaum nachzuvollziehen.
Welty: 17 Jahre an der Spitze des ifo Instituts, die Bilanz von Hans-Werner Sinn hier in Deutschlandradio Kultur. Ich danke sehr für dieses Gespräch, das wir aufgezeichnet haben!
Sinn: Ich danke auch und einen schönen Tag!
Welty: Einen schönen Tag und alles Gute für den neuen Lebensabschnitt!
Sinn: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.