Stets auf Suche nach Grenzerfahrungen
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Auf seiner neuen Platte spielt der Pianist Igor Levit Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die "Passacaglia on DSCH" des schottischen Komponisten Ronald Stevenson. Die Herausforderung sei – wie gewohnt – extrem, sagt unsere Kritikerin.
Für die einen ist Igor Levit Twitter-Virtuose, für andere eine pianistische Offenbarung: Igor Levit ist wie kaum ein anderer klassischer Musiker in den Medien präsent, in Talk- und Satireshows oder beim Grünen-Wahlkampf. Während der Pandemie bestritt er einen Beethoven-Podcast für den Bayerischen Rundfunk. Jetzt gibt es mit "On DSCH" ein neues Album.
Dafür hat der Pianist die 24 Präludien und Fugen von Dmitri Schostakowitsch aufgenommen – und ein deutlich unbekannteres Werk: die "Passacaglia on DSCH" des schottischen Komponist Ronald Stevenson aus den 1960er-Jahren. Zumindest im Deutschen enstprechen diese drei Buchstaben Dmitri Schostakowitschs Initialen, erklärt Musikredakteurin Elisabeth Hahn: "Schostakowitsch hat diese Initialen selbst regelmäßig in seine Werke eingebaut. Dahinter stehen die Töne D-Es-C-H."
Der große Schostakowitsch-Fan Stevenson griff diese Tonfolge als Thema für sein Klavierwerk auf und komponierte daraus mehr als 300 Variationen.
Eine Hommage an Schostakowitschs Musik sei die Platte allerdings eher nicht, meint Elisabeth Hahn. "Es ist keine Musik im Stil Schostakowitschs. Levit macht wirklich etwas Eigenes daraus." Beide Werke verbinde ihre überdimensionierte Länge: Die 24 Präludien und Fugen umfassen fast zweieinhalb Stunden und die "Passacaglia" von Stevenson annähernd anderthalb.
Hang zum übergroßen Werk
"Passacaglia on DSCH" sei für ihn das internationalste Klavierwerk, das er kennt, sagte Levit bei der Präsentation seines Albums in Berlin. In diesem Stück reise man sozusagen um die ganze Welt: Europa, Asien, Afrika – und am Ende dieser Reise gehe es dann nur noch in eine Richtung: ins Weltall.
Außerdem gehe es in dem Werk um große Ereignisse und Tragödien des 20. Jahrhunderts: um den Holocaust, um die Sowjetunion, aber auch um Juri Gagarins Flug zum Mond.
Der 34-jährige Igor Levit ist bekannt dafür, dass er immer wieder neue Herausforderungen sucht und vor allem das Epische, das überdimensionierte Werk. Sein Debüt gab er mit 26 Jahren mit den späten Beethoven-Sonaten – eine heilige Kuh für Pianisten, vor allem in diesem jungen Alter. Danach spielte er große Variationenwerke ein, darunter die Goldberg-Variationen von Bach. Er brachte eine Gesamtaufnahme aller Beethovensonaten heraus. In der Pandemie gab Levit ein 15-stündiges Konzert mit den "Vexations" von Eric Satie.
Politische Forderungen in Musik umsetzen
Auch bei seinem aktuellen Album suche er erneut die Grenzerfahrung. "Schon die ‚Passacaglia‘ von Stevenson dauert fast 90 Minuten – das sind Dimensionen einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie", sagt Elisabeth Hahn. Auch technisch und mental sei das eine riesige Herausforderung für Pianistinnen und Pianisten.
Levit, seine Marketing-Abteilung und das Booklet machten mehr als deutlich, dass dem Pianisten hier ein Maximum abverlangt werde. In einem Interview sprach Levit davon, dass ihm beim Üben des Stücks das Gehirn blute und dass er erst jetzt, nach langer Zeit, dazu bereit sei, dieses Stück zu bewältigen.
Da mag sich die Frage stellen: Was kann an Extremem noch kommen?
Elisabeth Hahn schlägt Igor Levit vor, seine große mediale Präsenz und Macht zu nutzen, um noch deutlich mehr Musik zu spielen, die ansonsten weniger im Rampenlicht steht. Stevenson sei ein guter Anfang. Anschließen könnten sich etwa Werke verfolgter, vergessener oder auch afroamerikanischer Komponistinnen und Komponisten.
Er selbst mache sich immer wieder für Diversität, Teilhabe und Gleichberechtigung stark.
(abr)