„Ihr könnt mich umbringen“

Folge 4: Ziel: Umerziehung

05:38 Minuten
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© Anselm Magnus Hirschhäuser
Von Nathalie Nad-Abonji und Alexander Krützfeldt |
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Unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau leben müssen, erfährt die Öffentlichkeit erst nach der Wende. Wer aber trägt die Verantwortung für die menschenunwürdigen Zustände?
"Man kommt also dort an, ist eingeschüchtert. Man sieht diese Einrichtung, da sind ja alle zwei Meter Gittertüren, wie ein Gefängnis. Dann Tore, die aufgehen. Man wird ja wie ein richtiger Schwerverbrecher – wie ein Mörder oder Vergewaltiger wird man zugeführt."
Marko kommt als 15-Jähriger in den Jugendwerkhof Torgau, er ist zuvor weder kriminell, noch straffällig geworden. Aber er gilt als "schwererziehbar". Im Geschlossenen Jugendwerkhof soll er umerzogen werden, zu einem Menschen, der sich willenlos in die sozialistische Gesellschaft einfügt.

"Wir machen aus dir einen neuen Menschen"

"Ich weiß nur, dass dieser Direktor sagte, du bist jetzt hier und hier machen wir aus dir einen neuen Menschen."
Die Methoden, mit denen das geschieht, sind so brutal, dass Marko 30 Jahre später immer noch davon Albträume hat. Über die Zustände in Torgau erfahren wir mehr aus dem Archiv der Gedenkstätte und einem Interview, das die Leitung 2002 mit Tom führt – Markos Zimmergenosse.
Tom ist dreimal für mehrere Monate in Torgau eingesperrt. Nach den obligaten drei Tagen Einzelarrest und der auswendig gelernten Hausordnung stößt er zu seiner Gruppe.
Ein mit Hindernissen gespicktes Trainingsgelände
Jeden Morgen Drill: die Sturmbahn des Jugendwerkhofs Torgau© Archiv DIZ Torgau
"Es fing an um halb sechs. Da hat er den Schlafraum aufgeschlossen, da musste man aber schon neben den Betten stehen, wenn er die Tür aufhatte. Dann alle raus im Laufschritt. Dann war Zählung. Dann raus. Frühsport. Runden rennen erst. Dann wieder rein. Dann Zahnputz- und Waschzeug holen. Dann wieder antreten. Nach unten laufen im Laufschritt in den Waschraum. Zähne putzen nach Zeit. Dann wieder raus aus dem Waschraum alle zusammen im Laufschritt. Antreten, wieder hoch im Laufschritt."
Danach arbeiten die Jugendlichen – stellen im Akkord Schiffslampen her. Selbst der Gang zur Toilette ist verordnet und darf nur als Gruppe absolviert werden. Wenn die 14 bis 18-jährigen Jungen und Mädchen an einem Erzieher oder einer Erzieherin vorbeikommen, müssen sie fragen, ob sie vorbeidürfen. In deren Dienstzimmern liegen Gummiknüppel und Handschellen. Sie kommen auch zum Einsatz, sagt Tom im Interview.

Umgang wie mit Tieren

Marko wird nicht geschlagen, in der kurzen Zeit, in der er dort ist, erzählt er uns. Das ist damals auch gar nicht notwendig.
"Die, die da waren, waren derart am Boden. Das kann man sich nicht vorstellen, du bist dann nur noch ein Wrack. Diese Gewalt ist eine psychische Gewalt, die sie da ausüben auf einen. Und man ist auch permanent in Angst."
"Waren die überzeugt von dem, was sie taten?"
"Ja. Die waren von sich absolut überzeugt."
"Und auch, dass das der richtige Umgang mit Kindern ist?"
"Ja. Die waren davon überzeugt, dass wir Tiere sind. Wobei man Schweine in der Schweinemastanlage noch besser behandelt."
Zeichnung einer Zahnpastatube und einer Zahnbürste
Zähne wurden im Jugendwerkhof nach Zeit geputzt © Anselm Magnus Hirschhäuser
Mittlerweile sind die menschenunwürdigen Zustände von damals auch den Gerichten bekannt - wichtig, wenn es um Rehabilitierung und Opferrenten geht. Aber die meisten der insgesamt 4000 ehemaligen Insassen von Torgau sind bis heute nicht in der Lage, ihre Rechte geltend zu machen. Auch Paul, der damals mit erst 16 Jahren sterben will, hat bisher keinen Antrag auf Rehabilitierung gestellt. Wir suchen ihn jetzt schon seit sechs Monaten. Vor ein paar Wochen haben wir ihn ein zweites Mal über Facebook angeschrieben – bis heute keine Antwort.

Die Erzieher schweigen

Wir suchen auch ehemalige Erzieher. Manche Namen finden wir in Internetforen der Opfer, andere suchen wir mühsam aus den Akten zusammen. Mein Kollege Alex ruft diejenigen an, die wir ausfindig machen können. Einige hängen den Hörer auf, bevor er erklären kann, worum es geht. Mit zwei ehemaligen Erziehern kann er immerhin kurz telefonieren, erzählt er während einer Autofahrt. Interviews lehnen beide ab.
"Ich habe ihnen zugehört und habe auch nachgefragt und habe gesagt, es ist wichtig, dass sie etwas dazu sagen. Dann wurden sie richtig laut teilweise: nö, das ist so und so, die hätte man noch länger und heftiger drangsalieren müssen."
Schließlich gelingt es mir Kontakt zu einem Lehrer des Geschlossenen Jugendwerkhofs aufzunehmen. Mittlerweile ist er 80. Dieser Lehrer unterrichtet damals für ein paar Stunden in der Woche Deutsch, Mathematik und Staatsbürgerkunde. Denn in erster Linie sollen die Mädchen und Jungen arbeiten. In den folgenden Wochen telefoniere ich mehrmals mit ihm. Er macht einen freundlichen Eindruck. Aus dem Archivmaterial der Gedenkstätte wissen wir, dass Tom keine guten Erinnerungen an ihn hat.

Der Lehrer sieht sich als Wendeopfer

"Der hat dann von der 5.bis zur 8. - alles in eine Stunde durchgezogen. Da konntest du dich nicht langweilen. Wenn du da nicht aufgepasst hast bei dem, dann gab´s eine."
Als die Zustände in Torgau bekannt sind, wird er Anfang der 90er Jahre, aus dem Schuldienst entlassen. Damals ist er Mitte 40. Bis zur Rente muss er sich als Nachhilfelehrer durchschlagen. Der Lehrer, immerhin Teil der Umerziehungsmaschinerie im Geschlossenen Jugendwerkhof, begreift sich selbst als moralisch integrer Pädagoge und fühlt sich bis heute ungerecht behandelt. Als Opfer. Von einem Kellerloch damals genannt Fuchsbau, in das Jugendliche zur Disziplinierung gesteckt werden, will er nichts wissen. Und das bereits zugesagte Interview, sagt er kurzfristig ab.
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