Ilija Trojanow über Martin Luther King

Kämpferisch, pathetisch und hoch aktuell

Martin Luther King steht anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit vor tausenden Demonstranten am Lincoln Memorial in Washington. Das Foto wurde am Tag seiner berühmten "I have a Dream"-Rede aufgenommen.
I have a Dream: Martin Luther King © imago stock&people
Ilija Trojanow im Gespräch mit Joachim Scholl |
Wir müssen Martin Luther King in seiner "unglaublichen Aktualität" sehr ernst nehmen, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow. Denn: Er habe sich schon damals gegen das eingesetzt, "was wir inzwischen den neoliberalen, globalisierten Kapitalismus nennen".
Joachim Scholl: So hat er sich angehört, Martin Luther King, und heute auf den Tag vor 50 Jahren, am 3. April 1968, hat er diese Rede im Mason Temple in Memphis gehalten. Am Tag darauf wurde der Bürgerrechtler, der Prediger, der unermüdliche Streiter für soziale Gerechtigkeit, ermordet. Jene Rede, aus der wir den kleinen Ausschnitt gehört haben, enthielt auch den Passus "Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen". Und unter diesem Titel gibt es bei der Edition Nautilus einen Band mit Reden von Martin Luther King. Das Vorwort stammt von dem Schriftsteller Ilija Trojanow. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Ilija Trojanow: Guten Morgen!
Scholl: Was verbindet Sie denn mit diesem Mann, dieser Persönlichkeit Martin Luther King, Herr Trojanow?
Trojanow: Das ist ein Denker und Kämpfer, den wir ernst nehmen müssen in seiner unglaublichen Aktualität. Er ist wie viele andere, Stichwort Gandhi oder Mandela, natürlich zu einer Ikone erstarrt. Fast alle wissen von ihm, aber sehr wenige wissen, für was er stand, und noch weniger lesen ihn. Das war die Überlegung.
Scholl: Sie schreiben in Ihrem Vorwort von dem Abstand, von den mittlerweile ja zwei Generationen, die uns von Martin Luther King und seiner Wirkung trennen. Sie sind selbst Jahrgang 1965, Herr Trojanow. Wann haben Sie denn zum ersten Mal bewusst eine dieser Reden Martin Luther Kings wahrgenommen?

"Zu einer Ikone erstarrt"

Trojanow: Ich war auf einem englischsprachigen Internat, und da hat uns, ich glaube, der Englischlehrer mal eine Rede vorgespielt. Das war sehr protestantisch, das Internat, und natürlich kommt Martin Luther King auch ganz stark aus einer Tradition der biblische Rhetorik. Und der kleine Ausschnitt, wir haben es ja gerade gehört, das ist ja nicht nur kämpferisch, sondern auch salbungsvoll, oft pathetisch, aber von einer unglaublich mitreißenden Energie. Ich kann mich erinnern, ich habe damals Gänsehaut bekommen, als ich das gehört habe.
Scholl: Sie sagen nun, Herr Trojanow, dass man ihn doch sehr verkürzt hätte, in der Rezeption, von seiner Wirkung. Inwiefern??
Trojanow: Die entscheidende Verkürzung ist, dass die meisten Leute ihn nur in Verbindung bringen mit sogenannten Civil Rights, also Bürgerrechte, also Rechte für Minderheiten, für Unterdrückte, marginalisierte Teile der Bevölkerung. Er hat in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend einen universellen Gerechtigkeits- und Gleichheitsanspruch erhoben, hat sich weg bewegt von den reinen Bürgerrechten, weg bewegt auch von dem Protest gegen Vietnam, und eigentlich etwas sehr Modernes, Visionäres, Utopisches fast formuliert, nämlich ein Recht auf Ernährung, ein Recht auf ein Dach überm Kopf, ein Recht auf Gesundheit, das heißt die grundlegenden Rechte, die eigentlich für jeden Menschen auf dieser Welt gesichert sein müssen. Insofern ist sein Protest breiter geworden. Es ist wirklich ein Protest, der die universellen Menschenrechte einfordert und der alle Aspekte des Politischen und Sozialen mitdenkt.
Porträt des des Schriftstellers Ilija Trojanow
Ilija Trojanow hat das Vorwort geschrieben für das Buch "Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen".© picture alliance / dpa/ Christian Charisius
Scholl: Sie sagen, man hätte den Revolutionär, und auch wirklich den Revolutionär, der also wirklich auf Revolution setzt, eigentlich doch mehr unter den Teppich gekehrt. Ist das tatsächlich so?
Trojanow: Na ja, sonst könnten sie nicht einen amerikanischen Feiertag haben, der nach Martin Luther King benannt ist.
Scholl: Okay.
Trojanow: Aber wenn Sie die Reden und seine anderen Texte, auch Interviews teilweise, lesen …
Scholl: Ist er doch schärfer, als man gemeinhin denkt.
Trojanow: Nicht nur viel schärfer, sondern ganz eindeutige Opposition zu dem, was wir inzwischen den neoliberalen, globalisierten Kapitalismus nennen. Die Verwertung des Menschen, das sagt er ja immer wieder, er pocht ja auf Begriffe wie "Würde" und "Freiheit" und die Autonomie des Menschen gegen seine reine Verwertung, seine Reduktion als Produzent oder Konsument. Das sind ganz eindeutige Positionierungen gegen unsere jetzige Gesellschaft, unser jetziges System.

Eine Sprach- und Bilderwelt, die mitreißt

Scholl: Poor People's Campaign, so nannte sich die Bewegung, die er initiiert hat mit seinem sozialen Protest, mit seinem sozialen Engagement. Das ist relativ vergessen worden. Allerdings, mittlerweile gibt es jetzt eine Renaissance. Also, die Poor People's Campaign hat sich wieder formiert in den USA, im Mai soll es erste Aktionen geben. Was würden Sie sagen, Ilija Trojanow, was uns Martin Luther King heute zu sagen hat, was von seinen Ideen, Visionen für unsere Zeit, für unsere politische und gesellschaftliche Situation sich fruchtbar machen lassen? Ist es vor allem diese Poor People's Campaign, also sozusagen dieses Engagement für die Schwachen?
Trojanow: Ich glaube, es hat der Dümmste im Land eingesehen, dass dieses Maß an sozialer Ungleichheit, das wir haben, nicht nur pervers ist, sondern tatsächlich zu enormen Konflikten führen wird. Insofern ist es keine Frage, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit ist neben der Klimakatastrophe das große Thema unserer Zeit, auch der Zukunft. Ich finde aber etwas anderes bei ihm bemerkenswert, nämlich das Narrativ. Wir haben in letzter Zeit als progressiv denkende, um Emanzipation bemühte Mitbürgerinnen und Mitbürger das Narrativ, sozusagen die spannenden, die packenden, die emotional anrührenden Geschichten den Rechten, den extrem Rechten überlassen. Und bei Martin Luther King hat man das, dass es tatsächlich eine Geschichte ist, natürlich ganz stark geprägt von dieser schon erwähnten biblischen Sprach- und Bilderwelt, die einen mitreißt. Das heißt sozusagen, die Fähigkeit, eher trockene, eher vielleicht philosophische, eher grundsätzliche Überlegungen zu übersetzen in etwas, was der Literatur natürlich, also insofern meiner täglichen Arbeit entspricht, nämlich eine Sprache und eine imaginäre Welt, die den Weg weist, die Leute mitreißen kann. Und das konnte Martin Luther King auf unglaublich gute Weise.
Scholl: "Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen." So heißt der Band mit Reden von Martin Luther King, erschienen in der Edition Nautilus, mit 112 Seiten zum Preis von 24 Euro. Ilija Trojanow hat das Vorwort geschrieben. Ich danke Ihnen sehr, Herr Trojanow, für unser Gespräch!
Trojanow: Danke, schönen Tag noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema