Sprecher*innen: Tini von Poser, Christiane Guth, Gilles Chevalier
Regie: Clarisse Cossais
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Carsten Burtke
Illegale Adoptionen
"Ich weiß nicht mal meinen richtigen Namen." Unvollständige oder gefälschte Adoptionspapiere erschweren die Suche nach den leiblichen Eltern. © Getty Images / bbstudio_aad
Chiles gestohlene Kinder
29:56 Minuten
Sie lebten in Kinderheimen oder wurden den Müttern gleich nach der Geburt weggenommen: 20.000 chilenische Kinder wurden in den 70er- und 80er-Jahren nach Europa adoptiert, größtenteils illegal. Für die Opfer sind die Folgen traumatisch, bis heute.
„Meine Adoptivmutter und mein Vater hatten mir gesagt, dass meine leibliche Mutter mich angeblich im Krankenhaus liegen gelassen hat und nach Argentinien abgehauen ist“, berichtet Ruth Corinna Stein. „Dann wurde ich in verschiedene Pflegefamilien gebracht, wurde ins Kinderheim in La Unión gesteckt, von dort bin ich dann adoptiert worden.“
Der Ort, in dem Ruth Corinna Stein lebt, wirkt wie ein Paradox zu ihrer Geschichte: Das nordhessische Homberg (Efze) ist Idylle pur. Eine sanfte, hügelige Landschaft ummantelt die gut erhaltene mittelalterliche Kleinstadt, in der sich Fachwerkhäuschen aneinanderreihen.
Die heute 36-Jährige lässt sich bei ihrem zweiten Vornamen Corinna nennen. Dunkle lange Haar umrahmen ihr freundliches Gesicht. Mit drei Jahren ist sie aus Süd-Chile adoptiert worden. Das erfuhr sie als Sechsjährige von ihrem Adoptivvater, erinnert sie sich. „Wir saßen in seinem Büro oder in ihrem Büro, auf jeden Fall saßen wir in so einem Zimmer, und da hat er mir auf einmal gesagt: Hör mal zu, wir sind nicht deine richtigen Eltern, da gibt es deine leibliche Mutter, die dich nicht wollte, und mehr weiß ich nicht. Ich habe mir so gedacht, sie waren weiß gewesen, ich war immer so ganz braun, und die Leute haben immer hinterfragt, wer ist denn deine Mama und dein Papa. Und dann hat irgendwer einmal einen dummen Spruch gebracht, von wegen, du gehörst gar nicht hierher.“
Mit sieben Jahren nach Deutschland gebracht
Neben Corinna am Küchentisch sitzt ihr etwa gleichaltriger Freund. Gonzalo Ruppert ist ebenfalls adoptiert – aus Bolivien. Das Gespräch findet in seiner Wohnung statt. An der Wand hängt eine riesige bolivianische Flagge. Ihr gemeinsames Schicksal habe sie zusammengebracht, sind die beiden sich einig.
Über seine ersten Lebensjahre weiß Gonzalo genauso wie Corinna sehr wenig. Nur, dass er wie sie im Kinderheim war, in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen ist, "und man mich zwei Jahre jünger gemacht hat und ich so aus Bolivien rauskommen konnte“.
Vermutlich durfte das Kinderheim in La Paz Kinder nur bis fünf Jahren ins Ausland vermitteln. Daher hat man Gonzalo zwei Jahre jünger gemacht. Er zeigt auf seine vernarbten, klein gewachsenen Hände. „Als ich nach Deutschland gekommen bin, bin ich in die Klinik gekommen, weil meine Hände und meine Füße so eingeklemmt waren." Dann sei er operiert worden. Hier sehe man noch die Narben an den Händen und an den Füßen. "Ich wurde in zu kleine Schuhe gesteckt.“
"Ich weiß nicht mal, wie ich richtig heiße"
Der Arzt in Deutschland konnte an Gonzalos Knochen feststellen, dass er zwei Jahre älter war als in seinen Dokumenten angegeben. Das heißt, er müsste heute 38 statt 36 Jahre alt sein. Sein bolivianischer Name Gonzalo Lenares ist ihm wahrscheinlich im Kinderheim gegeben worden.
Aus seinen Dokumenten geht nicht der geringste Hinweis auf seine Herkunft hervor. „Ich weiß nicht mal, wie ich richtig heiße", sagt Gonzalo.
Corinna hatte mehr Hinweise über ihre Herkunft in ihren Papieren und ist ihnen nachgegangen. Auf der Geburtsurkunde steht zumindest der Name ihrer Mutter. Doch etwas Grundsätzliches fehlt auch in ihren Unterlagen: die Freigabe ihrer Mutter zur Adoption.
Bevor Corinna alt genug war, sich selbst auf die Suche nach ihren Wurzeln zu machen, musste sie bei ihren Adoptiveltern eine schreckliche Kindheit durchleben. „Frau Stein ist alkoholkrank und war in der Zeit, in der ich da gelebt habe, in drei Entzugskliniken gewesen", erzählt sie. Ihr Vater sei, als sie sieben Jahre alt war, an Krebs erkrankt und sehr schnell verstorben. "Danach ging es nur noch bergab. Sie hat getrunken, ich habe Schläge bekommen, ich wurde eingesperrt und wie ein Hund behandelt.“
Über "Bitte melde dich!" fand sie ihre Familie
Mit zehn, elf Jahren ist Corinna dann in ein Kinderheim nach Frankfurt am Main gekommen, zwei Jahre später in eine Pflegefamilie. Auch da habe sie sich fehl am Platz gefühlt, sagt sie: „Weil ich schon so viel durchmachen musste. Da sind ja auch noch ihre leiblichen Kinder da gewesen. Mir hat Wärme und Nähe gefehlt.“
Im Gegensatz zu ihrer Adoptivfamilie unterstützte die Pflegefamilie Corinna bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern. Erste Spuren verliefen im Sand. 2018 startete Corinna einen neuen Versuch und bewarb sich bei der SAT1-Sendung „Bitte melde Dich!“. Moderatorin Julia Leischik sucht hier vor laufender Kamera vermisste oder verlorene Angehörige.
2019 flog Corinna mit dem Filmteam nach Chile, das sie tatsächlich zu ihrer leiblichen Familie führte. „Du siehst die ganzen Landsleute und denkst: Hier gehörst du hin." Sie habe sich gleich heimisch gefühlt, sagt Corinna. „Das Land ist total überwältigend, sogar die kleinste Ameise war für mich überwältigend.“
Gefühlschaos beim Treffen mit der Familie
Von Santiago fuhren sie mit dem Bus vier bis fünf Stunden in den Süden, nach Empedrado, eine Gemeinde nahe der Stadt Talca. Corinna erinnert sich an den dörflichen Charakter des Ortes, an sandige Straßen und streunende Hunde.
Die Großfamilie traf sich dort im Haus ihrer Mutter: ihr Bruder, ihre Halbschwester und ihr Halbbruder, ihre Mutter und weitere Verwandte. "Es war alles durcheinander. Ich wusste gar nicht, was ich fühlen sollte. Ich war überwältigt. Ich hätte heulen können, ich hätte lachen können. Ich war anfangs starr wie eine Salzsäule, dann Umarmung, Heulen, Gefühlschaos pur.“
Corinna verständigte sich mit Händen und Füßen mit ihrer wiedergefundenen Familie, denn Spanisch kann sie bisher nicht. Ihr Aufenthalt in Chile dauerte drei Tage.
Falsche und unvollständige Papiere
Gonzalo atmet schwer, während Corinna ihre Geschichte erzählt. Bei seinen falschen und unvollständigen Papieren weiß selbst ein Sat1-Rechercheteam nicht, wo es ansetzen soll, seine leibliche Familie in Bolivien zu suchen. „Ich war 2010 in Bolivien mit einem Freund und war auch in meinem ehemaligen Kinderheim Fatima La Paz. Einfach nur, um zu gucken, wie es da ist, ob sich da was geändert hat in den letzten 20 Jahren“, sagt Gonzalo. „Der Speisesaal steht noch, und der eine Baum, den es da gab, steht noch. Der Rest ist alles weg. Da steht jetzt etwas Neues.“
Die Menschen, die ihn als Kind dort betreuten, waren gestorben oder nicht mehr auffindbar. Gonzalo möchte seine Suche fortsetzen, aber weiß noch nicht, wie.
Corinna ist weiter in Kontakt mit ihren Geschwistern und würde gern bald wieder nach Chile reisen, und dann für mehrere Wochen. Denn weiter quälen sie die offenen Fragen, die sie während ihres ersten kurzen Aufenthalts nicht klären konnte: „Warum bin ich adoptiert worden? Warum durften meine Geschwister in Chile bleiben? Warum bin ich hier in Deutschland? Das ist meine Hauptfrage, weil ich das eigentlich nicht verstehe, wie das passieren konnte, wie ich überhaupt hierhergekommen bin. Sie ist meine Mutter und hätte das alles unterschreiben müssen, auch einverstanden sein müssen, dass ich hierherkomme. War sie ja anscheinend nicht.“
Die leiblichen Mütter wurden belogen
Camila Schwarz ist aus Chile in die Schweiz adoptiert worden. Die 35-Jährige lebt heute in Neuenegg bei Bern. Behände bewegt sie ihren Rollstuhl. „Ich bin mit Spina Bifida auf die Welt gekommen“, sagt Camila. „Das kommt vor allem vor, wenn die Mutter während der Schwangerschaft zu wenig Folsäure genommen hat, und das gibt es bei Unterernährung eigentlich immer."
Viele Kinder in Chile hätten mit Spina Bifida zu kämpfen. Je nachdem, an welchem Lendenwirbel man es hat, könnten manche mit Gehhilfe laufen, andere seien vom Hals abwärts gelähmt. "Die können nichts machen außer sprechen. Ich bin so in der Mitte. Ich habe eigentlich sehr viel Glück, muss ich sagen.“
Camila lächelt optimistisch. Stolz zeigt sie die großen Tätowierungen auf ihren Armen. Auf dem einen Oberarm steht „Music was my first love“. Dieses Lied von John Miles gibt ihr Kraft, sich durchzuschlagen, sagt sie. Der andere Oberarm zeigt einen kleinen und einen großen Kolibri eng beieinander. Die Vogelart ist in Chile weit verbreitet. Sie stellen Mutter und Tochter dar, erklärt Camila.
Wie Corinna konnte Camila ihre Familie in Chile ausfindig machen. Seitdem weiß sie mit Sicherheit, dass ihre leibliche Mutter sie definitiv nicht zur Adoption freigeben wollte. „Man hat ihr gesagt, dass ich nach der Geburt verstorben sei. Man hat sie angelogen“, berichtet Camila, "und sie hat gesagt, sie hatte immer das Gefühl, dass ich noch lebe, dass ich noch da bin, denn sie bekam nie meine Leiche zurück.“
Camila ist in der Nähe von Valdivia, etwa 850 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago zur Welt gekommen, im Santa-Eliza-Spital. "Dieses Spital ist nicht sehr beliebt, wegen Korruption und schlechter Pflege et cetera.“
Erst mit vier Jahren ist Camila dann in die Schweiz adoptiert worden. Was mit ihr in den ersten Lebensjahren passierte oder wo sie sich befand, ist für sie wie ein großes, schwarzes Loch. „Ich kam zuerst nach Basel zu einer Familie. Als sie gesagt haben, das gehe nicht, ich prügele mich mit ihrem Sohn, kam ich zu einer Pflegefamilie nach Kloten in Zürich. Die vermittelten mich dann an die Familie Schwarz.“
Als sie mit viereinhalb Jahren zu ihren Adoptiveltern nach Herrliberg am Zürichsee kam, konnte Camila noch kein Deutsch: „Aber ich wollte auch nicht mehr Spanisch reden. Denn man hat mir gesagt, wenn ich nicht Deutsch lerne, müsste ich wieder zurück nach Chile in ein Heim. Aber ich konnte noch kein Deutsch, also habe ich nicht geredet.“
Als einzige Ausländerin im Dorf gemobbt
Neuenegg ist ein überschaubares Örtchen mit bauklotzartigen Gebäuden. Camila flaniert gerne mit ihrem Rollstuhl den grünen Weg an der Sense entlang, der im Süden der Gemeinde angrenzt. Am Horizont des über Steine und Felsen plätschernden Flusses erheben sich bewaldete Berge.
Wie in sich gekehrt erzählt Camila von ihrem Leben bei ihren Adoptiveltern. Die hätten sich eigentlich sehr bemüht. "Meine Mutter hat viel gebastelt. Aber für mich war das sehr oberflächlich. Ich konnte ihnen irgendwie nie sagen, ich habe dich lieb. In der Schule wurde ich gemobbt, weil ich damals die einzige Ausländerin im Dorf war.“
Ihre Adoptiveltern hatten ihr versprochen, mit ihr nach Chile zu reisen, wenn sie ihre Lehre zur Kaufmännischen Angestellten bestünde. „Ich bin gleich nach der Lehre ausgezogen nach Bern. Ich habe schon mit 21 geheiratet." Die Eltern zahlen die Hochzeit. "Ich habe noch gedacht: Warum? Ich kann das eigentlich selbst bezahlen. Dann fragte ich mal, wann gehen wir nach Chile. Und da haben sie gesagt: Du, wir haben dir die Hochzeit bezahlt, es gibt keine Reise mehr nach Chile. Das konnte ich ihnen nie verzeihen.“
Über Facebook fand Camila ihre Familie
Mit dem Mann, den Camila heiratete, hielt die Bindung nicht lange. Das habe das Fass zum Überlaufen gebracht. "Ich wurde wieder verlassen. Mein ganzes bisheriges Leben wurde ich immer wieder verlassen. Niemand wollte mich. Dann kam ich auch in die Psychiatrie.“
Zurück in ihrer barrierefreien Neubauwohnung öffnet Camila die Balkontür. Würzig-frische Regenluft weht hinein. Camila erzählt, wie sie ihre Krise überwand und neuen Mut fasste, nach ihrer leiblichen Familie in Chile zu suchen. „Eine Kollegin, die viel in Südamerika reist, konnte relativ gut Spanisch." Camila herzählte ihr, dass das Jugendamt ihr wenig helfe. "Aber in Südamerika hat jeder Facebook. Dann habe ich ihr ein paar Angaben gegeben, die sie ins Spanische übersetzt hat. Ihre Kollegin in Chile hat es dann überall auf Seiten in Facebook in Chile gepostet, auch auf Verkaufsseiten.“
Vom biologischen Vater fehlt jede Spur
Nach kurzer Zeit meldete sich tatsächlich eine ihrer Schwestern. Sie telefonierten per Video, und 2018 flog Camila das erste Mal nach Chile. In San José de Mariquina im Süden des Landes traf sie auf ihre riesige Herkunftsfamilie. „Sie waren wirklich sehr süß und haben ein Fest für mich organisiert und mit mir Ausflüge gemacht. Zum Schluss kamen dann alle an den Flughafen.“
Wie bei Corinna fehlt von Camilas biologischem Vater jede Spur. Die Familie hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Ein Jahr später flog Camila wieder nach Chile. Während ihr Verhältnis zu ihrer leiblichen Mutter etwas distanziert bleibt, ist sie mit ihrem Halbbruder Francisco fast täglich in Kontakt, sagt sie strahlend. „Er weiß einfach alles von mir und interessiert sich auch für mich." Ähnlich sei es mit ihrem leiblichen Bruder. "Ich schreibe am meisten mit meinen Brüdern. Sie würden alles für mich machen.“
Zwischen zwei Welten
Camila erzählt von ihrer bewussten Entscheidung, das restliche Leben, das ihr bleibt, zu genießen. Ihre Lähmung nimmt stetig zu. „Die Ärzte haben gesagt, es kann sehr schnell vorangehen. Irgendwann werde ich mal bettlägerig sein. Aber deshalb genieße ich auch noch die Zeit mit meinen Geschwistern, solange ich kann.“
Auf der anderen Seite ist Camila dankbar, dass sie mit ihrer Behinderung in der Schweiz lebt. Chile sei kein Land für Rollstuhlfahrer. „Ich könnte nicht Auto fahren. Ich hätte keine richtige Ausbildung. Ich hätte keine normale Arbeit. Ich hätte keine Sozialversicherung. Ich hätte keine eigene Wohnung. Ich würde in einem Heim vegetieren. In der Schweiz ist es super, aber in Chile ist es auch schön, da ist meine Seele geblieben.“
So richtig zu Hause fühlt sich Camila nirgendwo, sondern irgendwie hin- und hergerissen zwischen den Welten. „Meine Adoptivfamilie liebt mich anders als meine eigene Familie. Als ich in Chile war, habe ich geheult vor Freude. Sie lieben mich wirklich mega." In der Schweiz sei es etwas anderes. "Sie mögen mich zwar, aber ich bin nicht das Eigene. Auch von meinen Cousins und Cousinen höre ich eigentlich nichts hier in der Schweiz, aber aus Chile regelmäßig. Das war schön, sich das erste Mal richtig geliebt zu fühlen.“
Gern wäre Camila schon längst wieder nach Chile gereist. Doch die Coronapandemie macht ihr zurzeit einen Strich durch die Rechnung. Zu ihren Adoptiveltern hat sie nur noch sporadisch Kontakt.
„Meine Adoptivmutter fiel aus allen Wolken, dass die Adoption nicht sauber abgelaufen ist“, sagt Camila. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Adoptivmutter meint, ich werfe ihr vor, dass das nicht korrekt abgelaufen ist. Aber sie war ja die dritte Familie. Sie kann am wenigsten etwas dafür. Wenn, dann wären das die ersten zwei gewesen.“
Wer dafür verantwortlich ist, sie als Baby aus dem Krankenhaus zu stehlen und zur Adoption zu vermitteln, weiß Camila bis heute nicht. Während der Suche nach ihrer leiblichen Familie hat sich Camila auch an die Organisation Chilean Adoptees Worldwide (CAW) gewendet. Die Organisation hat sich 2018 mit dem Ziel gegründet, chilenischen Adoptierten in Europa dabei zu helfen, ihre leiblichen Familien zu finden.
Die drei Gründungsmitglieder von CAW sind selbst Adoptierte aus Chile: Alejandro Quezada wurde in die Niederlande adoptiert, Jessica Pinchera nach Belgien und María Angélica Stodart nach Schweden. Etwa einmal im Monat treffen sich die drei in Alejandros Arbeitszimmer südlich von Amsterdam, um sich über ihre Ergebnisse auszutauschen.
"Nur ein Prozent der Fälle ist legal abgelaufen"
María Angélica zeigt auf die lange Liste der chilenischen Adoptierten, die ihre Eltern suchen. Ohne Namen zu nennen, denn Datenschutz hat oberste Priorität. Annähernd 500 Personen haben sich bisher an die Organisation gewandt. Doch sie geht von rund 20.000 chilenischen Kindern aus, die zwischen Mitte der 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre ins Ausland adoptiert wurden. „Nur ein Prozent der Fälle, die wir bearbeiten, ist legal abgelaufen, oder es handelt sich um eine Adoption, die noch in Chile vollzogen worden ist. Wir haben jetzt zwei oder drei Fälle gefunden, bei denen die Adoptiveltern sogar an dem illegalen Prozess beteiligt waren. Aber die meisten Adoptiveltern hatten keine Ahnung.“
Wie Camila weiß Alejandro inzwischen mit Gewissheit, dass er seiner Mutter aus dem Krankenhaus in Paillaco im Süden Chiles gestohlen wurde. Um diese Gewissheit zu erlangen, hat der heute 42-Jährige fließend Spanisch gelernt und ist mehrmals nach Chile geflogen.
2014 zog er für fünf Jahre dorthin. „Ich wollte alles erforschen, was mit meiner Adoption zu tun hatte und wer involviert war“, sagt er. „Ich war wirklich bereit, das Land auf den Kopf zu stellen, um zu erfahren, wer die Verantwortlichen in meinem Fall waren.“
Armen Familien wurden Kinder weggenommen
Er fand heraus, dass eine holländische Nonne, die heute wieder in den Niederlanden lebt, dabei mitgewirkt hat, viele Babys ihren Müttern zu entwenden und sie für die Adoption ins Ausland zu vermitteln.
Über ihre Motive ist sich Alejandro bis heute unklar. Die Sozialarbeiterin, die auch bei seinem Raub mitgeholfen hat, habe gut daran verdient, ergab seine Nachforschung. „Das ganze öffentliche System war involviert: Krankenhäuser, Notare, Rechtsanwälte, Richter. Das öffentliche System, das eigentlich dazu da ist, Menschen zu schützen, klaute Kinder und schickte sie ins Ausland.“
Die chilenische Presse wurde auf Alejandros Fall aufmerksam. 2016 erschien die erste erschütternde Reportage in Tele 13, einem chilenischen Fernsehkanal. In der Reportage erscheint auch Alejandros leibliche Mutter, die sagt: „Für mich ist es sehr schmerzhaft, diese Geschichte zu erzählen. Ich bin Mama von fünf Kindern, doch eines ist für tot erklärt worden, mein erstes Kind.“
Viele Babys wurden für tot erklärt
Gerade im ländlichen Bereich im Süden Chiles seien zahlreiche Babys für tot erklärt worden, beruft sich Alejandro auf die Studie einer chilenischen Historikerin. Auffällig ist, dass die Kinder oft armen Familien weggenommen wurden, auch Mapuche-Familien, der indigenen Bevölkerung Chiles. Wahrscheinlich, weil diese Familien im Zweifelsfall nicht die Mittel hatten, sich zu wehren.
In Chile sucht die Partnerorganisation von CAW, „Nos Buscamos“ – auf Deutsch „Wir suchen uns“ – nach leiblichen Familien von Adoptierten. Die 20 freiwilligen Helfer von „Nos Buscamos“ haben Kontakt zu Politik und Justiz aufgenommen, um die Aufarbeitung der illegalen Adoptionen voranzutreiben.
Folter, Mord, Menschen verschwinden lassen, das stand auf der Tagesordnung der Diktatur von Augusto Pinochet zwischen 1973 und 1990. Illegale oder irreguläre Adoptionen ins Ausland gab es auch vor und nach der Diktatur, doch sie erreichten während dieser Zeit ihren Höhepunkt.
Heute ist es wegen der schärferen Gesetze nicht mehr so leicht, ein chilenisches Kind ins Ausland zu adoptieren. Doch die Aufarbeitung der illegalen Auslandsadoptionen steckt noch in den Kinderschuhen. Keiner der am Kindesraub Beteiligten sitzt bisher im Gefängnis.
Und die Aufnahmeländer? Gemessen an der Bevölkerungszahl seien die Niederlande, Schweden und Belgien die Länder in Europa, die die meisten Kinder aus dem Ausland adoptiert haben, vermutet Maria Holz. Sie hat lange beim Kinderhilfswerk „terre des hommes“ in Osnabrück bei der Adoptionsvermittlung gearbeitet. Heute ist sie pensioniert.
Über das staatlich anerkannte Hilfswerk sind zwischen 1967 und 1997 knapp 3000 Kinder vermittelt worden. Die ersten Kinder kamen damals aus Vietnam. Doch die meisten Adoptionen geschahen nicht über offizielle Wege, sagt Holz. „Da sind Chile, Kolumbien, Peru. Nicht jede Privatadoption ist illegal. Viele sind auch regulär gelaufen. Aber im Grunde konnte man das hier gar nicht mehr nachvollziehen, ob nicht Papiere gefälscht waren. Welcher deutsche Richter kann denn erkennen, ob die chilenische Geburtsurkunde eine richtige ist oder nicht?“
Erst seit 2001 gibt es ein Register der Auslandsadoptionen
Zahlen über Auslandsadoptionen lassen sich auch im Nachhinein schlecht ermitteln, weil viele Adoptionsstellen erst seit 2001 ein Register führen. Maria Holz hat noch lange in der Nachbegleitung der Adoptierten gearbeitet, Treffen organisiert sowie Reisen in die Herkunftsländer:.
„In den Anfängen von Auslandsadoptionen war niemand drauf vorbereitet, dass diese Kinder mal anfangen, ihre Wurzeln zu suchen", sagt sie. "Es wurde ja immer davon ausgegangen, die Kinder sind jetzt aus dem Elend raus, die bekommen Liebe, die bekommen eine Familie. Die bekommen genau das, was ein Kind braucht, und von daher ist es gut.“
Ende Oktober 2021 hat CAW zu einer ersten internationalen Zoom-Konferenz eingeladen. Teilgenommen haben auch Politiker aus Schweden, Dänemark und Belgien. „Es ist ein riesiger Skandal, der passiert ist, und für mich liegt hier eine Verletzung der Menschenrechte vor", sagt die dänische Lokalpolitikerin Christina Birkemose in der Konferenz. "Wir müssen das Thema dieser Adoptionen ins europäische Parlament bringen. Wir müssen Verantwortung dafür übernehmen, die Identität der chilenischen Adoptierten zu finden, für die, die das wollen. Denn wir haben geschehen lassen, was geschehen ist. Ich bin absolut pro Adoptionen. Aber nur, wenn sie legal abläuft. Wenn irgendwelche Irregularitäten vorliegen, dann ist das für mich keine Adoption, sondern Menschenhandel, und ich bin gegen Menschenhandel.“
Seit 2021 sind Privatadoptionen verboten
Auf die Frage ans Familienministerium, ob sich Deutschland auf europäischer Ebene irgendwie dem Thema annimmt, schrieb eine Sprecherin:
„Das Thema der Auslandsadoptionen wird derzeit auf europäischer Ebene nicht behandelt. Es gibt jedenfalls keine Gremien, an denen die Regierungen der europäischen Staaten beteiligt sind, in denen solche Fragen derzeit auf der Tagesordnung stünden. Auch gibt es naturgemäß einen Austausch zu Fragen der Praxis unter dem Haager Adoptionsübereinkommen. Dies geschieht jedoch nicht auf Regierungsebene und nicht mit einer Beteiligung deutscher Politiker oder Politikerinnen.“
Seit dem 1. April 2021 sind immerhin sogenannte Privatadoptionen in Deutschland verboten. Die Niederlande haben Auslandsadoptionen völlig eingestellt. Natürlich lassen sich Menschenhändler auch durch Gesetze nicht abhalten. Eine Verschärfung der Gesetze ist das eine, die Frage der Verantwortung, der Nachsorge eine andere.
Für Alejandro Quezada sowie für die anderen Mitglieder von CAW, Jessica und María Angélica, war es existenziell, ihre Herkunft aufzuspüren. Alejandro wollte zwischenzeitlich nicht mehr leben, sagt er rückblickend. „Wir sehen an den Personen, denen wir helfen, dass 75 bis 80 Prozent psychisch irgendwie geschädigt sind. Es gibt keine adäquate Unterstützung für sie. So etwas existiert nicht.“
Leben die Eltern noch oder nicht?
Bei Corinna und Gonzalo kommen neben der Entwurzelung und der offenen Fragen bezüglich ihrer Identität noch die Gewalterfahrungen in ihren Adoptivfamilien hinzu. Sie sind auf professionelle Hilfe angewiesen.
Durch Corinnas Leben zieht sich die Gewalt wie ein roter Faden. Die Väter ihrer ersten beiden Kinder waren gewalttätig. Das dritte stammt aus einer Vergewaltigung. „Ich war oft traurig und habe mich dann auch selbst verletzt, weil ich damit nicht klarkam“, sagt sie. Geholfen hat ihr, dass sie ihre Tochter bekam: „Das war für mich mein Baby, da ist jemand, der mich braucht, der mich liebhat, der ohne Wenn und Aber liebt. Das ist das Tollste, was mir passieren konnte.“
Dass Gonzalo keine Ahnung hat, wer seine Eltern waren, ist für ihn kaum zu ertragen: „Es lässt mich nicht los. Wenn ich weiß, sie leben: okay. Oder wenn sie nicht leben, dann kann ich auch damit abschließen. Dann ist das Thema gegessen. Aber solange das nicht ist, nagt das an mir.“
Gonzalo muss das Interview irgendwann abbrechen, weil er so sehr zu zittern beginnt. Corinna wünscht sich für die Zukunft in erster Linie, wieder psychisch gesund zu werden: „Und zweitens mit meiner Familie mehr Kontakt zu haben, sodass wir uns öfters sehen, dass meine Kinder meine Familie und meine Kultur kennenlernen.“