Ilma Rakusa: "Kein Tag ohne"
© Droschl
Im Hier und Jetzt aufgehen
06:14 Minuten
Ilma Rakusa
Kein Tag ohneDroschl, Graz und Wien 2022246 Seiten
23,00 Euro
Roter Alarm und Fake-News-Sagen: Die Schweizer Autorin Ilma Rakusa reflektiert in Gedichten die Coronazeit. Ihr lyrisches Journal kennt nicht nur Augenblicksbilder, sondern auch den politischen Kommentar.
Warum ist die Erde krumm? Warum der Alarm rot und der Iglu weiß? Und der Elefant? Sitzt das Elfenbein im Fuß oder im Zahn? Und wie kommt es zum Klavier? Der kleine Junge könnte pausenlos so weiterfragen. „Das melodische Warum meines Enkels“ hat Ilma Rakusa ihr Gedicht genannt. Und der Titel trifft. Wie musikalische Motive durchziehen die Fragen und Ideen des Kindes ihren neuen Lyrikband.
Lichtblicke in pandemischen Zeiten
Der Enkel ist einer der wenigen Lichtblicke für die Dichterin während der harten pandemischen Zeit. Es sind nicht die Monate des ersten Lockdowns, der bei vielen noch von der Hoffnung auf einen Neuanfang getragen wird, sondern es handelt sich um die Zeit danach, als nach einem kurzen Sommer des Aufatmens die Fallzahlen wieder steigen.
Zugleich zerbrechen in Belarus die Chancen auf einen demokratischen Wechsel. Nachrichten und Internet sind voll von „Fake-News-Sagen“ und Berichten über Anschläge. Da beschließt Rakusa, der Zeit mit Gedichten zu antworten. Genauer: für jeden Tag ein Gedicht. Was nicht ganz stimmt, es gibt immer wieder kleinere Pausen, dafür auch Tage, an denen sie gleich zwei oder drei Gedichte schreibt.
Fürsorge gegen die Einsamkeit
So ist eine Art lyrisches Journal entstanden, das innere und äußere Reisen genauso umfasst wie Traumbilder oder Kommentare zum politischen Geschehen. Rakusa folgt den Jahreszeiten, beobachtet Veränderungen des Wetters und der Landschaft, aber auch die Schwingungen des Gemüts.
Dabei wird der kleine Enkel nicht nur ein wichtiger Bild- und Motivspender – seine Neugier und seine Fantasie sind der Schreibenden zugleich Vorbild für das eigene Tun. Auch sie kennt das „gierige Auge / das wandert und ruht“.
Gegen die Bilder von Gräueltaten und Krankenzimmern und gegen das Alleinsein entwickelt sie eine eigene Art von Aufmerksamkeit: Fürsorge und die Fähigkeit, im Hier und Jetzt aufzugehen. Kleine Dinge aus der Vergangenheit (ein Granatapfel aus Teheran, eine Fellmütze aus Sibirien), die Beobachtung von Blüten und Insekten oder einfach Momente der Stille werden nun wichtig – „aus solchen Winzigkeiten / sind die Tage gemacht / wenn man sie beachtet“, heißt es einmal.
Vereinnahmt von der Weltlage
Natürlich wendet sich das journalhafte Schreiben auch der „Weltlage“ zu, bis hin zu den Vorboten des russischen Angriffs auf die Ukraine. Hier fehlt aber die Euphorie des Moments. Eher sind es Emotionen wie Schock und Ablehnung, die noch keinen Abstand zu den Ereignissen zulassen.
Anders als in den Landschaftsskizzen wird der Eindruck nicht in eine eigene Form eingeschmolzen, sondern an die naheliegenden Fernsehbilder und Schlagzeilen rückgebunden. Oder einfach nur benannt. Das führt zu einem eher aussagenbetonten, bisweilen moralisierenden Sprechen, das von Formulierungen wie „wo bleibt die Menschlichkeit“ oder „keine Zukunft für Kinder“ lebt.
Am stärksten ist Ilma Rakusa dort, wo sie mit Reimen und Halbreimen spielt und ihre Verse mithilfe von rhythmischen Verschiebungen und Farbnuancen gestaltet. Oder sich auf die Stimmen anderer Schreibender bezieht, Ilse Aichinger etwa oder Serhij Zhadan: „Kleist Moos Fasane / wieder folge ich ihren Schlängelpfaden“. An solchen Stellen setzt das Singen und Sprechen die Dinge erst ins Licht. Und man folgt mit großer Neugier Ilma Rakusas Bildverwandlungen.