"Die lyrische Form ist mir die liebste"
12:31 Minuten
In "Mein Alphabet" eröffnet Ilma Rakusa Einblicke in ihre Welt als Dichterin. Das sei zum Teil sehr persönlich, man könne das durchaus autobiografisch lesen - auch der Austausch mit anderen Autoren und Autorinnen sei in dem Buch spürbar.
Andrea Gerk: Ilma Rakusa ist Schriftstellerin, Lyrikerin, Übersetzerin und Kritikerin. Sie kam 1946 in der Slowakei zur Welt, lebt seit ihrer Kindheit in Zürich, beherrscht zahlreiche Sprachen und ist eine geborene Kosmopolitin und Europäerin, so die Jury des Kleist-Preises, den sie in diesem Jahr erhält, eine weitere Auszeichnung, die ihr Werk begleitet.
Jetzt ist ein neues Buch von Ilma Rakusa erschienen. "Mein Alphabet" ist der Titel. Es ist so vielschichtig und vielfältig wie das facettenreiche Werk und Leben der Autorin.
Das Alphabet ist das Grundgerüst unserer Sprache, also ein ganz allgemeines System. Sie machen schon im Titel klar, das ist Ihr Alphabet, und das reicht von "Anders" heißt der erste Paragraf über "Pantoffeln" bis zu "Wort" oder "Zaun". Wie ist denn diese Aneignung vonstattengegangen?
Rakusa: Ich hatte große Lust, mit einem Alphabet zu arbeiten und nicht nur jeweils einen Eintrag pro Buchstaben zu machen, sondern das dann unterschiedlich zu handhaben, und als ich diese Struktur hatte, wusste ich auch, dass ich mit einer großen Vielfalt operieren kann. Es war mir dabei sehr, sehr wichtig, nicht nur so große Themen wie Alter, Angst, Schönheit, Freundschaft zu behandeln, sondern auch Alltägliches wie Bett, Pantoffeln, Tränen, Zaun oder Haare, Großes neben Kleines zu stellen, aber der Aspekt des Persönlichen war mir sehr wichtig.
Zugleich sollte das Buch auch welthaltig werden, denn auch das ist genauso wichtig, dass das Individuelle und das Universelle sich irgendwie die Hand reichen. Ich habe lange überlegt, welche Begriffe mir wirklich sehr wichtig sind. Da sind aber laufend neue dazugekommen. Noch ganz spät ist der Granatapfel dazugekommen. Insofern ist das Alphabet, mein Alphabet, gewachsen, bis ich dann mal einen Punkt gesetzt habe.
Schlüssige Struktur des Alphabets
Gerk: Das ist nicht nur inhaltlich ungeheuer vielfältig – Sie haben das schon schön dargestellt –, sondern auch formal. Da sind Gedichte drin, aber auch so kleine Erinnerungsminiaturen. Was ich sehr interessant finde, es gibt auch immer wieder Gespräche. Da stehen Fragen, und dann antworten Sie darauf. Wer stellt denn da eigentlich die Fragen?
Rakusa: Es gab tatsächlich ursprünglich eine Gesprächspartnerin, aber ich habe diese Gespräche so stark bearbeitet, verändert, und zum Teil habe ich auch Sachen erfunden, dass es nun einfach offenbleibt.
Gerk: Dass das so vielfältig ist, dass Sie da mit lyrischen Texten arbeiten, mit diesen Prosaminiaturen, mit diesen Gesprächen, was ist so reizvoll an dieser Art von Formenvielfalt für Sie?
Rakusa: Der Abwechslungsreichtum. Ich finde, es entstehen dann ganz andere Dramaturgien, als wenn man nur ein Genre bedient. Einen Gedichtband hätte ich jetzt sowieso nicht gewollt. Mein letztes Buch war ein Gedichtband. Wenn man schon drei Genres bedient oder vier, braucht es eine schlüssige Struktur, die habe ich im Alphabet auch gefunden. Also ohne diese Struktur hätte ich mir das nicht erlaubt, ein dermaßen hybrides Buch zu schreiben.
Äußerungen zu Joghurt und Pasta
Gerk: Es findet sich auch scheinbar ganz Privates, etwa zum Beispiel beim Bett, da erfahren wir, zumindest andeutungsweise, wie Ihr Schlafzimmer aussieht. Oder Sie sprechen auch in einem Artikel über Ihre Migräne, die Sie seit der Kindheit begleitet und befragen sich, wie sich das auf Ihr Schreiben auswirkt. Wie viel zeigen Sie denn da tatsächlich von sich, oder wer ist diejenige, die da spricht?
Rakusa: Ja, das ist zum Teil sehr persönlich. Das darf man durchaus autobiografisch lesen. Ich habe in meinem Buch "Mehr Meer", das 2009 schon erschienen ist, in meinen "Erinnerungspassagen", so heißt das Buch im Untertitel, auch schon sehr persönlich über mein Leben erzählt, aber hier passiert es mit anderen Akzenten und zum Teil vertieft.
Ich habe mich noch nie über Joghurt oder Pasta irgendwie geäußert; das kommt jetzt in diesem Buch zum Beispiel vor. Daneben gibt es Abstrakteres und Allgemeineres, aber auch da ist natürlich mein Zugang zum Thema wichtig. Das würde jeder vielleicht anders lösen. Auch Dichterkollegen sind dabei, Schriftsteller wie Péter Esterázy, Danilo Kiš, Martina Zwetajewa, aber auch Maler. Das gehört alles zu dem Rakusa-Kosmos, würde ich sagen.
Aber ich hoffe natürlich sehr, dass sich die Leser auch selbst zum Teil wiederfinden. Denn es gibt auch Allgemeineres, das jetzt nicht so sehr spezifisch aus nur meinem Erfahrungsfundus schöpft.
Erinnerung spielt eine große Rolle
Gerk: Auf jeden Fall. Man findet sich auch gerade, wenn Sie über sich persönlich schreiben, darin wieder. Das mag auch zutreffen auf die all diese autofiktionalen Texte, über die in den letzten Jahren wieder so vermehrt gesprochen wurde. Sehen Sie sich da auch in dieser Tradition oder eher nicht? Denn Sie haben auch "Mehr Meer" erwähnt, das ist so ein autofiktionales Werk. Wo sehen Sie sich da in dieser Gemengelage?
Rakusa: Man kann sagen, diese letzten Bücher sind tatsächlich autofiktional. Ich habe davor auch einige Erzählungsbände veröffentlicht. Ich mag Erzählungen auch sehr und natürlich Gedichte, die wiederum beides sind. In Gedichten kann man auch sehr persönlich sein, aber man kann auch eine Maske anziehen. In den letzten Jahren, das hat vielleicht auch mit meinem Alter zu tun, wenn man in diesem Alter ist, denkt man auch viel zurück. Das heißt, die Erinnerung spielt eine große Rolle.
Was man schon erfahren und erlebt hat, ist eine ganze Menge, und das mal Revue passieren zu lassen und in einen gewissen Zusammenhang zu stellen und auch Verbindungen, Korrespondenzen herzustellen, das hat mich sehr gereizt, vor allem in den letzten zehn Jahren.
"Das Gedicht ist eine besondere Gattung"
Gerk: Sie haben ja schon als Jugendliche mit den Gedichten angefangen. Mögen Sie die lyrische Form ganz besonders gerne?
Rakusa: Ja, die lyrische Form ist mir, glaube ich, die nächste, vertrauteste, liebste. Das waren die Anfänge, aber ich schreibe heute noch bei jeder Gelegenheit. Wenn es sich aufdrängt – es muss sich aufdrängen –, schreibe ich am liebsten Gedichte.
Das Gedicht ist eine ganz besondere Gattung. Es ist sehr knapp in der Regel, es ist sehr musikalisch, und es ist sehr überraschungsreich. Joseph Brodsky hat mal gesagt, "poetry is the art of the unpredictable", Poesie ist die Kunst des Unvorhersehbaren oder Unvoraussagbaren. Da steckt eine Menge Überraschungspotenzial drin.
Gerk: Wir beide sprechen auch im Rahmen des "Lyriksommers". So nennen wir immer diese Jahreszeit hier im Programm von Deutschlandfunk Kultur, und wir haben ausgemacht, dass Sie uns auch eins Ihrer Gedichte vorlesen, was in "Mein Alphabet" steht.
Rakusa: Ja, ich lese das Gedicht "Heimat".
"Heimat ist jenes bergende Gras,
das Haus dort mit verkrüppeltem Dach,
der Wind, den du isst wie trockenen Staub,
Vater, Mutter, verwehtes Laub,
das Märchenbuch, das nach Honig riecht,
der Mohnkuchen, der Erinnerung wiegt,
das traurige Lied vom verlorenen Hahn,
das Fernweh, das nicht ankommen kann,
der Glanz in den Augen des Freunds,
die Liebe, die nichts bereut,
was du dir selbst bist in schlafloser Nacht
oder unterwegs zwischen Himmel und Schacht,
die Stimme des einzigen Sohns,
ein Vers mit eigenem Ton,
das Gedächtnis, das Tiefen auftut,
der Lichthase in sicherer Hut,
Sommer, Herbst und blauweißer Schnee,
die lachend weinende Zeit, die nicht steht."
das Haus dort mit verkrüppeltem Dach,
der Wind, den du isst wie trockenen Staub,
Vater, Mutter, verwehtes Laub,
das Märchenbuch, das nach Honig riecht,
der Mohnkuchen, der Erinnerung wiegt,
das traurige Lied vom verlorenen Hahn,
das Fernweh, das nicht ankommen kann,
der Glanz in den Augen des Freunds,
die Liebe, die nichts bereut,
was du dir selbst bist in schlafloser Nacht
oder unterwegs zwischen Himmel und Schacht,
die Stimme des einzigen Sohns,
ein Vers mit eigenem Ton,
das Gedächtnis, das Tiefen auftut,
der Lichthase in sicherer Hut,
Sommer, Herbst und blauweißer Schnee,
die lachend weinende Zeit, die nicht steht."
"Wenn ich über Heimat spreche ..."
Gerk: Ilma Rakusa, das Gedicht, "Heimat" heißt es, und die letzte Zeile, die Sie vorgelesen haben, die "lachend weinende Zeit, die nie steht" heißt es da am Ende, um es Vergehen der Zeit geht es auch in einigen anderen Texten in Ihrem Buch, zum Beispiel beginnt das Alphabet mit den Stichworten "Anders", "Angst", "Alter". Sind das auch Themen, die Sie zurzeit besonders beschäftigen?
Rakusa: Ja, das tun sie, aber nicht ausschließlich, aber besonders schon. Das hängt, wie gesagt, auch mit meinem Alter zusammen. Da denkt man über Alter nach. "Anders" vielleicht nicht, das ist ein Begriff, der mein ganzes Leben geprägt hat, weil ich kam in die Schweiz als Einwandererkind und habe mich auch nie so ganz zugehörig gefühlt zur Schweiz.
Überhaupt, ich habe kein Heimatgefühl. Wenn ich über Heimat spreche, spreche ich meistens in der Mehrzahl, Heimaten, und auch in diesem Gedicht sieht man ja, dass ich Heimat ganz anders definiere als üblicherweise, wenn man das vor allem topografisch tut.
Also so ein Zugehörigkeitsgefühl habe ich eigentlich nie gekannt, zu keinem Land, zu keiner Nation - was mich überhaupt nicht stört. Dann ist es eben die Literatur, der Sohn, die Musik, einzelne Gerüche und so weiter, die für mich so etwas wie Heimat ausmachen - oder meine Bibliothek in Zürich und so weiter.
Gerk: Man kriegt den Eindruck, dass vielleicht auch Ihre Dichterkolleginnen und -kollegen so etwas wie Heimat oder zumindest ein großer Freundeskreis sind, die in Ihrem Buch oder in Ihren Büchern überhaupt immer vorkommen. Sie arbeiten auch als Herausgeberin, zurzeit der Werke von Marina Zwetajewa. Ist das so eine Ihrer Lieblingsdichterinnen?
Rakusa: Ja, Marina Zwetajewa ist in der Tat eine meiner Lieblingsdichterinnen. Jetzt beschäftige ich mich sehr intensiv mit ihr. Ein Band dieser vierbändigen Ausgabe ist letztes Jahr erschienen. Der nächste kommt im nächsten Jahr. Es werden vier sehr umfangreiche Bände. Ich bewege mich in diesem Kosmos von Zwetajewa wirklich, als wäre es mein eigener.
Es ist auch zu einer sehr starken, ich würde nicht sagen: Identifizierung gekommen, aber tief im Innern Freundschaft. Ich habe auch Briefe von ihr übersetzt, die wirklich ganz tief in ihr Leben hineinblicken lassen, auch in die Verwerfungen dieses sehr komplizierten Lebens. Da bin ich auf ganz vertrautem Terrain.
Freundschaft über Grenzen hinweg
Gerk: Sie erwähnen auch andere Dichter wie Celan, Mandelstam, Elke Erb oder auch Friederike Mayröcker, um nur einige Namen zu nennen. Ist das ein bisschen Ihre lyrische Familie, die Sie uns da vorstellen?
Rakusa: Ja, das könnte man so sagen. Das sind wirklich Autoren und Autorinnen, mit denen ich sogar zum Teil befreundet bin, wie Elke Erb und Mayröcker, mit Danilo Kiš war ich auch sehr befreundet, solange er lebte. Er ist ja schon 1989 gestorben. Ich habe viel von ihm übersetzt. Ja, das ist Freundschaft im, würde ich sagen, weitesten und besten Sinne des Wortes.
Mir liegt, gerade weil ich kein so Zugehörigkeitsgefühl zu irgendeinem Land habe, ist mir diese Freundschaft und diese Vernetzung über Grenzen hinweg und über Sprachgrenzen hinweg sehr, sehr wichtig. Die Kollegialität, der Austausch, das ist in diesem Buch auch spürbar.
Gerk: Ilma Rakusa, vielleicht mögen Sie uns zum Schluss noch ein Gedicht vorlesen. Dann lauschen wir noch mal Ihrer eigenen lyrischen Stimme.
Rakusa: Ich lese das Gedicht "Tomate".
"Da bin ich zufällig hier,
und die Zäune blühen,
Zeisige schwirren herum, klitzeklein,
und das Glück hat die Form einer Tomate.
Frag nicht, sagt der Mund, sagt die Hand,
frag nicht nach morgen, wenn heute rot ist, tomatenrot,
der Himmel blaut von allein,
die Züge fauchen, ich buddele mich heim."
und die Zäune blühen,
Zeisige schwirren herum, klitzeklein,
und das Glück hat die Form einer Tomate.
Frag nicht, sagt der Mund, sagt die Hand,
frag nicht nach morgen, wenn heute rot ist, tomatenrot,
der Himmel blaut von allein,
die Züge fauchen, ich buddele mich heim."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.