Ilya Kaminsky: „Republik der Taubheit“
Aus dem Englischen von Anja Kampmann
Hanser Verlag
112 Seiten, 22 Euro
Neue politische Lyrik aus den USA
© Hanser Verlag
Vom Krieg in der Heimat
06:55 Minuten
Ilya Kaminsky
Anja Kampmann
Republik der TaubheitHanser, München 2022112 Seiten
22,00 Euro
Beide haben eine Migrationsbiografie. Und beide schreiben über Krieg in ihrem Herkunftsland, der entweder Jahrzehnte zurückliegt oder drängend aktuell in den Nachrichten ist: Ilya Kaminksy und Ocean Vuong veröffentlichen neue, intensive Gedichte.
Politische Lyrik wird oft als heikle Angelegenheit diskutiert. Schreibenden graut es davor, ihre Verse mit einer Tendenz zu versehen und sie so ihrer Vielschichtigkeit zu berauben oder gar vereinnahmen zu lassen. Und Lesende sind schlicht geplagt von zu vielen plakativen Exemplaren.
Aber können Debatten um Migration, Geschlecht in immer mehr Romane und Sachbücher einfließen, während das Weltgeschehen ausgerechnet an Gedichten spurlos vorbeigeht? Natürlich nicht.
Zwei Lyrikstars aus den USA haben neue Bände veröffentlicht, die zeigen, wie politische Gedichte heute klingen können – behutsam wie eindringlich. Bei Ilya Kaminsky und Ocean Vuong ist Politik kein äußerer Zustand, den es literarisch zu sezieren gilt. Machtverhältnisse und Zeitenwenden haben sich vielmehr in ihre Körper eingeschrieben. Beide Dichter emigrierten in Kindheit oder Jugend in die USA. Ihre Gedichte lassen sich kaum losgelöst von dieser Erfahrung lesen.
Taubheit als Barrikade
„Unser Land ist die Bühne“, schreibt der 1977 im sowjetischen Odessa geborene Ilya Kaminsky. Es ist der erste Satz aus seinem narrativen Gedichtzyklus „Republik der Taubheit“ und liest sich wie ein aktueller Kommentar zum Krieg in der Ukraine.
Kaminskys Schauplatz ist die fiktive, belagerte Stadt Vasenka. Kaltblütig wird dort ein tauber Junge während eines Puppentheaterschauspiels von Soldaten erschossen. Aus Protest stellen sich fortan alle Bewohnerinnen und Bewohner von Vasenka taub, kommunizieren nur noch durch selbstdefinierte Gebärden miteinander. Taubheit wird zu ihrer „einzigen Barrikade“. „NIEMAND KANN EUCH HÖREN“, prangt bald an den Toren der Soldatenbaracken.
Glücklich während des Krieges
Ilya Kaminksy findet starke Bilder für unaussprechliche Grausamkeit wie auch für kleines Glück. Seine Sprache mäandert zwischen kritischer Distanz und schuldbehafteter Ambivalenz, mit der er als Ausgewanderter auf seine Heimat im Krieg blickt:
„in der Straße des Geldes in der Stadt des Geldes im Land des Geldes,
unserem großartigen Land des Geldes, lebten wir (vergib uns)
glücklich während des Krieges.“
unserem großartigen Land des Geldes, lebten wir (vergib uns)
glücklich während des Krieges.“
Erinnerungen an die Mutter
Ocean Vuong kennt eine ähnliche Scham. Er, der 1990 im Alter von zwei Jahren zusammen mit mehreren Verwandten aus Vietnam auswanderte, empfindet sie, wenn er sein Volk zuerst als Leichen erinnert, „verstümmelt unter dem Bann des Time-Fotografen“.
Zwar ist sein Gedichtband zuvorderst der Trauer über den Tod seiner Mutter gewidmet, Erinnerungen an ihren Arbeitsalltag:
„Hast die letzten 8,48 $
aus dem Glas gekratzt.
Dein Trinkgeld von einem Tag
im Nagelstudio. Genug
fürn Schuss.“
aus dem Glas gekratzt.
Dein Trinkgeld von einem Tag
im Nagelstudio. Genug
fürn Schuss.“
Doch mischen sich in „Zeit ist eine Mutter“ auch Situationen, in denen er, ihr Sohn, heute mit seiner Migrationsbiografie konfrontiert wird, von einer jungen Frau zum Beispiel, eines Abends auf einem Dach in Brooklyn: „Du bist schon ein Glückspilz. Du bist schwul und außerdem kannst du über den Krieg und so Zeug schreiben. Ich bin nur weiß. [Pause] Ich hab gar nichts. [Lachen, Gläserklirren].“
Insgesamt wirken Voungs Gedichte disparater in diesem Gedichtband, finden wenige verbindende Themen und nicht immer eine schlüssige Form. Manche versanden, wo Kaminsky seine Verse sanft im Griff hat.
Übersetzungen unterschiedlich gelungen
Die qualitativ enorm unterschiedlichen Übersetzungen tragen ihren Teil zu diesem Eindruck bei. Anne-Kristin Mittags Übersetzung drängt manchen Gedichten eine Behäbigkeit auf, die Vuongs rasante Fahrt durch Zeit und Raum, in die eigenen Erinnerungen, durch Poetry Slam und Popkultur im englischsprachigen Original nicht hat.
Daneben brilliert die Übersetzung von Anja Kampmann, selbst Lyrikerin und in engem, mehrjährigen Austausch mit Kaminksy, umso mehr. Es ist auch ihr zu verdanken, dass „Republik der Taubheit“ gerade die politische Lyrik zur Stunde zu sein scheint.
Ocean Vuong: „Zeit ist eine Mutter“
Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Hanser Verlag
112 Seiten, 20 Euro