Im Ausnahmezustand
Der Roman erzählt von einer jungen Mutter, deren Kind bereits im sechsten Monat zur Welt kommt. Die neapolitanische Schriftstellerin Valeria Parrella beschreibt das Hoffen und Bangen ihrer Protagonistin um ihr Neugeborenes als existenzielle Situation.
Maria landet an einem Ort zwischen den Welten. In einem Limbus. Oder, wie der Originaltitel des schmalen Romans von Valeria Parrella es umschreibt, in einem spazio bianco, einem weißen Raum, einem Zwischenraum. Schauplatz der Geschichte ist nämlich eine intensivmedizinische Krankenhausstation für Frühchen.
Die neapolitanische Schriftstellerin erzählt in ihrem autobiografisch inspirierten Buch von einer Erfahrung, die selten Gegenstand der Literatur ist: Die 42-jährige Lehrerin Maria bekommt im sechsten Monat Wehen und bringt ihre Tochter vorzeitig zur Welt. Das winzige Mädchen, das sie Irene nennt, wird in einen Brutkasten verfrachtet, an ein Sauerstoffgerät angeschlossen und durch eine Sonde ernährt. Vierzig Tage lang muss Maria warten, ob sich die Lungen entwickeln und das Kind alleine wird atmen können. Über die möglichen Folgen der Frühgeburt und die gesundheitlichen Schäden lässt man sie im Ungewissen. Maria bemüht sich, irgendwie weiter zu leben. Sie steht morgens auf, geht ins Krankenhaus, steht am Brutkasten der kleinen Tochter, spricht mit den anderen Müttern, befragt die Ärzte.
Valeria Parrella springt direkt hinein in das Innere ihrer Heldin und lässt uns teilhaben an deren Kämpfen mit sich selbst und dem totalen Ausnahmezustand, in den Maria hineingleitet. Dabei versucht die Autorin nicht, die Ängste und Panikattacken Marias bedeutungsschwanger heraufzubeschwören oder gar nachzubilden. Sie wählt einen anderen, weniger spektakulären und dadurch glaubwürdigeren Weg und vermittelt die Befindlichkeit ihrer Protagonistin über Bilder, den Blick auf die Umgebung, Dialoge und Alltagsszenen. Der Leser fühlt sich unmittelbar angesteckt von Marias Betäubung und Einsamkeit. Der Vater des Kindes ist schon zu Beginn der Schwangerschaft verschwunden, aber auch enge Freunde können Marias Isolation kaum überwinden. Sie selbst ist eine Weile lang außer Stande, zu jemandem vorzudringen, der sich jenseits der Sphäre des Krankenhauses befindet.
Als sich Maria, auf dem Klodeckel stehend, bei geöffnetem Fenster eine Zigarette anzündet und Neapel unter sich liegen sieht, gewinnt sie für einen Augenblick ihre Autonomie zurück und verteidigt sich gegen die Ohnmacht, die ihr die Intensivmedizin auferlegt. In einer anderen Situation wählt sie während einer Visite die Nummer der Polizei und zwingt damit den Chefarzt, den Fehler einer Krankenschwester zuzugeben und die Medikation neu zu berechnen. Ein drittes Mal bricht Marias Verzweifelung und Bedürftigkeit ausgerechnet einer ehemaligen Schülerin gegenüber hervor, die in der camorradurchseuchten Peripherie von Neapel wohnt und mit den Härten des Daseins vertraut ist.
Eingewoben in Marias innere Monologe sind außerdem Erinnerungsfetzen an ihre Kindheit und Bruchstücke ihrer Biographie, die wie kleine Inseln in dem zwanghaft um die Tochter kreisenden Gedankenstrom hervorlugen. Den äußeren Rahmen des Romans bildet die Phase zwischen der Einlieferung ins Krankenhaus und der bevorstehenden Entlassung des Kindes.
Dabei durchläuft der Leser denselben Prozess wie Maria, denn lange bleibt ungewiss, ob Irene es schaffen wird. Die Dramatik der Situation wird durch die schmucklose, sparsame Sprache, die Parrella ihrer Heldin in den Mund legt, noch unterstrichen. "Die Sache war die: meine Tochter Irene lag im Sterben, und ich konnte mit niemandem darüber reden", heißt es im Prolog lakonisch.
Ein zweiter Erzählstrang rollt Marias Leben vor Irenes Geburt auf: Sie ist Lehrerin von Beruf und arbeitet in einer Abendschule. Ihre Schülerschaft setzt sich aus srilankischen und russischen Einwanderern zusammen, ergänzt durch neapolitanische Hilfsarbeiter, die schon im Kindsalter von ihren Eltern als Handlanger oder Diebe rekrutiert wurden. Nach einigen Wochen im Krankenhaus entscheidet sich Maria, den Mutterschaftsurlaub auszusetzen und nach der Besuchszeit auf der Intensivstation abends wieder zu unterrichten. Auch hier gelingen Parrella prägnante Szenen: wie der 57-jährige Arbeiter Gaetano auf einmal entdeckt, dass er sich auf seinen Kopf verlassen kann und plötzlich ein neues Selbstwertgefühl gewinnt oder wie die Srilanker mit größerem Ernst als die Neapolitaner an ihrer italienischen Aussprache feilen und Bildung als ein Mittel für ein besseres Leben begreifen.
Anrührend sind die Momente, in denen Maria endlich ihr Kind im Arm halten kann und es zum ersten Mal die Augen öffnet. Fast nebenbei entwirft die 1974 in Neapel geborene Parrella, die bisher zwei Bände mit Kurzgeschichten vorgelegt hat, ein eindringliches Porträt ihrer Stadt. Neapel, das ist ein rauer, stinkender, brutaler und dennoch schöner Ort. "Zeit des Wartens" ist ein Roman über Mutterschaft, die zu einer Chiffre für die Fährnisse der Existenz wird.
Besprochen von Maike Albath
Valeria Parrella, Zeit des Wartens, Roman,
aus dem Italienischen übersetzt von Anja Nattefort,
C. Bertelsmann, München 2009, 128 Seiten, 14,95 Euro.
Die neapolitanische Schriftstellerin erzählt in ihrem autobiografisch inspirierten Buch von einer Erfahrung, die selten Gegenstand der Literatur ist: Die 42-jährige Lehrerin Maria bekommt im sechsten Monat Wehen und bringt ihre Tochter vorzeitig zur Welt. Das winzige Mädchen, das sie Irene nennt, wird in einen Brutkasten verfrachtet, an ein Sauerstoffgerät angeschlossen und durch eine Sonde ernährt. Vierzig Tage lang muss Maria warten, ob sich die Lungen entwickeln und das Kind alleine wird atmen können. Über die möglichen Folgen der Frühgeburt und die gesundheitlichen Schäden lässt man sie im Ungewissen. Maria bemüht sich, irgendwie weiter zu leben. Sie steht morgens auf, geht ins Krankenhaus, steht am Brutkasten der kleinen Tochter, spricht mit den anderen Müttern, befragt die Ärzte.
Valeria Parrella springt direkt hinein in das Innere ihrer Heldin und lässt uns teilhaben an deren Kämpfen mit sich selbst und dem totalen Ausnahmezustand, in den Maria hineingleitet. Dabei versucht die Autorin nicht, die Ängste und Panikattacken Marias bedeutungsschwanger heraufzubeschwören oder gar nachzubilden. Sie wählt einen anderen, weniger spektakulären und dadurch glaubwürdigeren Weg und vermittelt die Befindlichkeit ihrer Protagonistin über Bilder, den Blick auf die Umgebung, Dialoge und Alltagsszenen. Der Leser fühlt sich unmittelbar angesteckt von Marias Betäubung und Einsamkeit. Der Vater des Kindes ist schon zu Beginn der Schwangerschaft verschwunden, aber auch enge Freunde können Marias Isolation kaum überwinden. Sie selbst ist eine Weile lang außer Stande, zu jemandem vorzudringen, der sich jenseits der Sphäre des Krankenhauses befindet.
Als sich Maria, auf dem Klodeckel stehend, bei geöffnetem Fenster eine Zigarette anzündet und Neapel unter sich liegen sieht, gewinnt sie für einen Augenblick ihre Autonomie zurück und verteidigt sich gegen die Ohnmacht, die ihr die Intensivmedizin auferlegt. In einer anderen Situation wählt sie während einer Visite die Nummer der Polizei und zwingt damit den Chefarzt, den Fehler einer Krankenschwester zuzugeben und die Medikation neu zu berechnen. Ein drittes Mal bricht Marias Verzweifelung und Bedürftigkeit ausgerechnet einer ehemaligen Schülerin gegenüber hervor, die in der camorradurchseuchten Peripherie von Neapel wohnt und mit den Härten des Daseins vertraut ist.
Eingewoben in Marias innere Monologe sind außerdem Erinnerungsfetzen an ihre Kindheit und Bruchstücke ihrer Biographie, die wie kleine Inseln in dem zwanghaft um die Tochter kreisenden Gedankenstrom hervorlugen. Den äußeren Rahmen des Romans bildet die Phase zwischen der Einlieferung ins Krankenhaus und der bevorstehenden Entlassung des Kindes.
Dabei durchläuft der Leser denselben Prozess wie Maria, denn lange bleibt ungewiss, ob Irene es schaffen wird. Die Dramatik der Situation wird durch die schmucklose, sparsame Sprache, die Parrella ihrer Heldin in den Mund legt, noch unterstrichen. "Die Sache war die: meine Tochter Irene lag im Sterben, und ich konnte mit niemandem darüber reden", heißt es im Prolog lakonisch.
Ein zweiter Erzählstrang rollt Marias Leben vor Irenes Geburt auf: Sie ist Lehrerin von Beruf und arbeitet in einer Abendschule. Ihre Schülerschaft setzt sich aus srilankischen und russischen Einwanderern zusammen, ergänzt durch neapolitanische Hilfsarbeiter, die schon im Kindsalter von ihren Eltern als Handlanger oder Diebe rekrutiert wurden. Nach einigen Wochen im Krankenhaus entscheidet sich Maria, den Mutterschaftsurlaub auszusetzen und nach der Besuchszeit auf der Intensivstation abends wieder zu unterrichten. Auch hier gelingen Parrella prägnante Szenen: wie der 57-jährige Arbeiter Gaetano auf einmal entdeckt, dass er sich auf seinen Kopf verlassen kann und plötzlich ein neues Selbstwertgefühl gewinnt oder wie die Srilanker mit größerem Ernst als die Neapolitaner an ihrer italienischen Aussprache feilen und Bildung als ein Mittel für ein besseres Leben begreifen.
Anrührend sind die Momente, in denen Maria endlich ihr Kind im Arm halten kann und es zum ersten Mal die Augen öffnet. Fast nebenbei entwirft die 1974 in Neapel geborene Parrella, die bisher zwei Bände mit Kurzgeschichten vorgelegt hat, ein eindringliches Porträt ihrer Stadt. Neapel, das ist ein rauer, stinkender, brutaler und dennoch schöner Ort. "Zeit des Wartens" ist ein Roman über Mutterschaft, die zu einer Chiffre für die Fährnisse der Existenz wird.
Besprochen von Maike Albath
Valeria Parrella, Zeit des Wartens, Roman,
aus dem Italienischen übersetzt von Anja Nattefort,
C. Bertelsmann, München 2009, 128 Seiten, 14,95 Euro.