Im Ausnahmezustand

Mike hat seine revolutionären Ambitionen überwunden und sich in der gehobenen britischen Mittelschicht eingerichtet. Doch seine Vergangenheit holt ihn ein. - Hari Kunzru hat mit "Revolution" einen englischen Nach-68er-Roman vorgelegt.
Die entscheidende Frage ist nicht, weshalb gerade Hari Kunzru - Vizepräsident des englischen PEN, 1969 als Sohn einer Engländerin und eines Inders geboren - in seinem hochgelobten dritten Roman "Revolution" von 1968 erzählt. War nicht bereits in Kunzrus 2002 auf Deutsch erschienenem Debütroman "Die Wandlungen des Pran Nath" die Frage nach dem mehr oder minder selbstbestimmten Spiel mit geistigen Identitäten wichtiger gewesen als ein ethnisch begründetes Herkunfts-Tralala?

Ungleich ergiebiger ist jedenfalls das Staunen des Lesers, wie hier ein unideologischer, gleichwohl nicht indifferenter "Nachgeborer" die Gepflogenheiten einer puren Polit-Existenz genauso glaubwürdig zu schildern weiß wie die Usancen eines bürgerlichen Lebens vier Jahrzehnte später. Denn das ist heute die Welt von Roman-Antiheld Mike Frame alias Chris Carver: Eine scheinbare Landhaus-Idylle mit Lavendelsträußchen in Bad und Küche, "Kornpüppchen, alten Glasflaschen und Drucken mit Heilkräutern, unter denen in geschwungenen Lettern Zitate stehen.`" Zitate, die das gesund-einfache Leben preisen, obwohl der eigene Wohlstand doch allein dem Geschäftssinn von Ehefrau Miranda zu verdanken ist und jenen "auf Provisionsbasis industriell hergestellten ´natürlichen Pflanzenprodukten´", die sie an Kunden verschickt, deren Adressen eine Londoner Marketingagentur liefert." Eine Welt des forcierten Als-ob ist dies, groteske Fortsetzung von Mikes früherem, geheimen Leben, als er noch Chris hieß, auf der Matratze einer besetzten Wohnung in Notting Hill lag und `KONFRONTATION ist ein revolutionäres Vorbild für die entfremdete Jugend" ins fleckige Notizbuch kritzelte.

Selbstverständlich geraten beide Ebenen alsbald miteinander in Konflikt, frühere Mitkämpfer melden sich mit zum Teil erpresserischen Ambitionen, auch Mikes einstige Jugendfreundin Anna scheint noch am Leben zu sein. Wenn es bei all dem eine "Revolution" gab und gibt, dann allerdings allein jene der Literatur, die unsympathische Scheintote, mit denen man ansonsten nur ungern etwas zu schaffen haben möchte, in Individuen verwandelt, mit denen sich schließlich ungereut unzählige Stunden verbringen lassen – vierhundert Buchseiten lang. Wahrlich verblüffend, denn eigentlich könnte einem die Frage herzlich egal sein, ob Anna, Anfang der siebziger Jahre zum Hardcore-Terrorismus konvertiert, nun bei der Besetzung der deutschen Botschaft in Kopenhagen durch eine selbstgelegte Sprengladung umgekommen war oder nicht doch unter falschem Namen noch heute in der Normandie lebt. Will man dies wirklich wissen – bei einer Frau, die bereits in der vor-illegalen Phase solches von sich gibt? "Sie erklärte kategorisch, dass unser privates Vergnügen für den eigentlichen Kampf irrelevant sei. Nur im Kampf könnten wir uns auf sinnvolle Weise verwirklichen. Wenn ich ficken wolle, sagte sie, könnten wir ficken. Aber politisch gesehen, hätte sie ficken satt." Aber literarisch gesehen, kriegt man diese englische Variation von Ulrike und Gudrun eben doch nicht satt – unter dem Pflaster von Ideologie und diversen Historiker-Interpretationen der verheißungsvolle Strand des Story telling. Woher nur kommt diese wohltuende Abwesenheit von Apologie oder eifernder Aufrechnerei? Freilich könnte man sich als Leser mit der Antwort begnügen, Hari Kunzru sei eben einer vortrefflicher Romancier, doch ist es schließlich Kunzru selbst, der – angesprochen auf seinen souveränen Blick – folgendes zu Protokoll gibt: "Ich hatte beim Schreiben sozusagen einen kleinen Standortvorteil: Es gab beim binnen-englischen Linksterror Anfang der siebziger Jahre zwar mehr als 200 Anschläge, aber keine Toten. Als dann die IRA anfing zu bomben und Zivilisten umzubringen, spendete selbst das sogenannte Milieu kaum noch Beifall. Und davor weder einen Radikalenerlass noch Kontroversen, die jenen zwischen deutscher "Bild" und Böll vergleichbar gewesen wären. Negativ gesehen, könnte das heißen: Das britische System war sich seiner Macht allzeit sicher. Man könnte jedoch auch hinzufügen: Und die Demokratie gefestigt genug, um auch mit Extremformen flexibel umgehen zu können. Aber wie auch immer: Ich hatte das Privileg, einfach eine Geschichte erzählen zu können, ohne mich nach allen Seiten hin dauernd absichern zu müssen."

Rezensiert von Marko Martin

Hari Kunzru: Revolution
Roman
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Blessing Verlag, München 2008
415 Seiten, 22,30 Euro