Auch heute habe ich die Schatten gesucht
die Schatten der Zentralbibliothek Zürich
und nichts als abgestandene Luft gefunden
aber natürlich auch Bücher
hunderte
tausende
hunderttausende
die zum grossen Glück des literarischen Flaneurs aufgereiht sind
in langen Freihandregalen
was es einem ermöglicht
durch die Gänge zu schlendern
und ein Spiel zu spielen das zu spielen ich nie müde werde
rein zufällig
und mit einem gewissen Gefühl der Macht
irgendeinen Band zu nehmen
der einen anlacht
und der vielleicht schon viele Jahre
oder sogar Jahrzehnte
oder vielleicht noch überhaupt nie
erlöst wurde
aus seinem ungelesenen Dasein
seinem Dämmerschlaf
Hier nun also ein Band mit der Signatur Fl70845
ein kleiner, schmucker, handlicher Taschenband
Man öffnet eine Seite
die Seite siebenundsechzig
und da steht o wunder
ein Gedicht
das Gedicht eines französischen Autoren,
eines Symbolisten, wie einem erscheint
von dem man allerdings noch nie etwas gehört hat
was einen entzückt
denn wie schön ist es
eine neue Bekanntschaft zu machen
wie zum Beispiel hier diese mit Charles Maurice
und seinem Gedicht
drei Frauen
Drei Frauen kamen im Traum mir vor
Trois femmes ont passé dans mon rêve
Waren Mütter, Schwester, Bräute die drei?
Trois mères, trois soeurs, trois fiancées?
Drei Frauen gingen im Traum mir vorbei
Trois femmes dans mon rêve ont passé.
Die Zweite fasste mit grausamem Lächeln
die zwei Hände der beiden anderen
und die dritte hob ein Schwert empor
La seconde
au sourire pervert
tenait dans les siennes
les mains de ses compagnes sevères
et la troisièmes levait
un gléve
und man fragt sich
ob wohl
das französische Wort pervert
richtig übersetzt sei
mit dem deutschen Wort grausam
aber man mag sich nicht daran aufhalten
und bewundert das gerade erstandene
Traumtriumvirat dreier Frauen
im fahlen Licht
im vierten Untergeschoss
im Freihandlager
der Zentralbibliothek Zürich