Im Fall der Fälle

Als am 26. April 2002 der 19-jährige Robert Steinhäuser in Erfurt seine ehemalige Schule stürmte und 16 Menschen erschoss, stand das ganze Land unter Schock. Amokläufe dieses Ausmaßes gab es bis dahin in Deutschland nicht. Mehrere Bundesländer haben aus diesem traurigen Kapitel Schulgeschichte ihre Konsequenzen gezogen: Sie entwickelten Krisenpläne für die Schulen - mit einigem Erfolg, wie sich beim Amoklauf in Winnenden zeigte.
Thüringen
Von Ulrike Greim

Das Organigramm ist ein Blatt Din-A4. Es zeigt übersichtlich, wer in einem Notfall zuerst alarmiert werden muss. Der Chef des Kriseninterventionsteams ist mit Namen und Telefonnummer, inklusive des Privatanschlusses vermerkt. Darunter: die Kontaktdaten von Hausmeister und Sekretärin, einer Vertrauensperson, einem Elternsprecher, einer Kontaktperson für die Presse und von sogenannten Ersthelfern. Auf dem zweiten Blatt ist vermerkt, wer von ihnen was zu tun hat. Wer Feuerwehr und Polizei alarmiert, wer die Evakuierungspläne holt, wer den Kontakt zum Team organisiert, wer die Eltern betreut, etc. Im Notfall, so wissen es alle Thüringer Schulen, müssen sie nur diesen Ordner aus dem Schrank ziehen und nachschauen. Hier ist für den Krisenfall alles notiert. Ein Krisenfall kann ein Brand sein, Hochwasser, ein großer Unfall, oder eben - aber wer mag das aussprechen - ein Amoklauf. Thüringens Kultusminister Bernward Müller sagt: Nach dem Ereignis am Gutenberggymnasium vor sieben Jahren sei das geradezu ein Bedürfnis vieler Schulen gewesen, so eine Handreichung zu haben.

"Wir haben natürlich auch Kriseninterventionsteams gebildet, das heißt Lehrer an den Schulämtern im Besonderen ausgebildet, die, wenn so ein Fall eintritt, dann aktiv werden können."

Das muss man einmal gedanklich durchgespielt haben, sagten sich die Thüringer. An jeder Schule sollen Lehrer nun in der Lage sein, im Notfall schnell zu reagieren, auch wenn es nicht bei allen klappt. Zusätzlich soll es ab demnächst auf Landesebene ein noch ein speziell trainiertes Team geben, das - ähnlich einem Sondereinsatzkommando - kurzfristig in eine Schule kommen kann, um die Krise zu managen. Das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung habe hier Programme aufgelegt, um für den Notfall zu schulen.

"Wir sind bestrebt aus der Sicht des Kultusministeriums, hier eine Flächendeckung auf der einen Seite zu erreichen, und natürlich auch Spezialisten, die mobil einsetzbar sind."

Spezialisten, die organisatorisch und psychologisch geschult sind. Doch Schulpsychologen sind sehr rar gesät. Beratungslehrer müssen erst gezielt weitergebildet werden, vermutlich ab 2010 an der Uni in Erfurt. Zunehmend springen auch die Kirchen in diese Lücken. Denn Seelsorge verstehen sie als genuines Aufgabenfeld. Die Theologin Eveline Trowitzsch ist Religionslehrerin am Marie-Curie-Gymnasium in Bad Berka und hat nun eine Ausbildung zur Schulseelsorgerin aufgesattelt. Die Bereitschaft, psychologische und geistliche Unterstützung an Schulen zuzulassen und zu fördern, wachse gerade in Katastrophen.

"Das ist dann zwar auch meiner Meinung nach wieder viel zu schnell zurückgefahren worden, aber im kirchlichen Bereich habe ich den Eindruck, wächst es im Moment stark: die Offenheit für die Ausbildung und auch die finanziellen Möglichkeiten."

In Krisensituationen ist vor allem Kompetenz gefragt. So wächst auch die Fähigkeit, Notfälle zu erkennen.

"Ich hab das Gefühl: durch unsere gute Zusammenarbeit hier in der Schule mit den Beratungslehrern, dass sehr viel mehr Krisen sichtbar werden. Das ist die Erfahrung ja auch in der Psychotherapie: Je mehr man Gespräche ermöglicht, desto mehr kommt auch nach oben. Am Anfang hat man immer das Gefühl, es wird ja immer mehr, wir können es gar nicht mehr bewältigen. Aber das lag einfach daran, dass es jetzt die Möglichkeit gab, jemanden zu haben, und zu sagen, das Problem kann ich jetzt auch an der Schule besprechen."

Auch die Thüringer Polizei hat nach dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium ihre Hausaufgaben machen müssen. Die Schelte am Einsatz der Spezialkräfte damals saß wie ein Stachel im Fleisch. Jürgen Schlutter, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei:

"Es hat für die Aus- und Fortbildung der Thüringer Polizei eine ganze Reihe von Konsequenzen gegeben. So wird beispielsweise für alle Polizeivollzugsbeamten in der Zwischenzeit ein dreistufiges Amoktraining durchgeführt, an dem jeder Polizeibeamte zwingend teilnehmen muss. Es sind Einsatzpläne überarbeitet worden. Es ist die Ausbildung der Spezialeinheiten entsprechend geändert worden."

Doch Lehrerinnen und Lehrer wie Eveline Trowitzsch wissen: Krisen kann man nur in gut funktionierenden Teams bewältigen, und dazu bedarf es der regelmäßigen Kommunikation, des guten Kontaktes. Dies bleibt ständige Aufgabe.


Baden-Württemberg
Von Uschi Götz

Wenige Minuten nachdem ein Notruf beim Polizeirevier in Winnenden eingegangen ist, sind Beamte in der Schule. Das Revier liegt nur wenige Meter von der Realschule entfernt. Sechs Beamte bilden zwei Dreierteams, ein Beamter bleibt vor der Schule. So haben sie es in den vergangenen Monaten gelernt.

"Als die ersten drei Beamten das Gebäude betreten haben, fielen noch Schüsse im ersten Obergeschoss und sie wurden selber noch beschossen vom Täter vom Treppenabsatz oben, als sie sich der Treppe zum ersten Obergeschoss genähert haben."

Ralf Michelfelder, Leiter der Polizeidirektion Waiblingen: Es gilt als sicher, dass die Beamten ein noch größeres Blutbad verhindert haben. Ermittler gehen davon aus, dass der 17-jährige Täter Tim K. nach dem Schusswechsel mit den Polizisten aus der Schule flüchtete. Bis zum Amoklauf in Erfurt galt für die alarmierten Streifenpolizisten der Grundsatz, nicht in die betroffene Schule hineinzugehen, sondern ein Einsatzkommando anzufordern.
Mittlerweile sind in Baden- Württemberg knapp 15.000 Streifenpolizisten dafür ausgebildet, im Falle eines Amoklaufs sofort in die betroffene Schule hineinzugehen.

Auch baden-württembergische Schulen haben das freiwillige Angebot bekommen, sich mit den polizeilichen Krisenplänen vertraut zu machen. Landespolizeipräsident Erwin Hetger:

"Diese Krisenpläne sind auch erprobt worden und im Rahmen derartiger Erprobungen ist das so auch schon mal gehandhabt worden und deswegen ist es in Einzelfällen auch in Schulen so gelaufen, aber nicht im Echtfalle, sondern im Erprobungsfalle."

Doch nicht alle Schulen im Land sind auf den Ernstfall vorbereitet. Am Rande eines polizeilichen Amoktrainings sagte Hetger Ende vergangenen Jahres:

"Mit Blick auf die Amoksituation ist es so, dass es immer wieder notwenig ist, das Thema neu ins Gehirn hineinzudrücken. Das gilt bei uns bei der Polizei, das gilt genauso im schulischen Bereich. Wenn über Jahre hinweg nichts passiert, ist natürlich die Sensibilisierung natürlich bei null."

Mittlerweile sind gerade die Schulleiter in Baden-Württemberg von der Realität eingeholt worden. Angefragte Schulen wollen mit Verweis auf die aktuellen Ereignisse in Winnenden zurzeit keine Auskunft über ihr Krisenmanagement geben.
Gemeinsam haben die baden-württembergische Polizei und das Landeskultusministerium in den vergangenen Jahren einen Rahmenkrisenplan erstellt.
Dieser Plan sieht konkrete Anweisungen vor, wie bei – so wörtlich – Gewaltvorfällen an Schulen gehandelt werden soll. Demnach sollte jede Schule ein eigenes Codewort haben, das per Lautsprecherdurchsage auf ein bestimmtes Ereignis in der Schule hinweist. Fällt im Ernstfall das Codewort, werden je nach Klassenraumsituation von den jeweiligen Lehrern verschiedene Maßnahmen ergriffen. Landespolizeipräsident Hetger:

"Das ist Bestandteil unserer Krisenpläne, die wir als Polizei mit den Schulen, an allen Schulen erstellt haben. Da gibt es derartige Codewörter. Und die Kinder wissen dann, wenn dieses Codewort kommt, um was geht’s."

Einige befragte Schüler in Stuttgart kennen ihr Codewort nicht, möglicherweise weil es keines gibt. Doch viele Schulen haben vorbildliche Krisenpläne in den Schubladen, haben aber die Schüler in ihren Plänen vergessen. Max Träger vom baden-württembergischen Landeschülerbeirat:

"Also bei uns an der Schule sind diese Pläne auch durchgesetzt worden, allerdings muss ich in dem Fall sagen leider ohne Beteiligung der Schülervertretung. Bei uns ist es jetzt am Ende dahingehend entwickelt worden, dass es sogenannte Krisenreaktionsteams gibt an den einzelnen Schulen. Bei uns gibt es auch ein Krisenreaktionsteam an unserer Schule, das tritt zusammen bei Brandfall, beim Bombendrohungsfall und beim Amoklauffall.
Leider besteht dieses Gremium nur aus Lehrern. Und es läuft dann auch so ab, dass eine Durchsage kommt, ne Code-Durchsage für das Krisenreaktionsteam, das sich dann trifft und dann entscheidet, was gemacht wird.
Und bei uns an der Schule sind in diesem Krisenreaktionsteam nur ausgewählte Lehrer drin, die selber auch eine psychologische Ausbildung durchlaufen haben oder Religionslehrer oder Leute, die einfach wissen, wie man da ungefähr mit umzugehen hat oder was es da für Möglichkeiten gibt."


Berlin
Von Verena Kemna

Vor dieser Schule steht kein Wachschutz, eine Klingelanlage regelt den Einlass an der Grundschule am Zillepark im Bezirk Mitte. Arbeitsbesprechung im Direktorenzimmer. Schulpsychologin Aida Lorenz blättert in einem orangefarbenen Aktenordner mit der Aufschrift Notfallplan. Die 120 Seiten sind farbig gestaltet, rot, gelb und grün. Auf dem obersten roten Blatt steht in dicken schwarzen Buchstaben: Amoklauf.

"Wir haben die unterschiedlich nach Farben, nach sogenannten Gefährdungsgraden eingeteilt, hier gibt es auch eine Art Fließdiagramm. Den Anfang macht hier der Amoklauf, der schlimmste denkbare Vorfall bis hin zu Schlägereien in der Schule, das sind dann grüne Notfallpläne, die dann in der Regel von der Schule alleine pädagogisch aufgearbeitet werden können."

Der Berliner Notfallplan basiert auf einem Grundkonzept, bundesweit gültig seit dem Amoklauf in Erfurt. Erst seit gut drei Jahren haben die Lehrer an den 800 Berliner Schulen überhaupt eine derartige Orientierungshilfe. Auf den bunten Din-A4-Seiten stehen vor allem Telefonnummern und Ansprechpartner bei Polizei, Jugendamt oder Justiz. Egal, ob es um Messerstecherei, Mobbing, Suizid oder psychologische Betreuung geht, wenn etwa ein Jugendlicher auf dem Schulweg tödlich verunglückt, die Prioritäten sind immer gleich.

"Alle Pläne sind in einem Fünf-Stufenplan aufgebaut, das heißt, eine Sofortreaktion, also was muss ich sofort machen, dann eingreifen, beenden, wie muss ich da reagieren, Opferhilfe, das steht natürlich an erster Stelle, wie unterstützen wir das Opfer. Hilfemaßnahmen einleiten, dann haben wir informieren. Wer muss alles informiert werden von so einem Vorfall, dann haben wir Nachsorge und Aufarbeitung."

Die Schulleiterin hört zu und nickt. Ihre Kollegen wissen Bescheid. Im Fall der Fälle sollen die Lehrer zu allererst die Schulleitung benachrichtigen. Wer, wen informiert, darüber gibt es im Lehrerzimmer einen Aushang. Schulleiterin Manuela Gregor liest noch einmal die erste Seite mit der Überschrift Amoklauf. Zuallererst den Notruf wählen, erklärt die Schulpsychologin.

"Dann ist eben wichtig, was geschieht, wer handelt, ob ein oder mehrere Täter. Wie handelt der Täter, hat er eine Schusswaffe, ein Messer oder sonst etwas dabei, hat er eine Geisel genommen und sobald die Polizei vor Ort ist, übernimmt sie die Regie."

Manuela Gregor schüttelt den Kopf. Sollen Schüler und Lehrer im Klassenraum bleiben oder die Schule verlassen? Viele Details müssen in den nächsten Tagen mit Vertretern von Polizei und Schulverwaltung noch besprochen werden.

"Also wir haben solche Sachen diskutiert, lieber einschließen? Weil in dem Moment, wenn die Kinder durchs Haus laufen, sind sie ja auch gefährdet, sie wissen ja nicht, zu welchem Zeitpunkt ist der Täter an welchem Ort. Das sind Sachen, die wir noch überlegen müssen. Oder ob es ein Klingelzeichen sein könnte, wie bei einem Feueralarm. Dann fallen sie die Treppe runter oder so etwas. Das wäre dann auch noch mal die Frage, ob das die richtige Lösung ist."

Probeläufe für solche Situationen sind laut Berliner Schulverwaltung nicht geplant. Das wäre fatal und viel zu gefährlich, sagen Experten für Gewaltprävention wie Aida Lorenz. Sie bietet Krisenfortbildung für Schulleiter. Ginge es nach ihr, dann gäbe es an jeder Schule ein geschultes Krisenteam. In der Hauptstadt sind gerade einmal 15 Psychologen auf Gewaltprävention spezialisiert. Grundsätzlich betreut ein Schulpsychologe etwa zehn Schulen. Weit entfernt vom viel gerühmten Vorbild Skandinavien. Dort hat jede Schule Anspruch auf einen Psychologen. Umso mehr weiß die Schulleiterin der Grundschule am Zillepark, einen Besuch von Aida Lorenz zu schätzen. Beide sind sich einig. Vor jedem Notfallplan steht die Prävention. Doch dabei fühlt sich Schulleiterin Manuela Gregor oft alleine gelassen. Ohne Zustimmung der Eltern ist ein fachgerechter Umgang mit auffälligen Kindern unmöglich.

"Wir kriegen oft Hilfe zur Selbsthilfe - aber im Notfall sind wir eigentlich allein. Ich kann zwar eine Gewaltanzeige machen, ich kann das melden, ich kann eine Schulhilfekonferenz machen, wir können darüber reden und im Endeffekt habe ich dennoch keine Therapie für das Kind und da kann ich hier strampeln, da können die vom Jugendamt strampeln, wenn die Familie sagt, nein, dann gibt es für das Kind keine Hilfe und das baden dann die aus, die mit dem Kind zu tun haben. Da müsste in meinen Augen eine neue Regelung getroffen werden."