Theater
Im Galopp ins Jiddischland
Die jiddische Sprache war mal in vielen europäischen Ländern verbreitet, in Frankreich genauso wie in Deutschland oder Russland. Seit der Schoa gibt es kaum noch jiddische Muttersprachler. Doch bei Paris ist jiddisches Volkstheater zu sehen - mit Pferden.
Für ein Volkstheater ist der Auftakt ungewöhnlich: Ein bleich geschminkter Zeremonienmeister im Frack kündigt einen Vortrag an – noch dazu auf Jiddisch und mit französischer Übersetzung. Er werde wiedergeben, was der Schriftsteller Isaac Bashevis Singer bei einem Bankett gesagt habe, am Tag vor der Entgegennahme des Nobelpreises im Jahr 1978: „Man fragt mich manchmal, warum ich in einer derart toten Sprache schreibe. Ich frage zurück: Warum eigentlich nicht? Sollte ich besser auf Chinesisch schreiben? Oder auf Türkisch? Für mich ist Jiddisch die reichste Sprache der Welt. Nicht in Technologie und auch nicht, wenn es um Maschinen geht. Aber in Worten, die etwas über Menschen erzählen." Mit seiner singenden Sprache unterstreicht der Schauspieler Rafael Goldwaser Singers Humor und Wortwitz.
Alle Männer tragen Kippa und Schläfenlocken
Dann spielt das Quartett auf, Le Petit Mish-Mash, und drei Rappen galoppieren in die Manege. Ihre Reiter balancieren auf den Pferderücken, springen herab und wieder hinauf, machen eine Kerze. Wie alle Männer, die im Verlauf des Stücks zu sehen sind, tragen sie Kippa und Schläfenlocken.
Das Schauspiel rund um die jiddische Sprache und Kultur ist nur das erste von insgesamt vier Theaterstücken „des Exils“, die er in den kommenden Jahren aufführen will, sagt Bartabas, der Gründer und Direktor des Pferdetheaters Zingaro: „Ein Grund, warum ich mit der jiddischen Kultur beginne, ist ihre Musik. Klezmer ist fröhlich, das passt jetzt nach der Corona-Epidemie besonders gut. Außerdem ist Jiddisch nun mal die Sprache des Exils schlechthin. Eine Sprache ohne Territorium und eine Sprache, die, obwohl sie viel Deutsch enthält, Elemente aus vielen anderen Sprachen aufgenommen hat.“
Auch die Klezmer-Musik habe Elemente aller Kulturen aufgesogen, mit denen die jüdischen Musiker in Kontakt waren, sagt die Sängerin und Violonistin, Ariane Cohen-Adad: „Diese Musik der osteuropäischen, aschkenasischen Juden, war zwar vom Gesang der Synagogen beeinflusst, aber es ist eine rein weltliche Musik. Wir arbeiten mit Archiven vom Anfang des 20. Jahrhunderts, weil wir dieses Repertoire ganz authentisch spielen und wiederbeleben wollen. Es ist toll, dass uns Bartabas die Möglichkeit gibt, Klezmer mit Theater, Kunstreiten und Zirkus zu verbinden. Das macht Sinn und es funktioniert hervorragend.“
Gänse, Brautpaare, Rabbi mit Pelzhut
Die akrobatischen Zirkusnummern wechseln ab mit ruhigen Bilder. Da spazieren Gänse über die Bühne, ein Rabbi mit breitkantigem Pelzhut zieht einen Eselskarren. Man sieht Reiter, die sich an den Füssen von scheinbar fliegenden Zuggänsen festhalten, so als ob diese sie gen Himmel entführen würden. Ein eng umschlungenes Brautpaar galoppiert, auf einmal hebt die junge Frau ab und schwebt im weißen Hochzeitskleid in großen Kreisen – nur durch ein Seil gesichert - durch die Luft. Die Verbindungen zu Marc Chagall sind offensichtlich.
Andere Elemente hingegen verstehen nur Eingeweihte. Zum Beispiel, Auszüge aus dem Kult-Film "Dibbuk". So heißt ein Totengeist, der nach jüdischem Volksglauben in den Körper der Lebenden eintritt und sie verrückt werden lässt. Oder aber, dass jede der sechs weißen Tauben, die durch den Raum flattern, eine Million getöteter Menschen symbolisiert. Ein Lied fällt aus der Reihe, weil es vom Band gespielt wird. Die Aufnahme aus den 50er-Jahren knistert und rauscht. Im Totenlied El Male Rachamim des Kantors Shalom Katz sind die Worte "Auschwitz, Majdanek, Treblinka" klar verständlich. „Volkstheater ist für mich kein leichtes Theater, wo man alles sofort versteht,“ sagt Bartabas. „ Es muss allerdings so gestaltet sein, dass jeder Zuschauer einen eigenen Zugang finden kann.“
Jiddisch: Sprache ohne Staat, Waffen und Militär
Bartabas inszeniert nun schon seit 37 Jahren Pferdetheater. Aber nie zuvor hat er Sprache eingesetzt. Rafael Goldwaser hat ihm bei der Textauswahl geholfen. Der 74-Jährige wurde in Buenos Aires geboren , in seinem Elternhaus wurde jiddisch gesprochen. Heute ist er vermutlich der einzige Schauspieler in Frankreich, der diese Sprache beherrscht. Er sagt: „Jiddisch ist voller Musik und Humor. Jiddisch sein heißt, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Bashevis Singer hat einmal gesagt: Jiddisch braucht keinen Staat, keine Waffen und kein Militär, da stimme ich ihm voll und ganz zu.“
Goldwaser hatte Singers Rede über den Reichtum der jiddische Sprache schon früher für eigene Theateraufführungen übersetzt. Nun zieht sie sich wie ein roter Faden durch das Pferde-Theater. Goldwasser findet: „Jiddisch ist eine tolerante Sprache, deren Prinzip kommunistisch ist: Was mir gehört, gehört mir. Und was dir gehört, gehört auch mir. Mit der Klezmer-Musik ist es genau gleich: Natürlich gehört euch eure ganze Musik. Und die der anderen, gehört euch auch.“
Das Pferdetheater Zingaro zieht ein breit gemischtes Publikum an: Familien mit Kindern, die Pariser Oberschicht, Bewohner aus der Vorstadt Aubervilliers. Sie alle konfrontiert Bartabas nun mit der Erinnerung an die jiddischen Kultur. Er sagt: „Das ist meine Art, auf die unerträgliche Zunahme von Antisemitismus zu reagieren, auf subtile Weise. Fremdenhass beruht oft auf Unverständnis. Wenn ich die Zuschauer hier begeistern kann, vielleicht interessieren sie sich danach auch für diese ihnen unbekannte Kultur. Vielleicht kann ich ihnen ein bisschen den Geist öffnen.“
Schtetl geht in Flammen auf
In einem der letzten Bilder wird auf einem Handkarren ein windschiefes Dorf, das jüdische Schtetl, in die Manege gezogen und von wandelnden Kerzen abgefackelt. Fast alle Schtetl in Osteuropa fielen der Shoa zum Opfer. Abschließend gibt Rafael Goldwaser noch einmal Issac Bashevis Singer das Wort. Und bricht die Dramatik mit typisch jiddischem Humor." Warum eigentlich Witze erzählen? Wenn sie gut sind, sind sie allseits bekannt. Und wenn sie nicht gut sind, warum erzählt man sie dann?"Der Schauspieler hebt sein Glas und lädt zum Trinken ein. „Le Chajm“ ruft er, auf das Leben. Das sagt man im Jiddischen für Prost.