Sisis "harte Hand" gegen Kritiker
Studenten, Aktivisten, Blogger, Journalisten - wer Ägyptens Präsident Sisi kritisiert, läuft Gefahr im Gefängnis zu landen. Seit seinem Amtsantritt sind nach Expertenschätzungen rund 40.000 Personen aus politischen Gründen verhaftet worden.
Bunte Wasserfarbenbilder, Geburtstagskarten mit ersten Schreibversuchen - auch in Ägypten heben Mütter gerne auf, was ihre Kinder gemalt und gebastelt haben. Im Wohnzimmer von Rawia Sadek sind die meisten Erinnerungsstücke schon vergilbt. Ihre Töchter sind längst erwachsen. Doch von Yara, 28, hat die Mutter jetzt ganz neue Dinge im Regal:
"Sie hat mich mehrere Male gefragt, womit sie sich beschäftigen könnte. Etwas Künstlerisches, meinte sie. Da haben wir ihr Origami-Bücher gekauft und Papier, das sie nach den Anleitungen schneiden und falten kann. Wir durften ihr aber nur so eine Kinderschere aus Plastik mitbringen. Scheren aus Metall sind ja verboten."
Denn Yara Sallam sitzt seit einem Jahr im Gefängnis. Die Blumen und Tiere aus Papier entstehen hinter Gittern. Teilnahme an einer illegalen Demonstration, so der Tatvorwurf, der die junge Ägypterin dorthin gebracht hat. Ein Kairoer Gericht verurteilte sie zu zwei Jahren Haft. Yara hat aber gar nicht demonstriert, sagt ihre Mutter:
"Yara ging mit ihrem Cousin in unserem Viertel spazieren. Als wir hörten, dass es in der Gegend auch eine Demonstration geben soll, hat meine ältere Tochter bei ihr angerufen, um nach ihr zu fragen. Sie hörte nur, wie Yara sagte: 'Ihr sollt mich nicht schubsen!' Dann wurde die Leitung unterbrochen."
Keine Beweise für die Demo-Teilnahme
Gasser Abdel Razek: "Sie wurde zwei Straßenblöcke von der Demonstration entfernt festgenommen, als sie an einem Kiosk eine Flasche Wasser gekauft hat. Yara hat von Anfang an bestritten, dass sie etwas mit den Protesten zu tun hatte. Es gibt auch keine Beweise, keine Zeugen, keine Videoaufnahmen der Polizei, die sie tatsächlich bei der Demo zeigen"
Gasser Abdel Razek ist der Direktor der Ägyptischen Inititiave für Menschenrechte. Dort arbeitete auch Yara Sallam, bis sie ins Gefängnis kam. Die junge Frau ist Anwältin und machte sich für die Opfer von Polizeigewalt und unschuldig Inhaftierte stark. Und genau das ist ihr nun selbst zum Verhängnis geworden, glauben ihre Mitstreiter. Die Festnahme selbst könne noch Zufall gewesen sein, doch was danach passierte nicht:
"Wenn es eine Demonstration von jungen Aktivisten gibt, dann haben die Polizisten ein bestimmtes Profil von diesen Revolutionären. Und wenn da jemand ins Raster passt, ein junger Mann, der lange Haare hat, zum Beispiel, eine Frau, die eines dieser Palästinensertücher trägt, dann werden sie festgenommen. Auch wenn sie nicht demonstrieren. Dabei ist interessant, dass Yara zusammen mit ihrem Cousin festgenommen wurde. Beim ersten Verhör stellten die Polizeibeamten fest, dass er ein Hochschulassistent für Geschichte ist. Da durfte er gehen. Als Yara sagte, 'ich arbeite für eine Menschenrechtsorganisation', musste sie bleiben."
Monatelanges Warten in Untersuchungshaft
Und die ägyptische Justiz ließ sich erst mal reichlich Zeit mit ihrer Kritikerin. Eine Freilassung auf Kaution wurde trotz festem Wohnsitz und Arbeitsplatz abgelehnt. Sechs Monate lang musste die Menschenrechtsaktivistin in Untersuchungshaft auf ihr Verfahren warten.
Dort, wo sie bis heute ist: in einer kleinen Gefängniszelle, zusammen mit sechs anderen Frauen, wie die Mutter erzählt, mit einem Loch im Boden als Toilette für alle:
"Da kann man sich nur so hinhocken. Im Gefängnis gibt es keine Toiletten, auf die man sich richtig setzen kann. Yara hatte sehr bald Schmerzen in den Knien. Irgendwann durften wir ihr dann wenigstens einen Toilettenstuhl bringen."
Alle zwei Wochen darf Rawia Sadek ihre Tochter in Kanater, in Ägyptens größtem Frauengefängnis vor den Toren Kairos, besuchen. Yara sei tapfer, sagt die leidgeplagte Mutter nicht ganz ohne Stolz. Sie selbst kämpft tapfer gegen Tränen und holt einen kleinen Papiervogel aus dem Regal. Seine Flügel sind weit ausgebreitet. Vor einem halben Jahr war das noch ein Symbol der Hoffnung:
"Meine Tochter hat nicht damit gerechnet, dass sie so eine harte Strafe bekommt, obwohl sie nichts getan hat. Es gab auch das Gerücht, dass Präsident Sisi Häftlinge begnadigt. Aber die Hoffnung war umsonst."
Die Justiz macht Kritiker mundtot
Der Fall von Yara Sallam ist nur ein Beispiel von vielen, wie der ägyptische Sicherheitsapparat und die Justiz gegen regime-kritische Stimmen im Land vorgehen, sie mundtot macht. Es ist die sogenannte "harte Hand", mit der – wie es offiziell heißt - die "öffentliche Sicherheit" und die "nationale Stabilität" geschützt werden sollen. Die lange Hand von Ägyptens neuem Staatschef Abdel Fattah al Sisi, der am 3. Juli 2013, damals noch Militärchef, Präsident Mohamed Mursi von den Muslimbrüdern stürzte.
"Vom 3. Juli an veränderte sich die Art und Weise, wie die Regierung mit ihren Gegnern umgeht",
so Gasser Abdel Razek von der Ägyptischen Initiative für Menschenrechte:
"Den größten Preis haben natürlich die bezahlt, die der islamistischen Bewegung angehören: Die Muslimbrüder. Aber das hat die Verantwortlichen nicht davon abgehalten, auch Blogger, Reporter und Aktivisten, die zu Gruppen gehören, die 2011 die Revolution angestoßen haben, zu langen Gefängnisstrafen zu verurteilen. Der politische Raum, der sogar vor dem Sturz Mubaraks existierte, und der sich nach der Revolution 2011 weit geöffnet hat, wurde komplett wieder geschlossen."
Ein Blick zurück auf den Volksaufstand 2011.
Hunderttausende rufen auf dem Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo: "Das Volk will den Sturz des Systems". Und es gelingt tatsächlich, Langzeitdiktator Hosni Mubarak aus dem Amt zu jagen. Aber das System ist zurückgekehrt, sagen kritische Stimmen heute. Ägyptens neuer Präsident Abdel Fattah al Sisi, einst Geheimdienstchef unter Mubarak, hat die Bürgerrechte eingeschränkt, Demonstrieren ist wieder verboten. Es gibt Massenverhaftungen und Massenverurteilungen. Ägypten brauche die "harte Hand". Der Staat werde schließlich vom Terror bedroht, argumentieren die Anhänger Sisis.
Und tatsächlich gibt es immer wieder Anschläge.
Ein Sonderkommando der Polizei fährt durch die Innenstadt von Kairo. Auf den Ladeflächen des dunkelblauen Pickups sitzen schwarz maskierte Männer mit schuss-sicheren Westen und Maschinengewehren im Anschlag. Es ist offensichtlich: Die Sicherheitslage ist nach wie vor angespannt. Ministerien und wichtige Einrichtungen, wie das Ägyptische Museum, sind mit Barrikaden, Stacheldraht und gepanzerten Fahrzeugen gesichert. Seit dem Sturz Mohamed Mursis im Sommer 2013 gehören Attentate, vornehmlich auf Polizei und Armee, zum ägyptischen Alltag.
Die Repression radikalisiert die Islamisten
Der repressive Umgang mit den Anhängern Mursis hat zu einer Radikalisierung vieler Islamisten geführt. Nach dem ersten, schweren Anschlag auf eine Polizeistation im Nildelta mit 16 Toten und über hundert Verletzten, wurde die Muslimbruderschaft im Dezember 2013 zur verbotenen Terrororganisation erklärt. Seitdem wurden mehrere hundert Polizisten und Soldaten bei Attentaten ermordet. Über Teile der Sinai-Halbinsel wurde der Ausnahmezustand verhängt. Die Terrorgruppe Ansar Beit al Makdis, die von dort aus operiert, hat sich inzwischen den Milizen des sogenannten Islamischen Staates angeschlossen.
"Natürlich ist es so, dass es in Ägypten bewaffnete islamistische Gruppen gibt, die Anschläge ausführen. Insofern haben sie es dort tatsächlich mit einer Herausforderung zu tun",
so Ruth Jüttner, Nahost-Expertin von Amnesty International:
"Allerdings stellt sich die Frage, was es mit Terrorismusbekämpfung zu tun hat, wenn Studenten, die an den Universitäten demonstrieren, lang in Haft genommen werden und Monate lang, ohne Anklageerhebung, im Gefängnis sind, oder Menschen, die an friedlichen Protesten teilnehmen, ins Gefängnis gesteckt werden, weil sie an nicht offiziell genehmigten Demonstrationen teilgenommen haben."
Die "harte Hand" der ägyptischen Staatsgewalt nutze die Terrorgefahr zum Rundumschlag, ist sich Amnesty mit anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen einig. Die Zahlen sprechen für sich. Nach Expertenschätzung sollen seit der Amtsenthebung Mursis über 40.000 Personen aus politischen Gründen verhaftet und angeklagt worden sein. Neutral verhalten sich die Richter bei diesen Verfahren nicht, sagt Ruth Jüttner:
"Nach Auffassung von Amnesty International ist die ägyptische Justiz auf jeden Fall selektiv und parteiisch. Weil sie vor allen Dingen gegen die Kritiker der Regierung vorgeht und gegen tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger der Muslimbruderschaft. Es wird in der Regel noch nicht mal der Versuch gemacht, individuelle Schuld in diesen Verfahren nachzuweisen. Es wird in der Regel noch nicht mal der Versuch gemacht, individuelle Schuld in diesen Verfahren nachzuweisen. Also es sind wirklich extrem unfaire Verfahren. Die dann dazu führen, dass eine große Anzahl an Angeklagten unter teilweise an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen zu extrem langen Haftstrafen und teilweise auch zur Todesstrafe verurteilt werden."
Massenverfahren mit Todesurteilen
So wie im vergangenen Jahr, als bei zwei großen Massenverfahren gegen Muslimbrüder insgesamt 1200 Angeklagte zu Tode verurteilt wurden. Allerdings wurden 2014 nur vier solcher Todesurteile tatsächlich vollstreckt. Doch Tote gibt es in Ägypten auch an anderer Stelle zu beklagen, schildert die Mitarbeiterin von Amnesty International:
"Wir haben von einem Inhaftierten gehört, dass er in einer Zelle festgehalten wurde, auf einer Polizeistation, die für 20 Menschen konzipiert war: Dort wurden 70 Gefangene festgehalten. Es gab nicht genügend Luft zum Atmen und er berichtete, dass dann Gefangene in diesen Zellen erstickt und gestorben sind. Es ist wirklich unbeschreiblich, was die Gefangenen erleiden müssen und umso katastrophaler ist es, dass eben so viele Menschen festgehalten werden."
Der Kairoer Rechtsanwalt Reda Marzie bestätigt diese Zwischenfälle. Im Auftrag der Ägyptischen Inititiave für Menschenrechte betreut er Inhaftierte, die auch von Misshandlung und Folter berichten:
"Tagtäglich werden Leute im Gefängnis geschlagen und gequält. Sogar Minderjährige. Im zuständigen Innenministerium heißt es: Wenn es tausend Gefangene gibt und nur 50 oder sogar hundert Wärter, dann reicht das nicht aus, um alles unter Kontrolle zu halten. Um ihre Stärke zu zeigen, damit die Gefangenen Angst haben, nutzen sie alle Mittel. Das ist deren Logik, warum sie aggressiv sein dürfen. Und wenn es herauskommt, wie kürzlich im Gefängnis Abu Zaabel, dann behauptet das Innenministerium, die Spuren auf dem Rücken eines Gefangenen seien Muttermale. Ein Gerichtsmediziner hat bestätigt, dass es Folterspuren waren."
Das Folteropfer war in diesem Fall ein Pressefotograf. Nach Informationen von Amnesty International sind in Ägypten derzeit auch zehn Journalisten in Haft.
Einer der bekanntesten Blogger wieder in Haft
Laila Soueif: "Die aktuelle Situation ist die schlimmste, die ich je erlebt habe. Es ist ein Unrechtssystem. Aber sie drehen jetzt alles so, dass es in der Region ja Probleme gibt, den Terror, den IS."
Auch Laila Soueif ist erschüttert über die Entwicklungen. Die Universitätsprofessorin kämpft seit über 40 Jahren für Demokratie und Menschenrechte in Ägypten. Ihr verstorbener Mann, ein Menschenrechts-Anwalt, kam dafür in der Mubarak-Ära hinter Gitter, 2006 erstmals auch ihr Sohn Alaa Abdel Fattah. Er ist einer der bekanntesten ägyptischen Blogger, war einer der Wegbereiter der Revolution 2011.
Jetzt sitzt er wieder im Gefängnis:
"Wir hatten bisher noch keinen Präsidenten, der Leute toleriert, die keinen Respekt vor der Macht haben. So einfach ist das. Und mein Sohn Alaa hat absolut keinen Respekt vor der Macht."
Doch die Respektlosigkeit hat einen hohen Preis: Laila Soueif muss – so wie einst ihrem Sohn – nun auch ihrem dreijährigen Enkelkind erklären, warum Papa nicht da ist. Weil er offen seine Meinung gesagt hat. Die letzte Festnahme war dramatisch:
"Es kamen Spezialeinheiten. Bewaffnete standen überall vor dem Haus auf der Straße. Sie verscheuchten die Passanten, riefen den Nachbarn zu: Bleiben Sie im Gebäude. Und dann stürmten sie die Wohnung. Als Manal, Alaas Frau öffnete, schlugen sie ihr ohne Grund ins Gesicht. Alaa haben sie auch geschlagen und dann im Schlafanzug abgeführt. Die Leute müssen gedacht haben, dass er sehr gefährlich ist."
"Er ist drinnen sicherer als draußen"
Dabei hatte Alaa Abdel Fattah 2013 nur an einer Demonstration teilgenommen, die gegen Ägyptens Militärgerichte protestierte. Ein guter Vorwand, um den Regimekritiker aus dem Verkehr zu ziehen, sagt seine Mutter. In einem umstrittenen Verfahren verurteilte ihn der Richter zu fünf Jahren Gefängnis. Seine jüngere Schwester Sanaa, damals mit dabei, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Wie der Zufall es will, sitzt sie zusammen mit Yara Sallam in einer Zelle, der jungen Rechtsanwältin, die gar nicht mal demonstriert hat, und jetzt hinter Gittern Papiervögel faltet, um sich irgendwie zu beschäftigen.
Aber: Selbst das Gefängnis kann im heutigen Ägypten Vorteile haben, meint Laila Souief:
"Bei Alaa denke ich, er ist drinnen sicherer als draußen. Es ist absurd, aber es ist wahr. Wir hatten solche Vorfälle wie die Ermordung der linken Aktivistin Shaimaa. Menschen wurden auf offener Straße umgebracht, so verletzt, dass sie behindert bleiben. Und – das sind die schlimmsten Fälle – es gibt Menschen, die einfach verschwunden sind. Wenn einer im Gefängnis sitzt, kann ich ihn wenigstens besuchen."