Im Grenzbereich des Lebens
Erwin Kochs Reportagen wurden in der "Zeit", der "Süddeutschen" und im "Stern" gedruckt, jetzt erscheinen sie in Buchform. In den Texten geht es um existenzielle Fragen des Daseins, aber auch um politische Probleme wie Sterbehilfe - sachlich und eindringlich zugleich.
Die Reportage ist eine journalistische Form, die Nähe zum jeweiligen Gegenstand voraussetzt. Sie gilt als "informierende Darstellungsform", die sich aus der rhetorischen Gattung des Augenzeugenberichts entwickelt hat. Das Fischer-Lexikon Publizistik definiert die Reportage als "tatsachenbetonten, aber persönlich gefärbten Erlebnisbericht". Im besten Fall entstehen "wahre Geschichten", die eher der Literatur als dem Journalismus zuzuordnen sind.
So jedenfalls verhält es sich bei Erwin Koch, dessen Reportagen in der "Zeit", der "Süddeutschen", im "Stern" oder in anderen Magazinen erscheinen, die aber auch wenn sie in Buchform gesammelt vorliegen, nichts von ihrer Dringlichkeit verlieren. Koch, 1956 im Kanton Luzern geboren und mehrfach mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für Reportagen ausgezeichnet, hat die seltene Fähigkeit, ganz und gar sachlich, "tatsachenbetont" zu schreiben, und doch zugleich starke Anteilnahme zu erzeugen.
In seinem neuen Band "Von dieser Liebe darf keiner wissen" kann man beobachten, wie er das macht. Jede Geschichte handelt von einem besonderen, tragischen Schicksal und wirft zugleich grundsätzliche Fragen auf. Er erzählt von einer Vierzehnjährigen, die an Krebs erkrankt, jahrelang um ihr Leben kämpft und darin von ihrer Familie aufopferungsvoll gestützt wird, bis sie dann sterben muss. Von einer Mutter, die ihre Tochter umbringt, aus Angst, der Ehemann könne der Tochter ansehen, dass er nicht deren leiblicher Vater ist. Von zwei Priestern in Bogotá, die ihre eigenen Mörder dingen, um ihre schwule Liebe zu verbergen. Von einem Mädchen, das mit einer schrecklichen Hautkrankheit zur Welt kommt, nicht überlebensfähig ist, und das nach qualvollen 260 Tagen endlich stirbt. Von einem brasilianischen Gewerkschafter, der von Großgrundbesitzern mit dem Tod bedroht wird, und der der Mutter eines Weggenossen mitteilen will, dass ihr Sohn erschossen worden ist. Oder von dem Maler Jörg Immendorf und seiner Nervenerkrankung, die ihn mit einer allmählich den ganzen Körper erfassenden Lähmung überzieht - bis zum unausbleiblichen Erstickungstod.
All diese Geschichten sind im Grenzbereich des Lebens angesiedelt und spüren der Frage nach, was das Leben lebenswert macht und wie es im Sterben zu leuchten beginnt. Dabei geht es um existenzielle Fragen des Daseins, aber auch um politische Probleme: um Sterbehilfe oder den Sinn medizinischer Lebensverlängerung um jeden Preis. Die Geschichten sind dann besonders eindringlich, wenn es Koch gelingt, die Gegebenheiten ohne eigene emotionale Beteiligung darzustellen. Diese Versachlichung erreicht er etwa dadurch, dass er demonstrativ Uhrzeiten und Straßennamen nennt, um das Geschehen zu verorten, oder wenn er Medikamente auflistet und ärztliche Diagnosen wiedergibt. Je präziser die Tatsachen, umso deutlicher wird aber auch, dass es darauf gar nicht ankommt, sondern vielmehr darauf, wie die Betroffenen selbst ihr Leben definieren und ob es ihnen wichtig ist, allen widrigen Umständen zum Trotz daran festzuhalten.
Nicht alle Geschichten in diesem Band haben diese Qualität. Nicht immer gelingt es Koch, den Einzelfall zu transzendieren und über Mitleid und Betroffenheit, die sich beim Lesen als Effekt einstellen, hinauszugelangen. Doch immer wieder ragen einzelne Sätze aus dem Geschehen heraus. So, wenn Jörg Immendorf Kunst als "das Bezwingen der Erdanziehung" definiert, oder wenn ein Physiker am Kernforschungszentrum CERN über das Rätsel der Zeit nachdenkt, das noch von niemandem wirklich begriffen worden sei. Zeit, sagt er, "ist Veränderung. Gäbe es keine Veränderung, gäbe es keine Zeit." Das sind die Dimensionen, in die dann auch die einzelnen Schicksale, wie sie von Erwin Koch festgehalten werden, einzuordnen wären, all das Sterben und Überleben, von dem er aus intensiver Nahdistanz heraus erzählt.
Besprochen von Jörg Magenau
So jedenfalls verhält es sich bei Erwin Koch, dessen Reportagen in der "Zeit", der "Süddeutschen", im "Stern" oder in anderen Magazinen erscheinen, die aber auch wenn sie in Buchform gesammelt vorliegen, nichts von ihrer Dringlichkeit verlieren. Koch, 1956 im Kanton Luzern geboren und mehrfach mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für Reportagen ausgezeichnet, hat die seltene Fähigkeit, ganz und gar sachlich, "tatsachenbetont" zu schreiben, und doch zugleich starke Anteilnahme zu erzeugen.
In seinem neuen Band "Von dieser Liebe darf keiner wissen" kann man beobachten, wie er das macht. Jede Geschichte handelt von einem besonderen, tragischen Schicksal und wirft zugleich grundsätzliche Fragen auf. Er erzählt von einer Vierzehnjährigen, die an Krebs erkrankt, jahrelang um ihr Leben kämpft und darin von ihrer Familie aufopferungsvoll gestützt wird, bis sie dann sterben muss. Von einer Mutter, die ihre Tochter umbringt, aus Angst, der Ehemann könne der Tochter ansehen, dass er nicht deren leiblicher Vater ist. Von zwei Priestern in Bogotá, die ihre eigenen Mörder dingen, um ihre schwule Liebe zu verbergen. Von einem Mädchen, das mit einer schrecklichen Hautkrankheit zur Welt kommt, nicht überlebensfähig ist, und das nach qualvollen 260 Tagen endlich stirbt. Von einem brasilianischen Gewerkschafter, der von Großgrundbesitzern mit dem Tod bedroht wird, und der der Mutter eines Weggenossen mitteilen will, dass ihr Sohn erschossen worden ist. Oder von dem Maler Jörg Immendorf und seiner Nervenerkrankung, die ihn mit einer allmählich den ganzen Körper erfassenden Lähmung überzieht - bis zum unausbleiblichen Erstickungstod.
All diese Geschichten sind im Grenzbereich des Lebens angesiedelt und spüren der Frage nach, was das Leben lebenswert macht und wie es im Sterben zu leuchten beginnt. Dabei geht es um existenzielle Fragen des Daseins, aber auch um politische Probleme: um Sterbehilfe oder den Sinn medizinischer Lebensverlängerung um jeden Preis. Die Geschichten sind dann besonders eindringlich, wenn es Koch gelingt, die Gegebenheiten ohne eigene emotionale Beteiligung darzustellen. Diese Versachlichung erreicht er etwa dadurch, dass er demonstrativ Uhrzeiten und Straßennamen nennt, um das Geschehen zu verorten, oder wenn er Medikamente auflistet und ärztliche Diagnosen wiedergibt. Je präziser die Tatsachen, umso deutlicher wird aber auch, dass es darauf gar nicht ankommt, sondern vielmehr darauf, wie die Betroffenen selbst ihr Leben definieren und ob es ihnen wichtig ist, allen widrigen Umständen zum Trotz daran festzuhalten.
Nicht alle Geschichten in diesem Band haben diese Qualität. Nicht immer gelingt es Koch, den Einzelfall zu transzendieren und über Mitleid und Betroffenheit, die sich beim Lesen als Effekt einstellen, hinauszugelangen. Doch immer wieder ragen einzelne Sätze aus dem Geschehen heraus. So, wenn Jörg Immendorf Kunst als "das Bezwingen der Erdanziehung" definiert, oder wenn ein Physiker am Kernforschungszentrum CERN über das Rätsel der Zeit nachdenkt, das noch von niemandem wirklich begriffen worden sei. Zeit, sagt er, "ist Veränderung. Gäbe es keine Veränderung, gäbe es keine Zeit." Das sind die Dimensionen, in die dann auch die einzelnen Schicksale, wie sie von Erwin Koch festgehalten werden, einzuordnen wären, all das Sterben und Überleben, von dem er aus intensiver Nahdistanz heraus erzählt.
Besprochen von Jörg Magenau
Erwin Koch: Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten
Nagel & Kimche, München 2013
192 Seiten, 17,90 Euro
Nagel & Kimche, München 2013
192 Seiten, 17,90 Euro