"Im Grundgesetz spielt der aktive Bürger keine Rolle"

Wolf Dieter Narr im Gespräch mit Susanne Führer |
Die repräsentative Demokratie, wie sie im 18. Jahrhundert konzipert wurde, ist nicht mehr funktionsfähig, sagt Wolf Dieter Narr, Professor emeritus der FU Berlin. Daher müssten Elemente ins Grundgesetz übernommen werden, die regelmäßig die "Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern vorsehen".
Susanne Führer: Stuttgart 21 – auf dem Papier ist es nur ein Bahnhof, der zwölf Meter tief unter die Erde gelegt werden soll, mitsamt einer Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Im wirklichen Leben ist Stuttgart 21 zu einem Symbol geworden weit über Stuttgart hinaus, ein Symbol für das gestörte Verhältnis von Bürgern und Politikern, ein Symbol für Bürgerprotest und für späte, viele sagen, zu späte Bürgerbeteiligung. Gestern ging die sechswöchige Schlichtung unter der Leitung Heiner Geißlers zu Ende, und der empfahl dann Stuttgart 21 plus. Taugt so ein Schlichtungsverfahren als Modell für die Zukunft der Bürgerbeteiligung? Das ist unser Thema mit dem Politikwissenschaftler Wolf Dieter Narr, Professor emeritus der FU Berlin. Guten Morgen, Herr Narr!

Wolf Dieter Narr: Guten Morgen!

Führer: Gestern hat Geißler nun seinen Schlichterspruch gefällt, Stuttgart 21 plus, also kurz gesagt, unterirdisch ja, aber es soll einen Stresstest geben und zwei Gleise mehr und noch einiges andere. Wie bewerten Sie diesen Spruch, Herr Narr?

Narr: Das Ergebnis ist nicht überraschend, dass erstens Geißler Stuttgart 21 akzeptiert hat prinzipiell, dass er zweitens aber eine ganze Reihe von Auflagen diskutiert und vorschlägt, die erhebliche Veränderungen in sich bergen. Dieser zweite Punkt ist auffällig, auch im Hinblick auf das Planungsverfahren selber, die Landesregierung und auch die Bundesregierung haben immer gesagt – jahrzehntelang ist dieses Projekt höchst peinlich –, jedes Komma ist überprüft worden, geplant worden; stimmt alles? Offenbar stimmt nicht alles, und die Vorschläge, die Geißler gemacht hat, sind meines Erachtens sehr vernünftig, werden aber noch zusätzliche Kosten haben, weil die Planung schon so weit vorgediegen ist, dass nämlich schon viel zu viel Aufträge vergeben worden sind, die nicht mehr zurückgenommen werden können.

Das war ja auch das Argument der Landesregierung, wir können das Projekt nicht mehr aufgeben, die Aufgabe wäre so teuer, dass sozusagen die Planung selber nicht teurer ist, als wenn man sie aufgeben würde. Also mit anderen Worten: Das Geißler’sche Ergebnis ist in der Mitte, das heißt, nicht in der Mitte, das ist schon mehr für die Landesregierung. Das Projekt ist sozusagen durchgekommen, die Kritik ist nur am Rande, aber sicher am Rande erheblich genug, um zu zeigen, dass diese Art von Planungen, diese Art von Großprojekten ganz offensichtlich nicht so rational durchkalkuliert sind ohne Beteiligung aller möglichen anderen Leute, unter anderem der Bürgerinnen und Bürger, dass es sinnvoll durchgesetzt werden kann.

Führer: Kann man vielleicht sagen, dass unter den gegebenen Umständen das der bestmögliche Schlichterspruch war?

Narr: Unter den gegebenen Umständen war das der bestmögliche Schlichterspruch, aber Geißler hat natürlich vorher, würde ich annehmen – ich bin mir ziemlich sicher – akzeptiert, dass er Stuttgart 21 nicht infrage stellen wird. Der Schlichterspruch war schon eine Schlichtung im Sinne einer Besänftigung, nachdem die Grundentscheidung gefallen ist. Also mit anderen Worten: Das konnte er auch, Herr Geißler, das konnte er auch nicht mehr infrage stellen. Aber natürlich sind die Gegner von Stuttgart 21 und generell die Argumente, die man demokratisch dagegen erheben könnte im Verfahren, so gewichtig, dass man mit dieser Entscheidung, durchaus auch mit der Schlichterentscheidung, so sehr man Herrn Geißler loben kann, nicht glücklich ist.

Führer: Na ja, also Herr Geißler wurde als Schlichter ja von beiden Seiten akzeptiert, das sollte man sagen, das ist ja Vorbedingung für einen Schlichter, abgesehen von den Parkschützern, die sich gar nicht an den Gesprächen beteiligt haben, aber das Aktionsbündnis hat ihn auch akzeptiert, und Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, hat ja auch heute morgen gesagt, er kann mit diesem Spruch leben. Herr Narr, lassen Sie uns mal auf das Verfahren selbst blicken: Dieses Schlichtungsverfahren, was ja jetzt doch landauf, landab sehr gelobt wird – bekommt das von Ihnen bessere Noten als der Spruch selbst?

Narr: Na ja, dass man, wenn zwei Parteien oder mehrere Parteien in Konflikt miteinander sind, man keine Lösung findet, dass man dann nicht entweder die Polizei einsetzt, wie das kurz geschehen ist von Herrn Mappus, oder aber so oder so eine Entscheidung durchzieht, das finde ich sehr richtig, und ich finde generell – das gilt ja auch für ... Sie müssen wissen, Mediation ist ja in Mode, auch in Gerichtsprozessen:

Selbstverständlich kann das sinnvoll sein, kann erstens Kosten ersparen und zweitens lässt es die Parteien wechselseitig miteinander ins Gespräch kommen, man versucht etwas, was aufs Äußerste zu wünschen ist, dass man miteinander redet und sich nicht die Fäuste ins Gesicht schlägt, oder so. Insofern ist dieses Verfahren akzeptabel, aber es kam, wie Sie ja selber wissen, viel zu spät, wie auch die Stuttgarter viel zu spät kamen in gewisser Weise. Es waren ja die sieben Schwaben, die kamen, als der Hase eigentlich schon weggelaufen war, und dann kamen die sieben Schwaben und haben den berühmten Hasen zu jagen versucht, der war aber schon entschieden. Und das ist sozusagen die Schwierigkeit der ganzen Sache.

Das liegt aber wiederum daran, dass Planungsverfahren dieser Art in der Bundesrepublik immer geschehen mit den offiziellen Instanzen, Expertengruppen, Interessengruppen, dem Parlament, den Regierungen. Die Bürger spielen im Prinzip nur marginal ab und an eine Ausweichrolle, eine sozusagen Gelatinerolle, sie werden sozusagen dazu benutzt, um zu sagen, ja, wir haben auch die Bürger beteiligt. Faktisch ist es so, dass die Planungsverfahren in solchen Projekten mit Bürgern überhaupt nichts zu tun haben.

Führer: Sagt der Politikwissenschaftler Wolf Dieter Narr im Deutschlandradio Kultur. Herr Narr, aber gerade deswegen müsste doch jetzt dieses Schlichtungsverfahren auch gut taugen als Modell für weitere Auseinandersetzungen. Es ist ja doch ziemlich einmalig: Zum einen haben Befürworter und Gegner des Projekts, wie immer wieder betont wurde, auf Augenhöhe miteinander diskutiert, jede Seite hat sieben Vertreter entsandt, es wurde im Rathaussaal gesprochen, und zum anderen wurde das auch noch öffentlich gemacht, also sprich im Fernsehen und im Internet übertragen. Das ist doch wiederum die Erfüllung der Forderung nach der Transparenz par excellence, kann man sagen.

Narr: Ja, ganz so blauäugig und hochhängen darf man es nicht, wie Sie es jetzt in Ihren Worten getan haben. Zunächst mal: Das Schlichtungsverfahren war, wenn Sie so wollen, für die etablierten Gruppen, das Parlament, auch der Regierung vor allem, die einzige Möglichkeit, dass sie den Wahlen, die demnächst anstehen, nicht schlechterdings herunterfallen. Sie mussten ein Mittel finden jenseits des Polizeieinsatzes und des schlichten Durchsetzens. Und da sie die Entscheidung getroffen hatten, schon kostenreich sich engagiert hatten, sie nicht mehr zurücknehmen wollten, war also dann die Schlichtung eine Besänftigung in dieser Angelegenheit.

Führer: Also eine Beruhigungspille, etwas Baldrian.

Narr: Ja. Richtig ist – und da stimme ich Ihnen vollkommen zu, das haben Sie ja auch, haben wir ja vorher schon kurz festgestellt –, dass es gut ist, Verfahren zu haben, wenn Konflikte da sind, frühzeitig die Gruppen miteinander reden zu lassen und dabei auch Bürgerinnen und Bürger, die davon betroffen sind, in der Tat finanziell, aber auch im Hinblick auf die Veränderung der Landschaft und so weiter und so fort, zu beteiligen, auch übrigens dann zu beteiligen, wenn sie gar nicht direkt betroffen sind.

Demokratie lebt ja davon, dass sie annimmt, eigentlich, dass Bürgerinnen und Bürger mit dabei sind. Aber ein Modell kann es natürlich nicht sein, denn da ist das Verfahren selber viel zu spät angelaufen. Dazu ist die Art und Weise, wie Herr Geißler eingesetzt worden ist und wie er agiert hat, eine Art Sahnehäubchen, nachdem der Kaffee längst schon präpariert worden ist. Also das Sahnehäubchen am Schluss, für das ich durchaus bin, aber das den Kaffee nicht mehr verändert.

Führer: Gut, das ist jetzt der Zeitpunkt, aber das Verfahren an sich , ... also Sie haben gesagt, die Bürger müssten beteiligt werden, klar, das unterschreiben wir alle, wir leben in einer Demokratie, die Bürger sind auf allen Ebenen beteiligt, aber die Frage ist ja jetzt: Nehmen wir mal so etwas, Atomendlager Gorleben, das geplante, oder möglicherweise geplante – wie würde da ein Schlichtungsverfahren aussehen, wie würde da die Bürgerbeteiligung aussehen?

Narr: Ich kann das nicht sozusagen als Muster vorlegen, das ist auch unsinnig. Ich kann nur sagen: Ich habe mir gestern das Grundgesetz noch mal durchgeblättert und was ich ohnehin wusste, hat sich beim Nachlesen wieder bestätigt: Im Grundgesetz spielt der aktive Bürger keine Rolle. Er ist nur bei den Wahlen beteiligt, im Artikel 20 Absatz 2 Satz 1, ansonsten herrscht in der Bundesrepublik das, was ich selber mal repräsentativen Absolutismus genannt habe. Das heißt: Die gewählten Instanzen und ihre Vertreter agieren, ohne je links oder rechts, nach unten oder oben nach dem Bürger zu fragen.

Die einzigen beiden Grundgesetzartikel, die in etwa den Bürger benennen, ist der Artikel 8, Demonstrationsrecht, und das Demonstrationsrecht wird ja in einer Weise eingeengt, dass es sozusagen manchmal in Gefahr ist, und zweitens das Petitionsrecht, Artikel 17. Wenn Sie aber Massenpetitionen stellen – ich war selber schon dabei, habe auch entsprechende Vorschläge entwickelt –, dass sich 20.000, 30.000, 40.000 Leute sich beteiligen und ans Parlament richten, um dieses oder jenes zu erreichen, werden die meisten Petenten behandelt wie ein Individuum: Sie kriegen irgendwann mal die Auskunft des Petitionsausschusses, der sich beim Ministerium erkundigt hat, wie das Ministerium die Lage sieht, und schicken den Brief des Ministeriums mit dem anderen Briefkopf zurück an den Petenten.

Das ist sozusagen ... Ansonsten ist Bürgerbeteiligung beim Planungsverfahren mitnichten vorgesehen. Experten spielen eine Rolle, Parlament spielt eine Rolle, es wird so getan, als ob das Parlament in der Lage wäre, die Bürger zu ersetzen. Das ist die Idee der repräsentativen Demokratie. In den Größenordnungen, die wir haben, in der Komplexität, die wir haben, bei der Menge der Leute, die wir haben, ist die repräsentative Demokratie, wie sie im 18. Jahrhundert konzipiert worden ist, nicht mehr funktionsfähig. Deswegen, noch ein Satz, müssten sie längst dringend nicht das Grundgesetz generell ändern, aber Elemente ins Grundgesetz nehmen, die regelmäßig Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern vorsehen, übrigens auch in Schulbereichen und anderen Bereichen.

Führer: Dafür plädiert der Politologe Wolf Dieter Narr. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
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