"Im Moment habe ich immer diesen schalen Beigeschmack"
Die ehemalige Grünen-Politikerin und Theologin Antje Vollmer hat anlässlich der Debatte um die NS-Vergangenheit des Schriftstellers Erwin Strittmatter vor allzu späten und damit auch allzu billigen moralischen Siegen gewarnt. Eine Auseinandersetzung zur rechten Zeit sei richtig, aber aus diesen späten Siegen komme viel Selbstgerechtigkeit, sagte Vollmer.
Frank Meyer: Über den Fall Erwin Strittmatter wurde in den vergangenen Wochen bei sehr gut besuchten Veranstaltungen in Berlin und Potsdam diskutiert. Über die Frage, warum hat dieser angesehene DDR-Schriftsteller nie über seine Zeit in einem SS-Polizeiregiment gesprochen. Ein ähnlich langes Schweigen kennen wir von Günter Grass, von Walter Jens und von anderen sehr prägenden Intellektuellen. Der Schriftsteller Manfred Flügge will eine Debatte über dieses Schweigen anstoßen. In der vergangenen Woche hat er hier bei uns im "Radiofeuilleton" erklärt, worum es ihm dabei geht.
Manfred Flügge: Es gibt Leute, die große Verdienste haben um die Freiheit, um die Liberalität, um die Kritikfähigkeit, um die Streitkultur, um die Gedächtniskultur dieser Republik, aber sie sind unfähig, über ihre eigene Geschichte in zureichender Weise zu reden, und deswegen kommen ab und zu mal Skandale hoch.
Meyer: Das sagt Manfred Flügge. Antje Vollmer ist jetzt bei uns im Studio, die Theologin, Publizistin, frühere Grünen-Politikerin, elf Jahre lang war sie Bundestagsvizepräsidentin. Antje Vollmer, Manfred Flügge hat uns auch davon erzählt, welche Erfahrungen ihn dazu gebracht haben, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das waren Enttäuschungen unter anderem, die er erlebt hat bei dem Politiker Carlo Schmid, der nicht geredet hat über seine Zeit als Wehrmachtsoffizier, Enttäuschung über den Fernsehjournalisten Werner Höfer etwa oder über Walter Jens. Haben Sie Ähnliches erlebt, ähnliche Enttäuschungen mit Menschen, die nicht über ihre NS-Vergangenheit reden wollten?
Antje Vollmer: Ja, ich gehöre ja zu der Generation, die sich nun wirklich sehr exzessiv und intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hat. Und natürlich habe ich auch die ganze Palette von Erfahrungen durchgemacht. Von Enttäuschungen, Empörungen, eigenen Richtergefühlen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich gerade gegenüber diesen vielen, vielen späten Debatten, faktisch am Ende eines Lebenswerkes von Menschen, zunehmend irritiert wird, was uns denn eigentlich so sehr treibt an diesem späten Zeitpunkt.
Meyer: Aber wollen Sie damit sagen, dass Günter Grass zum Beispiel erst so spät über seine jugendliche Verirrung, nenne ich es jetzt mal, geredet hat, dass das für Sie kein Problem ist?
Vollmer: Ich glaube, dass Günter Grass damals, als es vielleicht richtig an der Zeit gewesen wäre - und natürlich würde sich das jeder wünschen, dass ein so wichtiger Mensch genau den richtigen Zeitpunkt findet -, dass er nie genau wusste, ob er auf ein faires Publikum trifft. Und ich frage mich heute mehr, was uns eigentlich so treibt. Ich habe ja gesagt, wenn es alle diese Sachen nicht sind, dann sollte man doch mal nachdenken, in welcher Gesellschaft, in welcher Offenheit dann möglichst viel von der gewünschten Wahrheit rauskommt.
Und da muss ich Ihnen sagen, das beste Beispiel, was ich weltweit sehe in Bezug auf die Aufarbeitung von großen Verbrechen, ist die Wahrheitskommission in Südafrika. Aber da gab es eine gesellschaftliche Übereinkunft, nämlich zu sagen, wir wollen möglichst viel Wahrheit haben, aber deswegen wird dieser Wahrheit auch möglichst wenig soziale Ächtung folgen. Und die Angst vor sozialer Ächtung, das ist doch wahrscheinlich genau der Grund gewesen, warum Einzelne das nicht gemacht haben. Dann haben sie sich auf den individuellen Weg begeben und haben gesagt, ich mache das mit meinem Gewissen, mit meinem Richter, mit mir selber aus. Und dass gerade die Persönlichkeiten, um die es jetzt hier geht, dass die sich sehr intensiv bemüht haben, redlich zu leben, ab dann nie wieder in dieser Frage unaufmerksam zu sein, das kann man, glaube ich, den meisten nicht bestreiten.
Meyer: Aber ist nicht auch ein Teil des Problems, dass solche Intellektuellen auf jeden braunen Fleck auf der Weste von Konservativen zum Beispiel gezeigt haben, aber eben nicht bereit waren, über die eigene, ja auch entschuldbare jugendliche Verführbarkeit zu reden?
Vollmer: Gut, dann erheben wir einmal das Ideal einer wirklich toleranten, nicht richtenden Gesellschaft. Das haben die auch nicht erfüllt. Was weiß man denn, was für Menschen wirklich der richtige Weg ist, mit Schuld umzugehen? Ich finde, es ist sehr richtig, wenn es zeitnah ist, einfach zu sagen, egal wie, diese Auseinandersetzung muss geführt werden. Eine Auseinandersetzung zur rechten Zeit ist - und so ist es ja dann auch in den 60er-Jahren bei uns gewesen - ein sehr verschärfter Generationenkonflikt, mit großen Härten und mit großen Risiken, auch mit großen Übertreibungen und Ungerechtigkeiten und mit Verwundeten.
Aber das, finde ich, ist der richtige Zeitpunkt. Weil da ging es nicht nur darum, jemand anders zu verstehen, sondern es ging auch wirklich darum, für die Gesellschaft sich Befreiung zu verschaffen. Aber im Moment habe ich irgendwie immer diesen schalen Beigeschmack von allzu späten und damit auch allzu billigen moralischen Siegen. Und ich finde, aus diesen späten Siegen kommt viel Selbstgerechtigkeit. Man kann noch ein paar Götter vom eigenen Hausaltar stürzen. Aber ob das wirklich für die Gesellschaft heute die Befreiung noch gibt?
In der Summe haben wir in der deutschen Geschichte verschiedene Modelle durchprobiert. Wir haben das Nichts-wissen-Wollen in der Adenauer-Zeit, wir haben das Viel-und-heftig-wissen-Wollen in der 68er-Generation, wir haben in Bezug mit der Stasi-Vergangenheit doch eine sehr umfassende, sehr intensive Aufklärung gehabt. Und wenn wir das alles überblicken, können wir ja in der Summe sagen, wir sind doch eine stabile Demokratie geworden, auf den unterschiedlichsten Wegen. Aber keins von diesen Methoden war der wirkliche Königsweg.
Und das, was mir zunehmend so zweifelhaft ist, ist diese Ersetzung des katholischen Beichtinstituts durch öffentliche, mediale Verhöre, die ja in der Regel so eine Art von Pranger sind. Und das von Leuten, die in der Zeit nicht gelebt haben. Nun sage ich nicht, man kann überhaupt nicht darüber urteilen. Aber ich würde sagen, dass man jedenfalls so eine Auseinandersetzung, wenn man sie erst mit den Toten führt oder mit Leuten am Ende ihres Lebensweges, dann macht man es sich auch selber ziemlich billig.
Die Bundesrepublik war immer eine offene Gesellschaft. Man konnte in den 50er-Jahren so diskutieren, man konnte es in den 60er-, in den 70er-Jahren. Damals stand alles auch noch ein bisschen auf Messers Schneide, auch wie entwickelt sich diese Gesellschaft. Aber nun, wo sie sich so entwickelt hat, noch mal zu sagen, was also mit dem 17-jährigen Günter Grass war, ich finde das ehrlich gesagt ein bisschen langweilig. Zumal doch dazukommt, man weiß doch, was ein 17-Jähriger ist, man weiß dann, aus welcher Familie er kam. Wie viel Freiheit hat ein junger Mensch dann wirklich, sich da zu entwickeln? Ich finde, zählen tut das für den Wert eines Leben, wie viel er in seiner eigenen Biografie zurückgelegt hat, auch im Umgang mit eigener Schuld, auch im Umgang mit anderen, und wie viel Freiheits- und Toleranzgewinn er für die Gesellschaft erreicht hat.
Meyer: Sie haben sich mit diesem Thema - wenn wir's mal weiter fassen - auseinandergesetzt. Sie haben in den 80er-Jahren eine Dialoginitiative mit der Rote Armee Fraktion angeschoben, und ich meine, das ist in der Weise ein ähnliches Thema, weil es darum geht, ein Schweigen zu brechen. Man war an politischer Gewalt beteiligt, man war an Extremismus beteiligt. Wie kommt man darüber mit der Gesellschaft wieder ins Gespräch? Würden Sie dann sagen, das war natürlich viel näher daran als die Phänomene, über die wir jetzt reden? Was haben Sie damit erreicht, was würden Sie sagen?
Vollmer: Gerade im Umgang mit dem Terrorismus habe ich eine Menge von meiner heutigen Haltung jetzt gelernt. Nämlich erstens habe ich gelernt, dass natürlich der Terrorismus genau eine solche Übersprungsreaktion, ein Überreagieren auf etwas war, was man gefühlt hat. Der war auch voll von persönlichen Rachebedürfnissen. Also statt zu Hause in der Familie zu fragen, was hast du, Papa, gemacht, hat man lieber irgendeinen Repräsentanten des Staates weggebombt. Solche Verschiebung hat es gegeben.
Ich frage immer nach dem Freiheitsgewinn und auch nach dem Toleranzgewinn, dass man meint, also die wollen wir jetzt aber noch mal in der öffentlichen Beichte haben oder die wollen wir noch mal an den Pranger stellen. Eigentlich sind zivile Gesellschaften immer die, die genau diese Prangersituation vermeiden und sagen, wir wollen generell Freiheit haben und wir wollen individuell wissen, dass die Menschen fehlbare Subjekte sind.
Meyer: Klar, ein Pranger ist eine dumme Institution, da sind wir uns einig. Aber die Vorgänge begleiten uns ja, es tauchen immer wieder neue NSDAP-Mitgliedskarten zum Beispiel auf. Hans Werner Henze, der Komponist, ist jetzt im Gespräch. Man weiß noch nicht, ob da etwas dran ist, man weiß es nicht.
Vollmer: Eben, man weiß überhaupt nicht. Man hat nicht mal eine Unterschrift.
Meyer: Aber wenn man etwas weiß, wie soll man damit umgehen heute?
Vollmer: Also erstmal glaube ich, dass man nicht einfach davon weiß, sondern dass es gerade jetzt ein gezieltes Suchen gibt. Und da frage ich mich, das sind tapfere Leute, die jetzt anfangen zu suchen? Hätten sie in den 60er-Jahren angefangen zu suchen, da gab es dieselben Karteien schon. Das ist doch eine verblüffende Frage, warum das jetzt auf einmal so wichtig ist. Und ich glaube, das hat mit dieser Lust zum Sturz der Hausgötter zu tun, und manchmal ist es ein bisschen … Vielleicht ist es auch nur Entertainment. Es ist ja gar keine wirkliche Gefahr mehr dahinter.
.enn ich eine Biografie von Henze schreibe und stoße auf so was, muss ich das erwähnen und muss ihn dann rechtzeitig dazu fragen. Also natürlich gibt es eine Notwendigkeit zur historischen Redlichkeit. Aber das war ja nun in diesem Fall auch nicht das Motiv, sondern ich glaube, in diesem Fall hat man gesagt, och, mal gucken, was wir noch alles finden. Und dann auch in dem Sinne, wie jetzt zum Beispiel diese Debatte über Jens läuft, da geht so vieles mit rein, da will man eine ganz andere Frage, nämlich die Frage von Sterbehilfe plötzlich mit so einem individuellen Fall lösen. Das sind alles Instrumentalisierungen und sind von daher auch alles entweder Macht- oder Entertainmentspiele.
Meyer: Sagt Antje Vollmer, die frühere Grünen-Politikerin. Wir haben geredet über das Verhältnis bundesdeutscher Intellektueller, ostdeutscher Intellektueller zu ihrer NS-Vergangenheit. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Manfred Flügge: Es gibt Leute, die große Verdienste haben um die Freiheit, um die Liberalität, um die Kritikfähigkeit, um die Streitkultur, um die Gedächtniskultur dieser Republik, aber sie sind unfähig, über ihre eigene Geschichte in zureichender Weise zu reden, und deswegen kommen ab und zu mal Skandale hoch.
Meyer: Das sagt Manfred Flügge. Antje Vollmer ist jetzt bei uns im Studio, die Theologin, Publizistin, frühere Grünen-Politikerin, elf Jahre lang war sie Bundestagsvizepräsidentin. Antje Vollmer, Manfred Flügge hat uns auch davon erzählt, welche Erfahrungen ihn dazu gebracht haben, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das waren Enttäuschungen unter anderem, die er erlebt hat bei dem Politiker Carlo Schmid, der nicht geredet hat über seine Zeit als Wehrmachtsoffizier, Enttäuschung über den Fernsehjournalisten Werner Höfer etwa oder über Walter Jens. Haben Sie Ähnliches erlebt, ähnliche Enttäuschungen mit Menschen, die nicht über ihre NS-Vergangenheit reden wollten?
Antje Vollmer: Ja, ich gehöre ja zu der Generation, die sich nun wirklich sehr exzessiv und intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hat. Und natürlich habe ich auch die ganze Palette von Erfahrungen durchgemacht. Von Enttäuschungen, Empörungen, eigenen Richtergefühlen. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich gerade gegenüber diesen vielen, vielen späten Debatten, faktisch am Ende eines Lebenswerkes von Menschen, zunehmend irritiert wird, was uns denn eigentlich so sehr treibt an diesem späten Zeitpunkt.
Meyer: Aber wollen Sie damit sagen, dass Günter Grass zum Beispiel erst so spät über seine jugendliche Verirrung, nenne ich es jetzt mal, geredet hat, dass das für Sie kein Problem ist?
Vollmer: Ich glaube, dass Günter Grass damals, als es vielleicht richtig an der Zeit gewesen wäre - und natürlich würde sich das jeder wünschen, dass ein so wichtiger Mensch genau den richtigen Zeitpunkt findet -, dass er nie genau wusste, ob er auf ein faires Publikum trifft. Und ich frage mich heute mehr, was uns eigentlich so treibt. Ich habe ja gesagt, wenn es alle diese Sachen nicht sind, dann sollte man doch mal nachdenken, in welcher Gesellschaft, in welcher Offenheit dann möglichst viel von der gewünschten Wahrheit rauskommt.
Und da muss ich Ihnen sagen, das beste Beispiel, was ich weltweit sehe in Bezug auf die Aufarbeitung von großen Verbrechen, ist die Wahrheitskommission in Südafrika. Aber da gab es eine gesellschaftliche Übereinkunft, nämlich zu sagen, wir wollen möglichst viel Wahrheit haben, aber deswegen wird dieser Wahrheit auch möglichst wenig soziale Ächtung folgen. Und die Angst vor sozialer Ächtung, das ist doch wahrscheinlich genau der Grund gewesen, warum Einzelne das nicht gemacht haben. Dann haben sie sich auf den individuellen Weg begeben und haben gesagt, ich mache das mit meinem Gewissen, mit meinem Richter, mit mir selber aus. Und dass gerade die Persönlichkeiten, um die es jetzt hier geht, dass die sich sehr intensiv bemüht haben, redlich zu leben, ab dann nie wieder in dieser Frage unaufmerksam zu sein, das kann man, glaube ich, den meisten nicht bestreiten.
Meyer: Aber ist nicht auch ein Teil des Problems, dass solche Intellektuellen auf jeden braunen Fleck auf der Weste von Konservativen zum Beispiel gezeigt haben, aber eben nicht bereit waren, über die eigene, ja auch entschuldbare jugendliche Verführbarkeit zu reden?
Vollmer: Gut, dann erheben wir einmal das Ideal einer wirklich toleranten, nicht richtenden Gesellschaft. Das haben die auch nicht erfüllt. Was weiß man denn, was für Menschen wirklich der richtige Weg ist, mit Schuld umzugehen? Ich finde, es ist sehr richtig, wenn es zeitnah ist, einfach zu sagen, egal wie, diese Auseinandersetzung muss geführt werden. Eine Auseinandersetzung zur rechten Zeit ist - und so ist es ja dann auch in den 60er-Jahren bei uns gewesen - ein sehr verschärfter Generationenkonflikt, mit großen Härten und mit großen Risiken, auch mit großen Übertreibungen und Ungerechtigkeiten und mit Verwundeten.
Aber das, finde ich, ist der richtige Zeitpunkt. Weil da ging es nicht nur darum, jemand anders zu verstehen, sondern es ging auch wirklich darum, für die Gesellschaft sich Befreiung zu verschaffen. Aber im Moment habe ich irgendwie immer diesen schalen Beigeschmack von allzu späten und damit auch allzu billigen moralischen Siegen. Und ich finde, aus diesen späten Siegen kommt viel Selbstgerechtigkeit. Man kann noch ein paar Götter vom eigenen Hausaltar stürzen. Aber ob das wirklich für die Gesellschaft heute die Befreiung noch gibt?
In der Summe haben wir in der deutschen Geschichte verschiedene Modelle durchprobiert. Wir haben das Nichts-wissen-Wollen in der Adenauer-Zeit, wir haben das Viel-und-heftig-wissen-Wollen in der 68er-Generation, wir haben in Bezug mit der Stasi-Vergangenheit doch eine sehr umfassende, sehr intensive Aufklärung gehabt. Und wenn wir das alles überblicken, können wir ja in der Summe sagen, wir sind doch eine stabile Demokratie geworden, auf den unterschiedlichsten Wegen. Aber keins von diesen Methoden war der wirkliche Königsweg.
Und das, was mir zunehmend so zweifelhaft ist, ist diese Ersetzung des katholischen Beichtinstituts durch öffentliche, mediale Verhöre, die ja in der Regel so eine Art von Pranger sind. Und das von Leuten, die in der Zeit nicht gelebt haben. Nun sage ich nicht, man kann überhaupt nicht darüber urteilen. Aber ich würde sagen, dass man jedenfalls so eine Auseinandersetzung, wenn man sie erst mit den Toten führt oder mit Leuten am Ende ihres Lebensweges, dann macht man es sich auch selber ziemlich billig.
Die Bundesrepublik war immer eine offene Gesellschaft. Man konnte in den 50er-Jahren so diskutieren, man konnte es in den 60er-, in den 70er-Jahren. Damals stand alles auch noch ein bisschen auf Messers Schneide, auch wie entwickelt sich diese Gesellschaft. Aber nun, wo sie sich so entwickelt hat, noch mal zu sagen, was also mit dem 17-jährigen Günter Grass war, ich finde das ehrlich gesagt ein bisschen langweilig. Zumal doch dazukommt, man weiß doch, was ein 17-Jähriger ist, man weiß dann, aus welcher Familie er kam. Wie viel Freiheit hat ein junger Mensch dann wirklich, sich da zu entwickeln? Ich finde, zählen tut das für den Wert eines Leben, wie viel er in seiner eigenen Biografie zurückgelegt hat, auch im Umgang mit eigener Schuld, auch im Umgang mit anderen, und wie viel Freiheits- und Toleranzgewinn er für die Gesellschaft erreicht hat.
Meyer: Sie haben sich mit diesem Thema - wenn wir's mal weiter fassen - auseinandergesetzt. Sie haben in den 80er-Jahren eine Dialoginitiative mit der Rote Armee Fraktion angeschoben, und ich meine, das ist in der Weise ein ähnliches Thema, weil es darum geht, ein Schweigen zu brechen. Man war an politischer Gewalt beteiligt, man war an Extremismus beteiligt. Wie kommt man darüber mit der Gesellschaft wieder ins Gespräch? Würden Sie dann sagen, das war natürlich viel näher daran als die Phänomene, über die wir jetzt reden? Was haben Sie damit erreicht, was würden Sie sagen?
Vollmer: Gerade im Umgang mit dem Terrorismus habe ich eine Menge von meiner heutigen Haltung jetzt gelernt. Nämlich erstens habe ich gelernt, dass natürlich der Terrorismus genau eine solche Übersprungsreaktion, ein Überreagieren auf etwas war, was man gefühlt hat. Der war auch voll von persönlichen Rachebedürfnissen. Also statt zu Hause in der Familie zu fragen, was hast du, Papa, gemacht, hat man lieber irgendeinen Repräsentanten des Staates weggebombt. Solche Verschiebung hat es gegeben.
Ich frage immer nach dem Freiheitsgewinn und auch nach dem Toleranzgewinn, dass man meint, also die wollen wir jetzt aber noch mal in der öffentlichen Beichte haben oder die wollen wir noch mal an den Pranger stellen. Eigentlich sind zivile Gesellschaften immer die, die genau diese Prangersituation vermeiden und sagen, wir wollen generell Freiheit haben und wir wollen individuell wissen, dass die Menschen fehlbare Subjekte sind.
Meyer: Klar, ein Pranger ist eine dumme Institution, da sind wir uns einig. Aber die Vorgänge begleiten uns ja, es tauchen immer wieder neue NSDAP-Mitgliedskarten zum Beispiel auf. Hans Werner Henze, der Komponist, ist jetzt im Gespräch. Man weiß noch nicht, ob da etwas dran ist, man weiß es nicht.
Vollmer: Eben, man weiß überhaupt nicht. Man hat nicht mal eine Unterschrift.
Meyer: Aber wenn man etwas weiß, wie soll man damit umgehen heute?
Vollmer: Also erstmal glaube ich, dass man nicht einfach davon weiß, sondern dass es gerade jetzt ein gezieltes Suchen gibt. Und da frage ich mich, das sind tapfere Leute, die jetzt anfangen zu suchen? Hätten sie in den 60er-Jahren angefangen zu suchen, da gab es dieselben Karteien schon. Das ist doch eine verblüffende Frage, warum das jetzt auf einmal so wichtig ist. Und ich glaube, das hat mit dieser Lust zum Sturz der Hausgötter zu tun, und manchmal ist es ein bisschen … Vielleicht ist es auch nur Entertainment. Es ist ja gar keine wirkliche Gefahr mehr dahinter.
.enn ich eine Biografie von Henze schreibe und stoße auf so was, muss ich das erwähnen und muss ihn dann rechtzeitig dazu fragen. Also natürlich gibt es eine Notwendigkeit zur historischen Redlichkeit. Aber das war ja nun in diesem Fall auch nicht das Motiv, sondern ich glaube, in diesem Fall hat man gesagt, och, mal gucken, was wir noch alles finden. Und dann auch in dem Sinne, wie jetzt zum Beispiel diese Debatte über Jens läuft, da geht so vieles mit rein, da will man eine ganz andere Frage, nämlich die Frage von Sterbehilfe plötzlich mit so einem individuellen Fall lösen. Das sind alles Instrumentalisierungen und sind von daher auch alles entweder Macht- oder Entertainmentspiele.
Meyer: Sagt Antje Vollmer, die frühere Grünen-Politikerin. Wir haben geredet über das Verhältnis bundesdeutscher Intellektueller, ostdeutscher Intellektueller zu ihrer NS-Vergangenheit. Herzlichen Dank für das Gespräch.