"Im Personenverkehr sehe ich die Zukunft eher im Nahverkehr"

Michael Holzhey im Gespräch mit Katrin Heise |
Das Konzept der ICE-Strecken findet der Verkehrswissenschaftler Michael Holzhey fragwürdig, nicht den Zug an sich. Nach 20 Jahren Hochgeschwindigkeitsverkehr würden nicht nur die ländlichen Regionen, sondern auch die Städte mit 40- bis 200.000 Einwohnern im Bahnverkehr abgehängt.
Katrin Heise: Es gibt Berufspendler zwischen Berlin und Wolfsburg oder Berlin und Hamburg, möglich ist das, komfortabel, durch den Hochgeschwindigkeitszug, nämlich den ICE. Irgendwann soll es dann noch bequemer werden, im neuerlich vorgestellten ICX.

Gestern hatte aber der ICE erst mal Geburtstag. Vor 20 Jahren, am 29. Mai 91, eröffnete Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Kassel-Wilhelmshöhe das Zeitalter des Hochgeschwindigkeitsverkehrs. Allerdings tat er das mit Verspätung – der Zug, in dem Weizsäcker saß, wurde durch einen Notstopp aufgehalten. Vielleicht war das ja schon ein schlechtes Omen.

Kritiker am ICE gibt es jedenfalls genug, einer von ihnen ist der Verkehrswissenschaftler Michael Holzhey. Er berät Kommunen und Verkehrsverbünde in Fragen des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, vor wenigen Tagen erschien ein von ihm verfasster "Wettbewerbsreport Eisenbahn".

Herr Holzhey, ich grüße Sie! Für Sie war der gestrige 20. Geburtstag des ICE wahrscheinlich kein Grund zu feiern, er war ja als Revolution auf die Schiene gedacht. "Doppelt so schnell wie das Auto, halb so schnell wie das Flugzeug" hieß der Werbeslogan – war damals eigentlich Geschwindigkeit vom Kunden so sehr verlangt und in den Vordergrund gestellt?

Michael Holzhey: Was der Kunde genau verlangt, das ist schwer, weil man dann ja quasi jeden einzelnen befragen müsste, aber die Vision damals war, dass man im Prinzip halb so schnell wie das Flugzeug ist, aber doppelt so schnell wie das Auto, und das an sich kann ich auch erst mal verstehen. Ich möchte vielleicht noch hinzufügen, ich bin kein Kritiker des ICE in dem Sinne, dass ich das Fahrzeug, das Material nicht mag – ich sitze auch gerne in diesem bequemen Zug –, sondern das Konzept der Hochgeschwindigkeitsstrecken, die halte ich halt für fragwürdig.

Heise: Wie ist eigentlich das Versprechen Geschwindigkeit eingelöst worden?

Holzhey: Ja, es gibt ja vielfältige Beispiele, dass die Hochgeschwindigkeit in der Spitzengeschwindigkeit nicht mal das hält, was dann später als Durchschnitt herauskommt. Jeder kennt, glaube ich, das Beispiel zwischen Köln und Frankfurt, da fährt der Zug ja bis zu 300 Stundenkilometer, aber im Durchschnitt brauchen Sie 149, also genau die Hälfte, weil Sie eben in Limburg und Montabaur halten, weil Sie vor Köln und Frankfurt schon frühzeitig abgebremst werden. Dagegen sieht man zwischen Hamburg und Berlin, wo Sie in der Spitze nur 230 fahren können, aber im Durchschnitt fast 190 fahren, dass es nicht immer darauf ankommt, ganz besonders schnell in der Spitze zu sein, sondern eben im Durchschnitt möglichst gut voranzukommen.

Heise: Sie haben den Unterschied schon gemacht zwischen dem ICE, dem Zug an sich, und dem Konzept der Hochgeschwindigkeit. Also nicht der ICE war wahrscheinlich die Revolution vor 20 Jahren, sondern der Paradigmenwechsel der Bahn, dass man sich nämlich auf die Hochgeschwindigkeitsstrecken konzentriert hat und da die Flächenversorgung dann so ein bisschen absackte. Schließen sich eigentlich Ihrer Meinung nach Hochgeschwindigkeitsstrecken und attraktiver Flächenbetrieb automatisch aus?

Holzhey: Nein, das schließt sich nicht aus – die Frage ist immer, wo man als Unternehmen seine Priorität drauf setzt und welchen Marktrahmen ich benötige, damit das andere auch noch zustande kommt. Es ist ja unternehmerisch völlig verständlich, dass die Deutsche Bahn erst mal dort ihr Geschäft zu betreiben sucht und da vielleicht auch ausbaut, wo die nachfragestarken Relationen winken, da wo eben die Musik spielt ...

Heise: Also in den Städten.

Holzhey: In den großen Städten, ja, über 500.000 Einwohner, dass man die zu einem Kernnetz verbindet, das ist alles völlig verständlich. Nur wir haben eben auch 40 Prozent der Einwohner in Städten zwischen 40.000 und 200.000 Einwohnern sitzen, und die müssen aus meiner Sicht schon auch noch eine ordentliche Fernverkehrsanbindung haben. Die hat aber unter dieser Renditepolitik eindeutig gelitten.

Heise: In welchem Ausmaß?

Holzhey: Wir haben das untersucht und versucht festzumachen an der Zahl der wöchentlichen Halte, indem wir einfach mal die Kursbücher von 1999 und 2010 miteinander verglichen haben, und da sieht man eben, dass wirklich flächendeckend fast für gesamt Deutschland diese Stationen, Bahnhöfe fast um 50 Prozent ihrer einstigen Haltezahlen beraubt wurden – also es sind heute 48 Prozent weniger als eben noch 99. Und das ist ja doch schon eine Bilanz, die einen zum Nachdenken anregt.

Heise: Zum 20. Geburtstag des ICEs spreche ich mit dem Verkehrswissenschaftler Michael Holzhey. Herr Holzhey, wie müssen denn die Anforderungen an einen intelligent organisierten Fernverkehr als Netzangebot eingelöst werden?

Holzhey: Die Frage, wie man intelligent das Netz in Deutschland schneidert und auch damit das Angebot bereitstellt, ist eine Frage, ob wir weiter die bisherige Politik fahren wollen, dass wir sagen, dafür sind erst mal die Verkehrsunternehmen zuständig, wir schauen mal, ob in einem Markt, den man eigenwirtschaftlich betreiben muss als Anbieter, ob da so ein Angebot eben zustande kommt, und wenn nicht, dann bestellen wir das im Regionalverkehr als bestellten Verkehr, der dann gemeinwirtschaftlich durch die Länder mit finanziert wird. Das Problem ist, diese Verkehre, die wir eben angesprochen haben, mit Städten zwischen 40- und 200.000 Einwohnern, liegt ökonomisch genau dazwischen. Er braucht ein bisschen Zuschuss wahrscheinlich, aber längst nicht den, den man im Regionalverkehr braucht. Und da scheitert das heutige Angebot eben an dieser Eigenwirtschaftlichkeitsgrenze.

Heise: Das heißt, der ICE, die Fernverkehrsstrecken sollen wirtschaftlich arbeiten ohne Verlust, das ist das Verlangen?

Holzhey: Ja, nicht nur ohne Verlust, sondern ein Unternehmen möchte natürlich auch ...

Heise: Gewinn machen.

Holzhey: ... zu Recht eine kleine Rendite oder nur eine marktfähige Rendite erzielen. Und genau diese Kostendeckung plus sechs, acht Prozent dazu oder zehn, sind oft Vorgaben, die man in diesem etwas schwächeren Randnetz, das auch nicht besonders gepflegt wird, auch nicht vom Marketing gepflegt wird, eben vielleicht nicht so erzielen kann. Aber der Umkehrschluss wäre falsch zu sagen, dann ist uns dieser Verkehr nichts wert, gesellschaftlich. Und da wäre es eben die Frage, ob wir solche Verkehre nicht wie im Regionalverkehr auch bestellen, nur müsste man eben nicht acht, zehn, zwölf Euro pro Zugkilometer hinzubuttern, sondern vielleicht ein oder zwei. Es fehlt oft nicht viel, um diese Verkehre rentabel betreiben zu können.

Heise: Sprechen Sie da jetzt auch den Börsengang an?

Holzhey: Der Börsengang hat diese ökonomische Logik quasi nackt gemacht, also aufgedeckt, weil ein Unternehmen natürlich zugscharf analysiert, zu Recht auch, wo kann ich Geld verdienen und wo nicht, und es gibt im Fernverkehr eindeutig Randbereiche, die eben nicht zu den Vorgaben zu betreiben sind. Da haben Sie eine Auslastung von 20, 30 Prozent, deutschlandweit haben Sie 46, 48 Prozent. Das drückt sich dann natürlich auch in den Erlöszahlen für diese Züge aus. Noch dazu muss man wissen, dass diese schwächeren Gebiete, oft durch den Intercity erschlossen, mit einem Fahrzeugmaterial ja angefahren werden, das ökonomisch abgeschrieben ist, also unter sehr günstigen Voraussetzungen betrieben wird. Wenn die Deutsche Bahn jetzt aber den neuen Zug bestellt, diesen ICX, der dann erst mal wieder voll seinen Kapitaldienst quasi refinanzieren muss, dann wird so eine Zugrechnung sehr stark belastet, und das könnte eben weitere Städte in diesem Randbereich gefährden.

Heise: Also das heißt, Sie haben nicht den Eindruck, dass die Bahn eben in die Richtung geht, das System zu reformieren und wieder alle gleich bedienen zu wollen?

Holzhey: Das ist nicht mein Eindruck. Verbal hat sie zwar gesagt, dieser neue Zug, auch die Bestellung von Doppelstockzügen, die künftig im Fernverkehr eingesetzt werden sollen, sei der Versuch, mit kleineren, hoffentlich auch günstigeren Einheiten wieder etwas stärker in die Fläche zu gehen, da mal zu gucken, was da leistbar ist. Das will ich ihr auch erst mal nicht in Abrede stellen. Ich glaube aber, dass der Schwerpunkt, wenn Sie auch dann wieder die andere Rhetorik sehen, von Bahnchef Grube, wir wollen demnächst Marseille anfahren, wir wollen London erschließen, also dass der Fokus des Managements ganz klar auf Renommierrelationen ist.

Heise: Was ist Ihre Meinung, ist der Plan der Bahnprivatisierung eigentlich grundsätzlich falsch?

Holzhey: Nein, der ist überhaupt nicht falsch, nur er muss konsequent gegangen werden und nicht als Mischform. Die Idee der Bahnreform war es ja, die Transportsparten, also das, was auf der Schiene stattfindet, zu privatisieren, möglichst sogar einzeln zu privatisieren, weil das Geschäft, wenn man genau guckt, zwischen Güter- und Personenverkehr nichts miteinander zu tun hat. Aber das Netz, alles was Infrastruktur ist, in staatlicher Hand zu belassen. Und was der Bahnchef Mehdorn, der Vorgänger von Herrn Grube, anstrebte, war eben genau so eine Melange, also ich versuche als gesamtes Unternehmen, aber dann auch immer mit der staatlichen Rückversicherung an die Börse zu gehen, das wäre eben auch besonders fatal geworden.

Heise: Das heißt, auch Ihrer Meinung nach ist der richtige Weg, das Netz, die Schienen öffentlich zu lassen und das, was da drauf fährt, zu privatisieren?

Holzhey: Richtig. Das Netz ist eine genuin staatliche Aufgabe, genauso im Straßenbereich, Wasserstraßen, die privatisieren Sie auch nicht. Sie können Leistungen aus dieser Wertschöpfung, die Sie da erbringen müssen, können Sie wieder an Private geben. Man muss ein Netz nicht durch staatliche Institutionen instand halten. Aber das Eigentum an der Infrastruktur und damit vor allen Dingen die Letztverantwortung muss immer im Infrastrukturbereich beim Staat bleiben.

Heise: Das heißt, was müssen Regulierungs- und auch Aufsichtsbehörden leisten?

Holzhey: Die Aufsichtsbehörden müssen einmal auf der Sicherheitsschiene natürlich dafür Sorge tragen, dass dort keine falschen Betreiber unterwegs sind – das ist aber auch nicht so das Problem in Deutschland. Und auf der Regulierungsseite: Das Netz ist immer ein natürliches Monopol, es kann kein zweites Netz sozusagen geben, müssen Sie schauen, dass dort vernünftige Preise für die Nutzung einer Trasse, einer Station verlangt werden, und das müssen Sie eben auch regulieren.

Heise: Denn da ist im Moment auch viel Streit, oft wird zu viel verlangt, von Privaten.

Holzhey: Ja, die Deutsche Bahn hat eben erkannt, dass die Infrastruktur, solange sie da den Daumen drauf hat und eben den Monopolcharakter hat, ein wunderbares Einfallstor ist, um dort die Preise besonders kräftig zu erhöhen. Denn wenn Sie im Wettbewerb auf der Transportebene etwas verlieren, haben Sie ja die Rückversicherung, dass Sie 50 Prozent am Wettbewerber immer noch mit verdienen, also Sie verlieren niemals so ganz, denn der muss dann ja wieder auf Ihrer Schiene fahren und dort hohe Trassenentgelte und Stationsentgelte zahlen, und hat die Deutsche Bahn in den letzten Jahren weit oberhalb der Inflationsrate die Preise erhöht. Und das sieht man eben auch in der Bilanz des Unternehmens, und das ist natürlich eben eine sehr bequeme Einnahme.

Heise: Wenn wir jetzt nach 20 Jahren ICE mal nach vorne gucken, welche Zukunft hat Ihrer Meinung nach der Schienenverkehr, realistisch betrachtet?

Holzhey: Klimapolitisch hat der Schienenverkehr eigentlich eine sehr gute Zukunft, allerdings es gibt noch unheimlich viele Ineffizienzen im System. Der Übergang vom Monopol in den Wettbewerb ist überhaupt noch nicht vollendet oder geglückt. Und wenn man das auf die Sektoren der Schiene runterbricht, muss man sagen, die Zukunft ist vor allen Dingen der Güterverkehr, dort werden enorm hohe Wachstumsraten vorhergesagt. Im Personenverkehr sehe ich die Zukunft eher im Nahverkehr.

Heise: Also nicht in Marseille?

Holzhey: Ja, das sind Prestigerelationen, die sicher, isoliert gesehen, aus unternehmerischer Sicht interessant sein können, aber verkehrspolitisch, europaweit werden Sie Europa nicht über den Zug verbinden, das ist aus meiner Sicht eine Illusion. Sobald Sie über 500, 600, 700 Kilometer reisen müssen, wird das Flugzeug überlegen bleiben, da kommen Sie einfach mit dem Zug nicht heran. Und die Arbeitsteilung würde eben darin bestehen, innerhalb Deutschlands möglichst gut den Markt abzudecken, und das kann ja auch gelingen.

Heise: Einschätzungen des Verkehrswissenschaftlers Michael Holzhey, der auch gleichzeitig Referent der Task Force "Zukunft Schiene" ist. Vielen Dank, Herr Holzhey!

Holzhey: Schönen Dank, Frau Heise!

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