Im Schatten der Shoah

Alfred Grosser und Hanno Loewy im Gespräch mit Claus Leggewie |
Der französische Publizist Alfred Grosser plädiert dafür, Menschenrechtsverletzungen von Seiten Israels eindeutig zu benennen. Israel gehöre "zu unserer europäischen Wertewelt" und wenn es diese Werte verletze, müsse man dies kritisieren.
Claus Leggewie: Willkommen zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial. Mein Name ist Claus Leggewie. Ich bin Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, das diese Sendung in Deutschlandradio Kultur, im Schauspiel Essen mit der wunderbaren Buchhandlung "Proust", sowie in Verbindung mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung veranstaltet. Guten Tag an den Radioapparaten und hier im Essener Grillo-Theater.

Meine Damen und Herren, Deutschland redet derzeit übers Klima und streitet über Minarette. Mit beidem haben wir uns auch in früheren Lesart-Spezial-Sendungen befasst. Doch gibt es kaum ein umstritteneres, auch stärker vermintes Thema wie das heutige. Wir haben es genannt: "Im Schatten der Shoah – Israel, Deutschland und der Nahostkonflikt."

Dazu haben wir zwei besonders interessante Gäste eingeladen. Alfred Grosser, der jüngst sein Buch mit dem Titel "Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel" im Rowohlt Verlag vorgelegt hat, und Hanno Loewy, der uns hier ein thematisch verwandtes Buch eines israelischen Autors nahebringen wird mit dem Titel: "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss." Das ist erschienen im Campus Verlag.

Zu Gast sind damit – und wir werden sehen, inwieweit das von Belang ist – zwei Frankfurter Juden mit unterschiedlichem Generations- und Biografiehintergrund. Zunächst guten Tag, Herr Großer. Sie braucht man nicht vorzustellen. Deswegen nur ein paar Daten, die uns zu Ihrem Buch führen: Alfred Grosser ist 1925 in Frankfurt am Main geboren, 1933 mit der Familie emigriert. Er war ein Mitglied der französischen Résistance, seit '55 Professor an der Sorbonne, einer der herausragenden Politologen weltweit. Und er verkörpert für viele von uns geradezu die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945. Er ist in beiden Ländern und Sprachen zu Hause und hat unter anderem den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen.

Ihm gegenüber sitzt Hanno Loewy, etwas jünger, Jahrgang 1961, auch in Frankfurt am Main geboren, seit 2004 Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems. Er ist Literatur- und Filmwissenschaftler, lehrt an der Universität Konstanz und war Leiter des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main.

Herr Großer, Ihre Lebensgeschichte, die wir gerade kurz abgeschritten sind, spielt in dem Buch eine durchaus wichtige Rolle für die Beurteilung Israels und des Nahostkonflikts. Inwiefern ist es denn von Belang, dass Sie, wie Sie es gelegentlich ausdrücken, "unter anderem Jude" sind.

Alfred Grosser: "Unter anderem" muss erklärt werden. Jeder von uns hat viele Identitäten. Und mein Vater war Arzt, mein Vater war Professor an der Uni Frankfurt. Er war vieles: Er war Freimaurer, er war Wähler und er war Jude. Der Finger Hitlers hatte ihn bezeichnet als "nur Jude". Und ich habe nie einen Grund gesehen, warum sich sein Sohn seine Hauptidentität vom Finger Hitlers auferlegen lassen sollte. Also, eine meiner Identitäten ist die jüdische. Und ich finde immer – und da darf ich vielleicht vorgreifen und das Buch zitieren, das nachher besprochen werden wird, was ein hervorragendes Buch ist -, "ich wünsche mir aufrichtig", schreibt Avraham Burg, "dass mein Land aufhört, gegen sämtliche Werte zu verstoßen, für die wir in der Vergangenheit als verfolgte Minderheit eingetreten sind".

Das ist auch das Thema meines Buches und vor allen Dingen in Deutschland. Ich kann in Deutschland nicht mehr hören, "Sie dürfen das sagen". Jeder Deutsche sollte sagen, warum er gegen Hitler in der Vergangenheit ist. Wenn es nur wegen den Juden ist, ist das nicht genug. 1933 ist Kurt Schumacher schon ins KZ gekommen. Es sind viele niedergeknüppelt worden '33. Und damals war man gegen Hitler, weil er andere Rassen und Menschen verachtete, nicht nur die Juden. Und ich kann mir nicht vorstellen, warum Israel heute die Palästinenser verachtet und erniedrigt. Das war der Sinn des Buches, dieses unter anderem dem deutschen Publikum näher zu bringen.

Claus Leggewie: Man fragt ja oft in Deutschland – und das ist eine seltsame und auch oft etwas hinterhältige Frage – oder man unterstellt, man dürfe Israel nicht kritisieren. Ich kenne ganz viele Leute, die Israel permanent kritisieren, aber es ist eine Kritik, die teilweise belastet ist, beladen ist mit Anderem. Die Fragen an Sie deswegen, auch im Hinblick auf Ihr Buch: Warum muss man denn Israel kritisieren? Oder in welchen Aspekten muss man Israel kritisieren?

Alfred Grosser: Erst einmal, weil es zu unserer Welt gehört, für mich, weil ich Jude bin. Genauso, weil ich Franzose bin, habe ich im Algerienkrieg französische Politik, französische Folter in Algerien ständig angegriffen – im Namen meiner französischen Identität. Dazu kommt, dass Israel zu unserer – sagen wir mal – europäischen Wertewelt gehört. Und wenn sie diese Werte verletzt, wie das auch von Avraham Burg gesagt wird, dann muss man dagegen protestieren und ich bedauere ständig – um ein Beispiel zu nehmen: Ich schätze Frau Merkel sehr. Sie hat eine furchtbare Rede gehalten vor der Knesset, als sei sie Mitglied des Likuds.

Ich schätze meinen Präsidenten überhaupt nicht, aber er hat eine hervorragende Rede vor der Knesset gesprochen und hat gesagt: "Im Namen der Freundschaft zwischen Frankreich und Israel, muss ich sagen: Zurück zu 1967! Hört auf zu kolonisieren! Hört auf, macht dieses nicht, macht dieses nicht – im Namen unserer Freundschaft!" Das hat die Kanzlerin nicht gesagt.

Und als Ihr Präsident 2005 gesprochen hat vor der Knesset, hat er was Wunderbares gesagt: "Jeder Deutsche hat die Pflicht, überall in der Welt für die Grundwerte einzutreten, wenn jene verachtet werden." Er schien aber nicht entdeckt zu haben, dass die Palästinenser auch Menschen sind. Und ich finde, die deutsche öffentliche Politik lässt sich einschüchtern. Israel braucht ein neues Unterseeboot. Es soll nur in deutschen Werften gebaut werden – mit deutschem Geld. Warum? Die Überlebenden der Shoah in Israel sind auf die Straße gegangen vor zwei Jahren, weil sie keinen Pfennig bekommen von der israelischen Regierung. Und dann hieß es sofort in Israel, "ja die Deutschen können ja zahlen". 60 Jahre danach finde ich das zuviel.

Claus Leggewie: Herr Loewy, an Sie die Frage: War es richtig, dass die Bundesregierung zur Unterstützung Israels oder zur Lösung des Konfliktes zwischen Israel und der Hamas Boote, Fregatten vor die Küste des Libanon geschickt hat, ins Mittelmeer?

Hanno Loewy: Ich glaube, da hat mehr mitgespielt als bloß Solidarität mit Israel, sondern eher auch ein Versuch, an irgendeinem Punkt moralisch ungreifbar mal wieder ein bisschen in der Weltpolitik mitspielen zu dürfen. Das hatte sozusagen schon auch so ein bisschen Demonstrationscharakter. Ich glaube nicht, dass das einzige Motiv da war, sich solidarisch zu Israel zu verhalten.

Claus Leggewie: Welche Motive stecken dahinter? Frage an beide.

Alfred Grosser: Das Wesentliche ist, glaube ich, dass man sehen muss, dass das Grundelement der europäischen Werte sollte sein das Verständnis für die Leiden anderer. Das habe ich versucht, Frau Steinbach zu erklären, eine der beiden deutschen Frauen, die behaupten zu sein, was sie nicht sind. Die andere ist Lea Rosh. Es trifft sich, dass ich ihr sagen konnte: Ich habe Verständnis für das deutsche Leiden gehabt direkt nach dem Krieg. Man konnte von keinem jungen Deutschen verlangen, dass er das Ausmaß von Hitlers Verbrechen versteht, wenn man nicht ein echtes Mitgefühl hatte für das Leiden der Seinen – deswegen in meinem ersten Deutschland-Buch, erschienen im Januar '53: 12 Millionen Vertriebene, 100.000 nicht angekommen, Kriegsverbrechen gegen Dresden usw.

In diesem Sinne, sage ich dann heute, aber das seit einigen Jahren, man kann von keinem jungen Einwohner von Gaza oder von den Gebieten verlangen, dass er Verständnis für den Terrorismus hat, wenn man nicht ein Minimum von Mitgefühl zeigt für seine Aussichtslosigkeit, für seinen Hunger, für seine Armut.

Claus Leggewie: Einverstanden?

Hanno Loewy: Sehr einverstanden. Ich glaube nur, dass leider Politik nicht in der Regel von diesem Motiv geleitet wird. Ich glaube, dass dieser permanente Blick auf Israel und auf Jerusalem in beiden deutschen Nachkriegsstaaten der Blick auf den Nationalsozialismus war. Die DDR hat in ihrer Karriere erst in den allerletzten Zügen, in denen sie dann irgendwie Ende der 80er-Jahre war, tatsächlich auch auf Jerusalem oder auf jüdische Fragen geblickt.

Aber für die westdeutsche Republik war natürlich die Positur, sich selbst als den wahren Erben sozusagen eines guten Deutschlands zu sehen, ganz eng verbunden mit dem Demonstrieren der richtigen Lehren aus dem Holocaust, schon in den 50er-Jahren. Das war, glaub ich, nicht immer nur Altruismus und nicht immer Mitgefühl und auch nicht immer ein Übernehmen dieser Verantwortung. Das war es bei vielen einzelnen Akteuren, die das betreiben konnten, weil es in dem Klima passierte, in dem Westdeutschland seine neue Rolle im Westen suchte und eine neue moralische Statur brauchte.

Nur hat sich natürlich die erst westdeutsche, mittlerweile deutsche Politik damit quasi in eine selbst gestellte Falle begeben, in der politische Vernunft – und da würde ich Ihnen dann auch in den Diagnosen in Ihrem Buch sehr Recht geben – offenbar nicht mehr immer möglich ist.

Alfred Grosser: Adenauer hat ja seinen Vertrag gemacht mit der Vertretung des Weltjudentums und nicht nur mit Israel aus zwei Gründen: erstens Reparation und zweitens, um in Amerika gut anzukommen. Das hat er ja ausdrücklich in seinen Memoiren gesagt. Und heute noch in Deutschland für diese Probleme ist sofort: Was wird das Ausland sagen? Und bei der Fußballweltmeisterschaft, wo die Fahnen geschwenkt wurden, die Fahnen des deutschen Liberalismus, die Fahnen von Hambach, die Fahnen von 1848, bekam ich Anrufe von Rundfunk- und Fernsehstationen: Ist das nicht furchtbar? Wie wird das in Frankreich gesehen? – In Frankreich fand man das völlig normal, genauso normal, wie jetzt das Deutschlandlied unterm Arc de Triomphe gefeiert worden ist.

Und damit will ich Ihnen widersprechen. Denn das Überwinden des Leiden des Anderen, die Rede von Sarkozy, er hat die Rede seines Redenschreibers gut vorgelesen, die war das gemeinsame Leiden und nicht der Sieg über den Anderen. Das war schon in Verdun so. Und der wunderbare Bischof von Verdun hat 1919 gegen Widerstand erreicht, dass die Gebeine der gefallenen Franzosen und der Deutschen gemischt werden in Douaumont, um zu zeigen, dass man gemeinsam gelitten hat. Das ist etwas, was eine der Grundlagen der guten deutsch-französischen Beziehungen ist.

Claus Leggewie: Herr Loewy, Sie haben das Buch gelesen. Sie haben gerade gesagt, dass Sie mit vielen Diagnosen übereinstimmen. Gibt es Dissens?

Hanno Loewy: Ich habe mich zunächst einmal eigentlich das ganze Buch darüber gefreut, wie gelassen man diese Fragen, die mich irgendwie und viele Andere beschäftigen, mal stellen kann. Ganz am Schluss war ich, wenn man so will, von zwei Schlüssen in dem Buch enttäuscht, weil ich dachte, es nimmt ein bisschen dem, was Sie eigentlich als Chance in diesem Buch aufmachen, wieder die Spitze.

Das ist ein Satz, ganz am Schluss des Haupttextes, in dem Sie eine Gleichsetzung wieder einführen, die Sie eigentlich das Ganze Buch zu Recht auflösen, nämlich die Gleichsetzung von Jude und Israeli. Da heißt es dann ganz am Schluss: "Es bedeutet, dass die jüdischen Deutschen mehr als Deutsche denn als Juden, als systematische Vertreter Israels auftreten."

Ich würde mir ja wünschen, dass Juden in Deutschland oder auch in Frankreich oder auch in England, und da sind die Probleme nun gar nicht so verschieden zum Teil, auch wenn man das liest, was Sie schreiben, mir würde es ja lieber sein, sie würden offensiv als Juden auftreten und nicht als Vertreter Israels.

Alfred Grosser: Sie sollen aber auftreten zuerst einmal als jüdische Deutsche. Und das war Bubis. Seine Erinnerung ist unter dem Titel "Ein Deutscher jüdischen Glaubens". Und ich hab hier etwas korrigieren lassen vom Verlag auf der vierten Seite des Umschlags. Sie hatten geschrieben, ich sei als "deutscher Jude geboren". Und ich habe verändern lassen, ich bin als "jüdischer Deutscher geboren", was etwas völlig anderes ist. Und ich möchte, dass der Zentralrat sich umbenennt: Es ist nicht der Zentralrat der Juden in Deutschland, es ist der Zentralrat deutscher Juden oder jüdischer Deutscher. Und ich glaube, das ist etwas ganz anderes.

Und was ich da sage, ist: Wenn heute der Zentralrat spricht, ist er ein Vertreter Israels. Und das zeitigt Antisemitismus. Denn jedes Mal, wenn jemand Israel kritisiert, dann heißt es sofort, nein! Zum Beispiel, der humanste Krieg, der je geführt worden ist – Text! – ist in Gaza, gegen Gaza geführt worden. Da kann man nur aufschreien und sagen: Wer so was sagt, kann sich nicht erstaunen, dass dann Antisemitismus entsteht mit dieser Identifikation mit dem Gaza-Krieg. Und die Texte, die verlesen werden von Frau Knobloch und nicht nur von Frau Knobloch und bei uns genauso, sind Texte der israelischen Regierung, die vorgelesen werden, als seien es die Texte des Zentralrats. Und das ist unerträglich.

Claus Leggewie: Es hat in den Vereinigten Staaten eine Diskussion gegeben über die Israel-Lobby. Gibt es so was in Deutschland, in Frankreich, in England, in der EU?

Alfred Grosser: Also, das Wort "Lobby" ist bei uns verpönt, in Brüssel erlaubt, in Amerika normal. Ich würde sagen, es gibt in Deutschland und in Frankreich eine Art der ständigen Zensur und der Anklage des Antisemitismus gegen Leute, die da viel weniger sagen als die kritischen Israelis. Es wird ja ständig unterschätzt, wie frei die Diskussion in Israel ist und wie viele Dinge da gegen die israelische Politik in Israel gesagt werden.

Claus Leggewie: Wir kommen ja gleich noch auf einen Autor, der das tut. Die Frage, die Ihnen natürlich oft gestellt wird und die auch an der Stelle natürlich nicht fehlen darf, ist: "Das hat Herr Möllemann auch gesagt."

Alfred Grosser: Also, das ist mir völlig egal. 1975 habe ich beim Friedenspreis ganz heftig die sogenannten Berufsverbote kritisiert. Und da kam sofort unter anderem die "WELT": "Das sagen die Kommunisten auch". Ja, wenn ich nur Sachen sagen soll, die niemand verwenden kann in einem anderen Sinn, würde ich überhaupt nicht mehr reden. Das wäre doch schade.

Claus Leggewie: Herr Loewy, was macht man aber gegen Beifall von der falschen Seite?

Hanno Loewy: Zum Beispiel in einem anderen Kontext fast dasselbe sagen, was Sie eben gesagt haben. Das fand ich das noch schönere Sarkozy-Zitat, das mir auch auffiel im Wahlkampf, als er mit Le Pen auf einem Podium sitzen musste und eben auch sagte: Das wäre doch schade – in dem Kontext: "Na ja, wenn Sie sich mit Ihren Vorstellungen zur Einwanderungspolitik durchsetzen, dann wäre ich gar kein Franzose, und das wäre doch schade".

Alfred Grosser: Ich sage dasselbe von mir seit Jahrzehnten.

Hanno Loewy: Sagte Sarkozy Le Pen. Damit legte er natürlich den Finger auf die Wunde eines Themas, das sich, wie ich finde, eben auch durch dieses Buch durchzieht und das ich eigentlich, wenn man so will, das wichtigere Thema sogar in diesem Buch finde, nämlich: Wie verändern Gesellschaften in Europa ihr Selbstverständnis, dass wir nicht mehr permanent die Konflikte in den Nahen Osten hineinprojizieren müssen, über die wir und über deren Lösung wir hier eigentlich reden müssten?

Ich fand, es ist sehr bequem gewesen für auch wirklich die deutsche Gesellschaft, also, jedenfalls die westdeutsche Gesellschaft, Juden und Israelis miteinander gleichzusetzen, weil das eben auch die Frage danach, was ist eigentlich diese Gesellschaft hier, quasi dadurch löste, dass man Juden entweder zu einem Bestandteil der Vergangenheit erklärte oder zu etwas, was jetzt gelöst und weit weg ist. Und diese Lösung ist natürlich mittlerweile längst in das Reich der Phantasmagorien zurückgewandert.

Und mittlerweile weiß man in Europa und in Deutschland ganz besonders nicht, wie man eigentlich mit der Tatsache umgehen soll, dass wir hier in Einwanderungsgesellschaften leben. Und dieser ganze Nahostkonflikt wird, wenn ich noch das Letzte sagen darf, an sich, das deuten Sie auch in diesem Buch, finde ich, sehr scharf an, es wird zum Ersatzkonflikt für das, was man eigentlich hier hin Deutschland, in Österreich, wo ich lebe jetzt, und in Frankreich und in England lösen müsste. Und man lenkt davon ab.

Alfred Grosser: Ja, ich finde es unrecht, was Sie eben sagten. Denn es sind ja nicht "die" Deutschen, die es nicht gibt, aber Deutsche, die diese Identifikation machen. Es ist ständig die jüdische Gemeinschaft, nicht die Juden, die, die behaupten, im Namen der Juden zu sprechen, wo doch 90 Prozent dieser Juden aus dem Osten kommen, von denen keiner im Zentralrat vertreten ist. Also, da ist eine merkwürdige Lage – wir sprechen im Namen von ...

Und dann, ich habe eine Lösung für den Konflikt: Es gibt keine Zweistaatenlösung mehr. Es gibt ja kein Territorium mehr, das ein Staat werden könnte von palästinischer Seite. Ich möchte das verwirklicht sehen, was Theodor Herzl gesagt hat. Er war ein "laïc". Er wollte einen weltlichen Staat im Sinne der Französischen Revolution, der französischen "laïcité", der allen Juden der Welt offen stand. Das steht auch in der Unabhängigkeits-, in der Gründung Israels von Ben Gurion. Und man könnte sich vorstellen, es wird aber nicht so sein, dass Israel sagt, wir sind kein jüdischer Staat. Momentan will es die Araber zwingen, das zu sagen. Wir sind ein Staat, wie die anderen, für alle Juden offen. Wir behandeln aber alle unsere Bürger, welcher Religion, welchen Ursprungs, auf dieselbe Art, wie das in normalen Demokratien der Fall ist.

Claus Leggewie: Das führt uns zu dem zweiten Buch, was uns jetzt Hanno Loewy nahe bringen möchte: Avraham Burg "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss". Wie haben Sie es gelesen, Herr Loewy?

Hanno Loewy: Na ja, das Buch ist ungeheuer fesselnd, weil es auf biographischem Territorium wirklich die Existenzfragen Israels und des Zionismus verhandelt. Man muss dazu wissen, Avraham Burgs Vater, Josef Burg, war der Führer der Nationalreligiösen Partei in Israel, war eine der entscheidenden Figuren in der Knesset und in diversen israelischen Regierungen, weil er auch als Mehrheitsbeschaffer immer gebraucht wurde.

Avraham Burg selber ging politisch in ein ganz anderes Lager in seiner Biografie. Er wurde Mitglied von "Peace Now". Er ist für die Arbeiterpartei eine zeitlang in der Knesset selber auch gewesen, war Sprecher der Knesset, war eine zeitlang Vorsitzender der Jewish Agency, also der zionistischen jüdischen Weltorganisation und hat Anfang der 2000er Jahre politisch mit einem Aufsatz in der New York Times "The End of Zionism" einen deutlichen Paradigmenwechsel eingeleitet und sich von ganz vielen der Träume des Zionismus verabschiedet.

Und sein Buch "Hitler besiegen" ist in jeder Hinsicht eine spannende Lektüre, weil es eben auch eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Familiengeschichte ist und eine Auseinandersetzung wirklich mit israelischer Geschichte – von der Staatsgründung bis heute und das alles sehr eng ineinander verwoben.

Seine These in aller Kürze ist die, dass von der Holocausterinnerung eigentlich ein korrumpierendes Moment auf die Gesellschaft ausgeht. Weil, wenn alles immer nur in Bezug gesetzt wird zu einem absoluten Bösen, dann wird sehr schnell alles relativiert, werden alle moralischen Maßstäbe relativiert. Na ja, und dann wird eben irgendwann politisch auch alles erlaubt. Und auch das ist eine Falle, in die man sehr leicht hineingeraten kann.

Alfred Grosser: Wenn Sie das Buch nicht kaufen wollen, dann lesen Sie, und das ist eine gute Tat, wenn Sie die Nummer kaufen von der Jüdischen Zeitung, nicht zu verwechseln mit der Jüdischen Allgemeinen, ist eine ganze Seite von ihm, die hervorragend ist, in der jetzigen Nummer, in der Dezembernummer. Ich war drin mit einer Seite im Oktober.

Und ich darf vielleicht einen Satz zitieren, der wirklich alles sagt. Er erzählt von einem Lehrer, der sagt, dass "zwei Völker aus Auschwitz kamen. Die einen sagen, das darf Juden nie wieder geschehen. Und die anderen sagen: Das darf nie wieder gegenüber Menschen geschehen". Da bin ich total einverstanden. Das ist ja auch der Grundtenor meines Buches. Und wir beide erzählen sehr viel von Armeniern, von Indianern, von allen Menschen, die einmal grauenhaft ermordet worden sind. Und dann heißt es sofort von gewissen jüdischen Seiten: "Das ist eine Verniedlichung." – Es ist keine Verniedlichung. Es ist, dass man das Leiden aller Menschen anzuerkennen hat und nicht nur das eine Leiden. Und er wirft Israel und Deutschland vor, immer auf der Seite der Türken gestanden zu haben, wenn es um die Diskussion um die Armenier ging.

Claus Leggewie: Herr Loewy, was ist ein "Post-Zionist"? Ist das jemand, der mal Zionist gewesen ist? Ist das jemand, der gegen den Zionismus ist? Ist es ein Spät-Zionist? Sind Sie ein Post-Zionist?

Hanno Loewy: In dem ersten Sinne kann ich es nicht sein, weil ich nie Zionist war. Ich denke, es gab einen zionistischen Traum, der tatsächlich darin bestanden hat, allen Juden der Welt eine zentrale Heimstatt zu geben und quasi die Identität des Jüdischen aus einer entweder religiösen oder sozialen Minderheit in der Diaspora in eine Normalität einer Staatsnation zu führen. Ich glaube, ehrlich gesagt, und das Interessante ist, Sie haben selber das jetzt auch noch mal aus der Schachtel hervorgeholt, diesen Traum, auch Avraham Burg tut das am Ende seines Buches auf eine Art und Weise, von der ich auch finde, dass es allen 250 Seiten davor ziemlich widerspricht, indem er ganz am Ende seines Buches dann doch noch mal den Traum aufrichtet, dass das Jüdische und das Israelische versöhnt werden könnte, wenn das Jüdisch-Israelische universalistisch würde. Und er stellt dann, wenn man so will, zu Recht, aber damit auch absurderweise die Bedingung, dass dies dann natürlich für alle Weltreligionen gelten müsste. Erst dann ginge das. Eine Lösung, die so vieler Bedingungen bedarf, glaube ich, ist nicht sehr realistisch.

Das ist Hans Küng in Reinkultur ganz am Schluss. Und daran glaube ich leider nicht als realistischen Vorschlag der Lösung weder des Nahostkonflikts noch europäischer Identitätsprobleme.

Das Spannende ist, dass ja auch tatsächlich der Rest des Buches eine ganz andere Linie einschlägt, nämlich eigentlich ein selbstbewusstes Zurückblicken auf die Diaspora als etwas, das doch nicht vorbei ist, und damit ist tatsächlich auch eine Tür auf zu einem neuen Verhältnis von Judentum und Israel, das eben beides nicht mehr in eins setzt. Weil natürlich Herzls Traum, der drin bestand, aus Juden ein normales Staatsvolk zu machen, schlicht und ergreifend sowohl an den Gesellschaften der Welt, als auch an bestimmten jüdischen Traditionen offenbar scheitert. Denn der Staat, der auf dieser Utopie gebaut worden ist, zieht ja wie Motten offenbar vor allem diejenigen an, die eher zurück zu einem Tempel-Gottesstaat wollen und nicht zu einer modernen Nation.

Alfred Grosser: Die haben auch mehr Kinder.

Hanno Loewy: Das ist ja nicht unbedingt schlimm, aber die werden vielleicht auch irgendwann rebellieren. Ich bin ziemlich sicher, dass sie es tun werden.

Claus Leggewie: Wenn wir vielleicht die letzten paar Minuten darauf, oder eine Minute darauf verwenden können, ob es eigentlich aus dem, was wir in beiden Büchern lernen, tatsächlich eine Lösung dieses Konfliktes gibt.

Alfred Grosser: Nein.

Claus Leggewie: Sie sagen nein?

Alfred Grosser: Beide Bücher sagen in Wirklichkeit am Ende etwas, was eine Utopie ist. Und beide Bücher sind an der Lösung dieses Konflikts verzweifelt.

Claus Leggewie: Herr Loewy?

Hanno Loewy: Ja, mir ging es beim Lesen auch so, weil die Antworten ganz am Schluss wieder in diesem Zirkelschluss für mich endeten, von dem ich allerdings glaube, dass er sich in der Realität, tatsächlich in der Realität des Post-Zionismus, nämlich einem Erlahmen einer ideologischen Bewegung, die sowohl von außen wie von innen eigentlich erodiert, auflöst. In 50 Jahren werden wir über politische Entwicklungen reden, die wir heute einfach nicht voraussehen können.

Claus Leggewie: Wir haben zwei Bücher vorgestellt, von Avraham Burg "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss", erschienen im Campus Verlag Frankfurt, und von Alfred Grosser "Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel" im Rowohlt Verlag.

Und, wie wir es immer tun in diesen Sendungen, haben unsere Gäste noch die Gelegenheit, ein Buch am Ende ganz kurz vorzustellen. Ich fange vielleicht mit Alfred Grosser an. Welches Buch möchten Sie uns empfehlen oder dringend von abraten?

Alfred Grosser: Ja leider gibt es das nur auf Französisch. Tarek Oubrou: "Profession imâm", ein islamischer Imam, der nicht Imam gewesen ist. Er wurde Ingenieur, ist dann zum Glauben, dem islamischen Glauben gekommen, islamischer Geburt, Ursprung, aber ohne Glauben. Und aus diesem Glauben ist er in Armut versunken, wurde ein unbezahlter Imam, dann ein ein bisschen bezahlter Imam – wie er eine Frau und zwei Kinder gehabt hat, konnte es nicht anders als doch ein bisschen Geld bekommen, wie ein französischer Priester, nicht wie ein deutscher. Und das ist ein ergreifendes Buch, eine Auseinandersetzung mit dem Islam, mit der Geschichte des Islam, mit der Theologie des Islam, sehr offen, sehr klar.

Claus Leggewie: Verleger aufpassen, hier gibt's ja was zu übersetzen ins Deutsche!

Alfred Grosser: Verlag Albin Michel

Claus Leggewie: Herr Loewy, Sie haben auch einen kleinen Tipp für mögliche Weihnachtsgeschenke?

Hanno Loewy: Ich habe mir erlaubt, nicht nur ein Sachbuch, sondern dann auch noch einen Roman mitzubringen, der so tut, als ob er ein Bericht sei, also doch ein Sachbuch. Philip Roth: "Operation Shylock. Ein Bekenntnis", ein absurdes Buch. Nur so viel sei verraten: Philip Roth begegnet in diesem Buch, und zwar während des Demjanjuk-Prozesses – nicht dem jetzigen in Deutschland, sondern dem vor 20 Jahren in Israel – er begegnet dort seinem Doppelgänger, der so heißt wie er, der so aussieht wie er, und der das tut, was Philip Roth sein Leben lang auch tut, nämlich ein selbstbewusstes Diaspora-Judentum vertreten, der allerdings daraus – der Doppelgänger – eine politische Bewegung zu machen versucht und Philip Roth für diese Bewegung gewinnen will. Wałęsa – '88, Solidarność – hat er schon gewonnen für die Repatriierung der polnischen Juden aus Israel. Und das Buch beschreibt ähnlich profunde realistische Projekte für die Zukunft. Ein spannendes Buch, weil es auch sehr gebrochen ist und am Ende wieder zurückführt in unseren antisemitisch auch nicht nur völlig harmlosen Alltag.

Claus Leggewie: Dankeschön. Es ist erschienen bei dtv als Taschenbuch. Das war Lesart Spezial aus dem Schauspiel Essen in Verbindung mit der Buchhandlung "Proust". Am Mikrofon dankt unseren beiden Gästen – Alfred Grosser, Hanno Loewy – und verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Sonntag.