Im Schatten des Meisters

Von Dieter David Scholz |
Der 125. Todestag des ungarischen Komponisten Franz Liszt bleibt auf den Bayreuther Festspielen weitestgehend unbeachtet - obwohl Liszt für Richard Wagner und seine Familie von großer Bedeutung war.
Franz Liszt, der der zu seiner Zeit berühmteste Musiker und Virtuose Europas war, ist 1886 in Bayreuth gestorben und dort auch beerdigt. Aber weder sein 125. Todestag, noch sein 200. Geburtstag, der am 22. Oktober ansteht, sind den gegenwärtigen Bayreuther Festspielleiterinnen Eva und Katherina Wagner ein Konzert im Festspielhaus wert. Nike Wagner, ihre verstoßene Tante, Tochter Wieland Wagners, ist denn auch empört darüber:

"Ich finde das skandalös und ich bin tief betrübt. Die Familie Wagner hat eine riesig große Bringschuld Franz Liszt gegenüber. Wagner wäre nicht der geworden, der er hatte werden können ohne Franz Liszt."

Wagner hat Liszt in der Tat unendlich viel zu verdanken. Als Wagner nach seiner Teilnahme an der Dresdner Revolution steckbrieflich gesucht wurde, hat Liszt ihm falsche Papiere besorgt, damit er in die Schweiz flüchten konnte. Liszt hat Wagner in seinen zehn Exilantenjahren immer wieder großzügig mit Geld versorgt und war fast so etwas wie der Generalbevollmächtigte Wagners in Deutschland. Wagner hat Liszt aber auch musikalisch viel zu verdanken, denn er hat aus den Tondichtungen und Oratorien Liszts als Harmoniker und Instrumentator viel gelernt. Schließlich hat Liszts Tochter Cosima ihren Mann, Hans von Bülow, wegen Richard Wagner verlassen. Als Schwiegervater verhalf Liszt Bayreuth und den Bayreuther Festspielen zu einigem Glanz. Der Liszt-Biograf Oliver Hilmes:

"Die Liszt-Ignoranz hat historische Gründe und hat vor allem finanzielle Gründe, denn es war natürlich klar, dass der Aufbau des Familienunternehmens in Bayreuth durch Cosima Wagner insbesondere … da war Franz Liszt natürlich ein gerngesehener Promotor, ein Multiplikator. Aber nach Wagners Tod war natürlich die musikalische Rangfolge klar. Wagner war der große Komponist. Und Franz Liszt war der Helfershelfer. Und dieses Bild hat sich doch über Generationen tradiert."

Liszt kam auf ausdrücklichen Wunsch Cosima Wagners 1886 nach Bayreuth, um die Festspiele mit seiner Anwesenheit zu beehren. Er quälte sich - schon sehr krank - durch zwei Aufführungen. Um ihre Soupers und Empfänge nicht durch einen Todkranken gestört zu sehen, quartierte sie ihren Vater aus der Villa Wahnfried aus und verfrachtete ihn in ein benachbartes Haus. Dort starb Liszt unbeachtet von der Öffentlichkeit. Cosima hielt seinen Tod geheim, bis die Festspiele vorüber waren. Bei seiner Beerdigung auf dem Stadtfriedhof von Bayreuth wurde keine Note Lisztscher Musik gespielt. Stattdessen improvisierte Anton Bruckner über Parsifal-Themen.

Die Stadt Bayreuth – die in den vergangenen Jahrzehnten Liszt eher stiefmütterlich behandelte, veranstaltet 2011 unter dem Motto "Lust auf Liszt" das ganze Jahr über ein Liszt-Festival. Doch im Festspielhaus bleibt Liszt tabu. Warum, das haben Eva und Katharina Wagner auf ihrer Pressekonferenz am vergangenen Montag folgendermaßen begründet:

Katharina Wagner: "Es erlaubte die Stiftungssatzung auch gar nix anderes wie Wagner im Festspielhaus zu spielen."

Eva Wagner: "Und am 22. Oktober ist es schon normalerweise sehr kalt hier im Haus."

Nike Wagner: "Alles Unsinn. Denn es ist durch die Tatsachen widerlegt worden. Erstens, im Oktober ist das Haus noch warm. Zweitens war es möglich, für die Trauerfeier Wolfgang Wagners einen viel kälteren Termin wahrzunehmen, nämlich im März. Dort wurden auch die Werke anderer Komponisten gespielt. Beide Argumente sind vollkommen hinfällig."

Nike Wagner lässt die Argumente der Festspielleiterinnen nicht gelten. Sie pocht auf eine Rehabilitierung Liszts gerade auf dem "Grünen Hügel". Doch man muss fairerweise sagen: Nicht nur die Familie Wagner hat Schuld daran, dass Liszt im Schatten Wagners weithin in Vergessenheit geriet. Es gibt auch historische Gründe.

Als Liszt sich 1847 im Alter von eben 36 Jahren vom Konzertpodium verabschiedete und fortan nur noch als umtriebiger, schillernder Erotiker, als Pädagoge, musikalischer Repräsentant und Abée in der Soutane zwischen Weimar, Rom und Budapest hin- und herreiste, war er bereits eine lebende Legende der Gegenwartsmusik. Zum Federführer jener neudeutschen "Zukunftsmusik" war Richard Wagner geworden, als er 1864 von Ludwig dem Zweiten nach München berufen wurde, spätestens dann mit der Gründung des Bayreuther Festspielhauses 1872. Da war der Komponist Liszt bereits weitgehend vergessen und sein auf die Moderne vorausweisendes Spätwerk wurde nicht rezipiert, damals. Der Pianist Jan Jiracek von Arnim, auch er hat vor kurzem eine Liszt-Biografie geschrieben:

"Je später wir schauen, desto reifer, desto tiefer gehen seine Kompositionen. Sein Spätwerk wie Nuages gris, wo wirklich dann die Tonalität aufgelöst wird, was seine Zeitgenossen überhaupt nicht mehr verstanden hätten …"

... hat Richard Wagner sehr wohl zu würdigen gewusst. In einem Brief gestand er Liszt: "Ich gönne Dir (...) diese Musik nicht. Sie ist uns so weit voraus, dass niemand in dieser Zeit sie begreifen wird. Aber ich habe sie begriffen. Ich sage Dir, dass sie alle Musik künftig grundlegend beeinflussen wird." Wagner – der lebenslange Liszt-Protegeé - sollte recht behalten: Komponisten wie Debussy, Ravel oder Schönberg sind ohne Liszt nicht denkbar.