Im Schatten des Vaters
In ihrem Buch kehrt die algerische Autorin Assia Djebar zurück in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend. Der autobiographische Text enthält eine Fülle von persönlichen, zuletzt sogar intimen Erinnerungssplittern aus der Zeit von 1936 bis 1953.
Wenn traditionell lebende maghrebinische Männer von ihren Frauen und Töchtern erzählten, sprachen sie früher nur vom "Haus". Die Namen der weiblichen Angehörigen vor Fremden auszusprechen, galt als unsittlich. In Assia Djebars Familie aber blieb keine Frau namenlos.
In ihrem neuen Buch kehrt die Autorin zurück in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend. Sie nennt das Buch einen Roman, obwohl es ein autobiographischer Text ist, der eine Fülle von persönlichen, zuletzt sogar intimen Erinnerungssplittern streng chronologisch ordnet.
Die Aufzeichnungen, manchmal von ihr sogar als "harmlos wie altmodisch eingefärbter Bericht" ironisiert, umspannen die Zeit von 1936 bis 1953. Wohl, weil jede Autobiographie Züge eines Bekenntnisses hat, versucht Djebar am Ende den Eindruck zu zerstreuen, sie habe eine Beichte ablegen wollen. Dennoch: Sie hat dem Leser die schockierende Tatsache anvertraut, dass sie sich im Alter von 17 Jahren, nach einem selbstbewusst geführten Streit mit ihrem ersten Freund, vor eine anrollende Straßenbahn geworfen hat. Erschüttert liest man, dass sie es heute noch bedauert, dass es dem Fahrer gelang, den Suizid zu vereiteln.
Schon im Krankenhaus wurde der versuchte Selbstmord geleugnet. Kein Angehöriger wollte wissen, wie es zum Unfall gekommen war. Den Zeugen des "dunklen Triebs", der sie erfasst hatte, sollte sie wenig später heiraten. Ihn, den sie nach 15 Ehejahren verließ, treffen ein paar aggressive Blitze. Assia Djebar hat drei Epiloge geschrieben, um den stummen Wahn, der sie damals erfasste, zu begreifen und dem Wesen, das sie war, "Lebewohl zu sagen".
Mal schreibt sie in der Ich-Perspektive, mal erzählt sie distanziert von sich in der dritten Person. "Kindheitssplitter" werden aneinandergereiht. Man erlebt ein sanftes Selbstgespräch, ein leises Murmeln, das den "Tag des Hammam" evoziert und ihn mit dem Sterben des kleinen Bruders verbindet. Ein Porträt der ersten Freundin stellt "Farida, die Unnahbare" in den Schatten. Die "Welt der Großmutter mütterlicherseits" erscheint als Verheißung, und die träumerische Erinnerung an das eigene selbstverlorene Tanzen vor dem Spiegel bleibt ein Geheimnis.
Assia Djebar beginnt ihre fragende Selbsterkundung mit einer Erinnerung an Rituale, die ihr als kleinem Mädchen eine klare Rolle zuwiesen. Als Dreijährige hatte sie einen Zipfel vom Schleier der sehr jungen, schönen Mutter zu fassen, um diese "als ihr Diener oder sogar als ihr Bürge" durch die Straßen zu geleiten. Ihre Präsenz machte die Mutter unantastbar.
Assia Djebars Vater verbarg nicht, wie damals üblich, die Liebe zu seiner Frau. Als einziger arabischer Lehrer an einer Schule der französischen Kolonialmacht bestand er darauf, dass seine älteste Tochter Französisch lernte und sich europäisch kleidete. Obwohl er unbedingt wollte, dass sie sich in einem Land, das von einer fremden Macht regiert wurde, behaupten und sich kraft ihrer Bildung aus Traditionen lösen konnte, muss die Erwachsene erkennen: Für sie als Tochter war dennoch nirgendwo ein Platz im Haus des Vaters. Der Vater blieb der "Bewacher des Gynäkeions".
Mehrmals hatte er sich in Bezug auf die Tochter dem üblichen Verhaltenscodex unterworfen. So verbot er dem Mädchen, Radfahren zu lernen, weil es dabei Beine zeigte. Er nahm es nicht an die Hand, weil "Männer seiner Religionsgemeinschaft" allein voranschritten. Den Brief eines Jungen an die heranwachsende Tochter zerriss er. Misstrauen war der Grund. Misstrauen zersetzte die Liebe. "Eine Art rohe Materie, ein Schlamm" schimmerte in jenen Momenten auf, und noch 65 Jahre später fühlt sich die Autorin wie "tätowiert" von dem verletzenden Verbot und wie vor ein "uraltes Tribunal zitiert".
Der Vater war ein idealisierter Befreier und ein Richter und auf jeden Fall ein übergroßer Schatten im Leben der Autorin. Seinen Einfluss auf ihr Leben hat Djebar in dem 1985 in Frankreich und 1990 auf Deutsch erschienenem Roman "Fantasia" bereits angedeutet.
Während sie in "Fantasia" begründet, warum sie auf Französisch - in der Sprache des ehemaligen Feindes - denkt, spricht und schreibt und dabei doch den Klang ihrer arabischen Muttersprache vermisst, begegnen wir in "Nirgendwo im Haus meines Vaters" einer jungen Frau, die die arabische Kultur ignorierte. Auch ihre muslimischen Mitschülerinnen im Internat, die von ihren Vätern unter "das Joch der Verschleierung" gezwungen werden, hatten nur ein Ziel: die europäische Kultur zu adaptieren, wissenschaftliche Karrieren zu planen und ein selbstbestimmtes, modernes, unter keinen religiösen Zwang gestelltes Leben zu führen. 1954 – mit dem Beginn des blutigen Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens - brach für sie alle eine andere Zeit an. Assia Djebar beschreibt die Zeit vor dieser Schwelle. Nichts, bemerkt sie mit einer Spur verzweifelter Resigniertheit, habe sie damals auf die spätere Niederlage der Frauen im befreiten Algerien vorbereitet.
Besprochen von Sigrid Brinkmann
Assia Djebar: Nirgendwo im Haus meines Vaters
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
444 Seiten, 21,95 Euro
In ihrem neuen Buch kehrt die Autorin zurück in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend. Sie nennt das Buch einen Roman, obwohl es ein autobiographischer Text ist, der eine Fülle von persönlichen, zuletzt sogar intimen Erinnerungssplittern streng chronologisch ordnet.
Die Aufzeichnungen, manchmal von ihr sogar als "harmlos wie altmodisch eingefärbter Bericht" ironisiert, umspannen die Zeit von 1936 bis 1953. Wohl, weil jede Autobiographie Züge eines Bekenntnisses hat, versucht Djebar am Ende den Eindruck zu zerstreuen, sie habe eine Beichte ablegen wollen. Dennoch: Sie hat dem Leser die schockierende Tatsache anvertraut, dass sie sich im Alter von 17 Jahren, nach einem selbstbewusst geführten Streit mit ihrem ersten Freund, vor eine anrollende Straßenbahn geworfen hat. Erschüttert liest man, dass sie es heute noch bedauert, dass es dem Fahrer gelang, den Suizid zu vereiteln.
Schon im Krankenhaus wurde der versuchte Selbstmord geleugnet. Kein Angehöriger wollte wissen, wie es zum Unfall gekommen war. Den Zeugen des "dunklen Triebs", der sie erfasst hatte, sollte sie wenig später heiraten. Ihn, den sie nach 15 Ehejahren verließ, treffen ein paar aggressive Blitze. Assia Djebar hat drei Epiloge geschrieben, um den stummen Wahn, der sie damals erfasste, zu begreifen und dem Wesen, das sie war, "Lebewohl zu sagen".
Mal schreibt sie in der Ich-Perspektive, mal erzählt sie distanziert von sich in der dritten Person. "Kindheitssplitter" werden aneinandergereiht. Man erlebt ein sanftes Selbstgespräch, ein leises Murmeln, das den "Tag des Hammam" evoziert und ihn mit dem Sterben des kleinen Bruders verbindet. Ein Porträt der ersten Freundin stellt "Farida, die Unnahbare" in den Schatten. Die "Welt der Großmutter mütterlicherseits" erscheint als Verheißung, und die träumerische Erinnerung an das eigene selbstverlorene Tanzen vor dem Spiegel bleibt ein Geheimnis.
Assia Djebar beginnt ihre fragende Selbsterkundung mit einer Erinnerung an Rituale, die ihr als kleinem Mädchen eine klare Rolle zuwiesen. Als Dreijährige hatte sie einen Zipfel vom Schleier der sehr jungen, schönen Mutter zu fassen, um diese "als ihr Diener oder sogar als ihr Bürge" durch die Straßen zu geleiten. Ihre Präsenz machte die Mutter unantastbar.
Assia Djebars Vater verbarg nicht, wie damals üblich, die Liebe zu seiner Frau. Als einziger arabischer Lehrer an einer Schule der französischen Kolonialmacht bestand er darauf, dass seine älteste Tochter Französisch lernte und sich europäisch kleidete. Obwohl er unbedingt wollte, dass sie sich in einem Land, das von einer fremden Macht regiert wurde, behaupten und sich kraft ihrer Bildung aus Traditionen lösen konnte, muss die Erwachsene erkennen: Für sie als Tochter war dennoch nirgendwo ein Platz im Haus des Vaters. Der Vater blieb der "Bewacher des Gynäkeions".
Mehrmals hatte er sich in Bezug auf die Tochter dem üblichen Verhaltenscodex unterworfen. So verbot er dem Mädchen, Radfahren zu lernen, weil es dabei Beine zeigte. Er nahm es nicht an die Hand, weil "Männer seiner Religionsgemeinschaft" allein voranschritten. Den Brief eines Jungen an die heranwachsende Tochter zerriss er. Misstrauen war der Grund. Misstrauen zersetzte die Liebe. "Eine Art rohe Materie, ein Schlamm" schimmerte in jenen Momenten auf, und noch 65 Jahre später fühlt sich die Autorin wie "tätowiert" von dem verletzenden Verbot und wie vor ein "uraltes Tribunal zitiert".
Der Vater war ein idealisierter Befreier und ein Richter und auf jeden Fall ein übergroßer Schatten im Leben der Autorin. Seinen Einfluss auf ihr Leben hat Djebar in dem 1985 in Frankreich und 1990 auf Deutsch erschienenem Roman "Fantasia" bereits angedeutet.
Während sie in "Fantasia" begründet, warum sie auf Französisch - in der Sprache des ehemaligen Feindes - denkt, spricht und schreibt und dabei doch den Klang ihrer arabischen Muttersprache vermisst, begegnen wir in "Nirgendwo im Haus meines Vaters" einer jungen Frau, die die arabische Kultur ignorierte. Auch ihre muslimischen Mitschülerinnen im Internat, die von ihren Vätern unter "das Joch der Verschleierung" gezwungen werden, hatten nur ein Ziel: die europäische Kultur zu adaptieren, wissenschaftliche Karrieren zu planen und ein selbstbestimmtes, modernes, unter keinen religiösen Zwang gestelltes Leben zu führen. 1954 – mit dem Beginn des blutigen Kampf um die Unabhängigkeit Algeriens - brach für sie alle eine andere Zeit an. Assia Djebar beschreibt die Zeit vor dieser Schwelle. Nichts, bemerkt sie mit einer Spur verzweifelter Resigniertheit, habe sie damals auf die spätere Niederlage der Frauen im befreiten Algerien vorbereitet.
Besprochen von Sigrid Brinkmann
Assia Djebar: Nirgendwo im Haus meines Vaters
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
444 Seiten, 21,95 Euro