Im Schuldbezirk
Kurt Drawerts neuer Roman spielt im "neunten Schuldbezirk", einem Nichtort, den das bekannte Wappen "aktiver Hammer, gespreizter Zirkel und große gebogene Ehrenähre" ziert. Die grotesken Spielarten der DDR-Wirklichkeit werden von ihm in Sprache übertragen. Ihm ist ein glänzend geschriebenes Buch gelungen.
Es geht hinab in die Tiefe, dorthin, wo es nur noch Geröll und Schotter gibt. Das Wort Reise sperrt sich gegen den Gebrauch angesichts der Höllenfahrt, die Kurt Drawert in seinem Roman "Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte" unternimmt. Seinen Bildern fehlen die Hochglanzmotive mit der ihnen eigenen Tendenz zur Idylle. Bei Drawert glänzt allein ein Schadstoffgemisch aus gelblichem Firnis, mit dem der Boden überzogen ist. Statt Beschaulichkeit entwirft er das Bild einer beschädigten Landschaft in der Menschen existieren, die Schaden genommen haben. Sein Roman spielt im "neunten Schuldbezirk", einem Nichtort, den das bekannte Wappenlogo "aktiver Hammer, gespreizter Zirkel und große gebogene Ehrenähre" ziert.
Äonen weit entfernt ist der "neunte Schuldbezirk" von jenen Höhen des Weltniveaus, die zu erreichen man in dem Land verstärkte Anstrengungen unternahm, das inzwischen in den Fußnotenbereich abgesunken ist. In dieser Grauzone harrt eine unglückliche Gestalt aus. Es handelt sich um einen Gezeichneten, der, an den Rand gedrängt, darauf hofft, Gerechtigkeit zu erfahren. Ihn plagt seine Herkunft ebenso wie sein Dasein. Er weiß, dass in diesem Land die versprochenen Hoffnungen nicht aufgehen werden, aber er ist chancenlos, den Ort zu fliehen. Der "neunte Schuldbezirk" ist ein mit aufgebrauchten Hoffnungen gefüllter Keller, die unterste Spitze einer Pyramide, die trichterförmig ins Erdinnere getrieben wurde.
Unvorstellbares, kaum Glaubhaftes ereignet sich in diesem magisch anmutenden Raum, der einem Absurditätenkabinett gleicht. Drawert lässt es von Kaspar Hauser erkunden, der sich zum "Kasper der Revolution" entwickelt. Er ist – ebenso wie die historische Kaspar Hauser-Figur – ein Spielball der Macht, allerdings unschuldig an dem Unglück, das ihn ereilt. Mit einer auf Kafkas Erfindungsreichtum zurückgehenden Nadelmaschine wird dem 1,38 Meter großen Kaspar Hauser die Ideologie des "neunten Schuldbezirks" eingeschrieben. Diesen Verletzten ruft Dawert in dem Prozess, den er führt, als Kronzeugen auf. Er beschreibt aus seiner Perspektive, was sich in den Tiefen des neunten Bezirks an Wut staut, welche grotesken Schauspiele sich ereignen, bis das absurde Gebilde im Jahre "xx89" gesprengt wird.
Die grotesken Spielarten der DDR-Wirklichkeit werden von Drawert in Sprache übertragen, wobei er auf realistische Beschreibungs- und Deutungsversuche verzichtet. Die Geschichte mutet phantastisch an, aber sie ist gerade in ihrem phantastischen Gehalt von beklemmender Realität. Kein Realismus allerdings wäre geeignet, die so unwirklich anmutenden Ereignisse zu beschreiben. Das als Wahrheit ausgegebene Falsche entlarvt Drawert in der ästhetischen Form. Er entkleidet es, indem er die Hüllen lüftet, mit denen die herrschenden Lügen kaschiert werden.
Das Wendejahr 1989 und retrospektive Aufarbeitungen von DDR-Geschichte gehören inzwischen zum festen Themenkanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Drawert selbst hat mit seinem 1991 erschienen Roman "Spiegelland" diesem Kapitel einen besonderen, sprachkritischen Akzent verliehen. Daran schließt er mit seiner neuen Prosaarbeit an, in der die DDR als eine surreale Welt entworfen wird. Ohne im Rauschhaften zu schwelgen, wie es die Surrealisten taten und ohne ihren gesellschaftlichen Optimismus zu teilen, kehrt Drawert in seinem glänzend geschriebenen Roman das Unterste nach oben. Indem er surreale Konstellationen entwirft, gelingen ihm erhellende Einblicke.
Rezensiert von Michael Opitz
Kurt Drawert, Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte,
Verlag C.H.Beck, München 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro.
Äonen weit entfernt ist der "neunte Schuldbezirk" von jenen Höhen des Weltniveaus, die zu erreichen man in dem Land verstärkte Anstrengungen unternahm, das inzwischen in den Fußnotenbereich abgesunken ist. In dieser Grauzone harrt eine unglückliche Gestalt aus. Es handelt sich um einen Gezeichneten, der, an den Rand gedrängt, darauf hofft, Gerechtigkeit zu erfahren. Ihn plagt seine Herkunft ebenso wie sein Dasein. Er weiß, dass in diesem Land die versprochenen Hoffnungen nicht aufgehen werden, aber er ist chancenlos, den Ort zu fliehen. Der "neunte Schuldbezirk" ist ein mit aufgebrauchten Hoffnungen gefüllter Keller, die unterste Spitze einer Pyramide, die trichterförmig ins Erdinnere getrieben wurde.
Unvorstellbares, kaum Glaubhaftes ereignet sich in diesem magisch anmutenden Raum, der einem Absurditätenkabinett gleicht. Drawert lässt es von Kaspar Hauser erkunden, der sich zum "Kasper der Revolution" entwickelt. Er ist – ebenso wie die historische Kaspar Hauser-Figur – ein Spielball der Macht, allerdings unschuldig an dem Unglück, das ihn ereilt. Mit einer auf Kafkas Erfindungsreichtum zurückgehenden Nadelmaschine wird dem 1,38 Meter großen Kaspar Hauser die Ideologie des "neunten Schuldbezirks" eingeschrieben. Diesen Verletzten ruft Dawert in dem Prozess, den er führt, als Kronzeugen auf. Er beschreibt aus seiner Perspektive, was sich in den Tiefen des neunten Bezirks an Wut staut, welche grotesken Schauspiele sich ereignen, bis das absurde Gebilde im Jahre "xx89" gesprengt wird.
Die grotesken Spielarten der DDR-Wirklichkeit werden von Drawert in Sprache übertragen, wobei er auf realistische Beschreibungs- und Deutungsversuche verzichtet. Die Geschichte mutet phantastisch an, aber sie ist gerade in ihrem phantastischen Gehalt von beklemmender Realität. Kein Realismus allerdings wäre geeignet, die so unwirklich anmutenden Ereignisse zu beschreiben. Das als Wahrheit ausgegebene Falsche entlarvt Drawert in der ästhetischen Form. Er entkleidet es, indem er die Hüllen lüftet, mit denen die herrschenden Lügen kaschiert werden.
Das Wendejahr 1989 und retrospektive Aufarbeitungen von DDR-Geschichte gehören inzwischen zum festen Themenkanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Drawert selbst hat mit seinem 1991 erschienen Roman "Spiegelland" diesem Kapitel einen besonderen, sprachkritischen Akzent verliehen. Daran schließt er mit seiner neuen Prosaarbeit an, in der die DDR als eine surreale Welt entworfen wird. Ohne im Rauschhaften zu schwelgen, wie es die Surrealisten taten und ohne ihren gesellschaftlichen Optimismus zu teilen, kehrt Drawert in seinem glänzend geschriebenen Roman das Unterste nach oben. Indem er surreale Konstellationen entwirft, gelingen ihm erhellende Einblicke.
Rezensiert von Michael Opitz
Kurt Drawert, Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte,
Verlag C.H.Beck, München 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro.