Im Shitstorm

Von Florian Felix Weyh · 09.11.2010
Im Internet nennt man es einen "Shitstorm", was über jemanden hereinbrechen kann, der eine in den Augen anderer missliebige Meinung äußert. Aus Gründen der Ästhetik sei der Begriff hier nicht übersetzt; auch mit marginalen Englischkenntnissen ist er nachvollziehbar.
Ein "Shitstorm" besteht aus Protest in elektronischer Form, meist massenhaften Kurzmails eindeutigen Inhalts. Wer ihn einmal überlebt hat, weiß, dass eine mediale Kriegsführung existiert, die nichts mit Debatte, Diskurs, Meinungsaustausch und demokratischen Prozessen zu tun hat.

Jede halbwegs zweckrational denkende, politische Gruppierung benutzt seit Jahrzehnten die gesteuerte, durch E-Mail inzwischen portofrei gewordene Briefkampagne. Auf den ersten Blick drückt sie Bürgerwillen aus; bei näherem Hinsehen schrumpfen die Bürger dabei allerdings auf die Größe blökender Schafe zusammen, die sich brav hinter einem Leithammel versammeln. Für die Adressaten – Medien wie Regierungsinstitutionen – war das immer leicht durchschaubar.

Aber was, wenn sich eine kleine Minderheit zu einer scheinbar mächtigen Kraft aufplustert, indem sie das Mittel der virtuellen Massensimulation benutzt? Dann muss man genau hinsehen und adäquat reagieren. Leider tun das diejenigen, die dem Phänomen am stärksten ausgesetzt sind, nicht immer. Wir, die wir in den Medien regelmäßig scheinbare "Shitstorms" über uns ergehen lassen müssen, ziehen manchmal zu früh den Kopf ein, nur um endlich Ruhe zu haben. Dann bekommen Meinungs- und Tatsachenpartikel einen repräsentativen Wert zuerkannt, den sie kaum verdienen.

Genau darin liegt das Ziel der Protestierer. Halbwegs gewiefte Lobbyisten in eigener Sache wissen aus Erfahrung, dass die Resonanzquote in allen Medien eher bescheiden ausfällt. Nur wenige schreiben Briefe oder rufen an, weil ihnen ein Artikel, eine Sendung nicht passt – noch weniger Menschen, um etwas zu loben. In Relation dazu genügen zwei Dutzend gesteuerter Protestäußerungen, um einer Redaktion eine Volksempörung vorzugaukeln. Können die Journalisten dann nicht anhand ähnlicher Formulierungen erkennen, dass es sich um eine abgesprochene Aktion handelt, tragen sie womöglich einen verzerrten Sachverhalt in die Öffentlichkeit.

Als putzig erweist sich freilich die neueste Variante, bei der sich Protestierer auf ihren für jedermann einsehbaren Internetplattformen absprechen, wem sie wann geharnischte Worte schreiben wollen. Man erkennt daran, dass noch nicht einmal die Avantgarde der Medienguerilla weiß, wo die Grenze zwischen klandestinen Verschwörungsinseln und öffentlichem Raum verläuft. Wenn der Gegner dank Google schon vorher erfährt, dass er unter Beschuss genommen werden soll, kann er später ohne Skrupel die Löschtaste seines Emailprogramms betätigen.

Aber ist es nicht legitim, als Minderheit mit Guerillamarketing-Methoden der Mehrheit seinen Stempel aufzudrücken?

In der derzeit wieder beliebten Gegenüberstellung von Legitimität und Legalität ist dies zweifellos legal. Niemand verbietet Minderheiten, sich effizient zu organisieren. Aber es ist eben nicht legitim. Wenn Demokratie zum Wettkampf der Minderheiten um die Durchsetzung ihrer Betroffenheits-Positionen verkommt, dann existiert kein Begriff des Politischen mehr. Politik muss die Vogelperspektive bewahren. Sie hat aus der Gesamtschau Vor- und Nachteile von Entscheidungen abzuwägen und über den – stets vorhandenen! – Einzelfall hinwegzusehen. Andernfalls wird Politik unmöglich, die Gesellschaft zerfällt.

Ja, selbst wenn Protestierer an einem Ort Hunderttausende echter Menschen auf die Straße bringen, kann deren Anliegen – so richtig es lokal gesehen erscheint –, gesamtpolitisch falsch sein. Es ist Aufgabe der Politik, das Große vom Kleinen zu trennen, das öffentliche vom privaten Anliegen, das lokale vom überregionalen. Und es ist die Pflicht der Medien, nichts künstlich zu vergrößern, was tatsächlich nur einen winzigen Bruchteil der Wirklichkeit verkörpert.

Daher wird jeder "Shitstorm" zu diesem Kommentar auch resonanzlos verhallen. Was Sie jetzt hören, ist das dezente Klicken meiner Löschtaste.

Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind aufwww.weyh.info zu finden.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin© Katharina Meinel